Meinung

Der Welthungertag und die Heuchelei des Westens

Im vergangenen Jahr litten 768 Millionen Menschen weltweit Hunger, hundert Millionen mehr als im Vorjahr. Die Ernährungshilfe der Vereinten Nationen sieht die Ursache dieser Zunahme in der Klimaerwärmung und in COVID-19. Aber die Liste der am schwersten betroffenen Länder legt einen weiteren Grund nahe.
Der Welthungertag und die Heuchelei des Westens© World Food Programme

von Dagmar Henn

Am 16. Oktober ist Welternährungstag. Wie jedes Jahr werden an diesem Datum die Zahlen veröffentlicht, wie viele Menschen unter Hunger leiden und welche Länder am schwersten betroffen sind. Die alternative Bezeichnung Welthungertag ist damit die zutreffendere. Eine vom World Food Programme (WFP) der Vereinten Nationen erstellte interaktive Karte lässt nicht nur die Regionen erkennen, in denen Hunger herrscht, sondern auch, ob dazu Dürre, Naturkatastrophen oder kriegerische Auseinandersetzungen beigetragen haben.

In einer Presseerklärung nennt der WFP vor allem zwei Gründe für die zu beobachtende Zunahme des Hungers in der Welt: die Klimakrise und COVID-19. "Die Klimakrise schürt eine Ernährungskrise", sagte dazu der WFP-Exekutivdirektor David Beasley. "Konflikte stürzen heute Millionen Menschen in den Hunger, aber die Klimakrise hat das Potenzial, Konflikte als zukünftige Hauptursache für Hunger in den Schatten zu stellen", so Beasley weiter.

Unabhängig davon, dass auch der Westen an der Entstehung und Aufrechterhaltung solcher Konflikte oftmals nicht unschuldig ist, legt die Liste der am meisten von Hunger betroffenen Länder noch eine weitere Ursache nahe, die weder mit dem Klima noch mit anderweitigen Konflikten zu tun hat.

An der Spitze der Liste steht Afghanistan, wo nach UN-Angaben 93 Prozent der Bevölkerung von Hunger betroffen sind. Nach über 20 Jahren westlicher Besatzung hätten die Truppen das Land eigentlich als blühenden Garten Eden hinterlassen müssen. Somalia, das mit 68 Prozent hungernder Bevölkerung auf Platz zwei steht, wird gefolgt von Burkina Faso, dem Südsudan und Mali. Nach Sierra Leone folgt Syrien, an letzter Stelle der Liste steht der Jemen.

Mit Ausnahme von Burkina Faso sind die ersten fünf Länder auf der Liste allesamt Ziel westlicher Sanktionen. Gleiches gilt für Syrien und den Jemen. Nun steht natürlich weder in den Sanktionsbeschlüssen der USA noch in jenen der EU die Absicht, die Bevölkerung auszuhungern. In den meisten Fällen ergibt sich das allerdings als faktische Folgewirkung, da die Sanktionen besonders die Handelsbeziehungen dieser Länder bis zur Unmöglichkeit erschweren.

Besonders gut sichtbar wird diese Wirkung der EU-Sanktionen am Beispiel Syrien. Jede Form von Handel beruht auf einem Tausch von Geld gegen Ware. Fließt kein Geld vom Käufer zum Verkäufer, findet auch kein Handel statt. Die Sanktionen gegen Syrien untersagen westlichen Banken sowohl, in Syrien eine Niederlassung zu betreiben oder zu errichten, als auch jegliche Zusammenarbeit mit syrischen Banken. Eine Ausnahme von diesem Verbot ist zwar theoretisch möglich. Dazu bedarf es aber der Zustimmung durch die "Nationalkoalition syrischer Revolutions- und Oppositionskräfte", was sie so gut wie unmöglich macht.

Wenn also ein ganz gewöhnliches Produkt wie Seife aus Aleppo ins Ausland exportiert werden soll, ist ein normaler Rückfluss des Erlöses über Bankkonten nicht möglich. Natürlich gibt es kompliziertere Wege, diese Hürden zu umgehen. Für den Kauf von Alltagswaren nimmt jedoch kaum ein ausländischer Handelspartner diese Mühen auf sich. Gleiches gilt in die Gegenrichtung: Die Liste der Waren, deren Export nach Syrien explizit verboten ist, ist lang, aber endlich. Von den Sanktionen ausgenommen ist zudem alles, was unmittelbar humanitären Zwecken dient. Aber die Blockade des Geldstroms in allen anderen Bereichen genügt bereits, den übrigen Handel mit Konsumgütern zum Erliegen zu bringen.

Im Falle Syriens sind die Sanktionen besonders weitgehend. Mit vielen Ländern ist der syrische Geldverkehr stark eingeschränkt. Ebenso ist die Zusammenarbeit mit den staatlichen Stellen dieser Länder verboten. Im Ergebnis wird so etwa die Versorgung mit Ausrüstungsgegenständen für die Stromerzeugung unmöglich, da in aller Regel staatliche Stellen der Handelspartner für diese Güter sind. Sie sind in der Region für den Bau von Kraftwerken verantwortlich.

Es gibt also einen Unterschied zwischen der nominellen und der faktischen Wirkung von Sanktionen. Letztere sind weit umfassender als die ersteren. Sie greifen in weit mehr Bereiche des wirtschaftlichen Lebens der betroffenen Bevölkerung ein, als es der Text der Sanktionsbeschlüsse und die damit verbundenen Ziele erkennen lassen.

Wo immer staatliche Guthaben gesperrt werden, wird die wirtschaftliche Handlungsfähigkeit eines Staates auf allen Ebenen, eben auch im Bereich der Nahrungsmittelversorgung und des Gesundheitswesens, schwer beeinträchtigt. Weder der betroffene Staat noch eventuelle Handelspartner können sich darauf verlassen, dass eine beabsichtigte Zahlung ihr Ziel erreicht und sie nicht ebenfalls gesperrt wird.

Wenn die Hälfte der zwölf am schwersten von Hunger betroffenen Länder dieser Erde das Ziel westlicher Sanktionen ist, dann hätte das WFP ehrlicherweise den Westen und nicht die Klimakrise als Hauptbedrohung der Ernährungssicherheit benennen müssen. Selbst die Verschärfung der Armut in den ärmeren Ländern infolge von COVID-19 ist keine direkte Auswirkung einer dortigen Erkrankungswelle, sondern eine indirekte Folge der Lockdownpolitik in den reichen Industrieländern und dem daraus folgenden Einbruch des globalen Handels.

Schätzungen, wie viel es kosten würde, den Hunger auf der Welt zu beseitigen, reichen von sechs bis 228 Milliarden Euro jährlich. Zum Vergleich: Im kommenden Haushaltsjahr sind in der Bundesrepublik 50,3 Milliarden Euro für den Bundeswehretat vorgesehen. Dieser Betrag allein könnte also schon genügen, den Hunger weltweit zu beenden. Die Sanktionspolitik und die Förderung diverser Kriege einzustellen, würde sogar Geld einsparen. Gleichzeitig stünde zu erwarten, dass man an künftigen Welthungertagen wesentlich erfreulichere Zahlen präsentieren kann.

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