Wie die Tagesschau gegen China auf dem Niveau der BILD-Zeitung hetzt
von Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam
Vergleichen wir mal eine ARD-aktuell-Leistung mit einem typischen Bild-Zeitungs-Angebot: "Verteidigungszone Taiwans / China provoziert mit Kampfjets" titelte die Internet-Seite Tagesschau.de am 3. Oktober. "China fliegt mit 39 Kampfjets über Taiwan", behauptete das Berliner Käseblatt am selben Tag. Beide Alarmmeldungen bestanden hauptsächlich aus heißer Luft.
Auch ARD-aktuell ist Wiederholungstäter: "China schickt Kampfjets Richtung Taiwan", meldete die Redaktion fälschlich bereits am 16. Juni und befolgte am Samstag, 9. Oktober, ein da capo: "… hatte Peking mehrfach (sic!) dutzende Militärflugzeuge in den taiwanesischen Luftraum geschickt". Das kommt davon, wenn man sich ausschließlich auf transatlantisch genormte Nachrichtenagenturen wie Reuters und AP stützt, deren Quellenmaterial nicht überprüft und nicht einmal im Atlas nachguckt oder in einem Lexikon.
Dass die Herrschaften sich korrigieren, sich bei ihrem Publikum für ihre Fehlleistungen entschuldigen und dann auch andere als die US-hörigen Agenturen in ihr Redaktionssystem einspeisen, ist – wir wissen es längst – nicht zu erwarten. Es wäre geradezu revolutionär.
Bleiben wir also noch beim Zitieren aus den hier angesprochenen Falschnachrichten, wenigstens auszugsweise. Man muss sich den bösen Text schon mal auf der Netzhaut zergehen lassen und zumindest auszugsweise im Wortlaut lesen, was die Könner von ARD-aktuell und Bild sich dank Reuters- und AP-Dröhnung zurechtfantasierten. Tagesschau.de:
"Erneut haben chinesische Kampfjets für Aufregung in Taiwan gesorgt. 39 Maschinen drangen nach taiwanischen Angaben in die Luftverteidigungszone ein … nahe den Pratas-Inseln … teilte das Verteidigungsministerium in Taipeh mit. Es habe sich zumeist um Maschinen vom Typ J-17 und SU-30 gehandelt. Taiwanische Kampfflugzeuge seien in zwei Wellen aufgestiegen, um die chinesischen Flugzeuge zu vertreiben. Zudem seien Flugabwehrsysteme zur Überwachung aktiviert worden, so das Ministerium."
Was es mit den Pratas-Inseln, Taiwans "Luftverteidigungszone" und der Mitteilung des taiwanesischen Ministeriums auf sich hat, klären wir gleich. Zunächst noch die Version des Springer-Blatts von der US-amerikanischen Propagandaplatte. Bild-Zeitung:
"Die Spannungen zwischen China und Taiwan verschärfen sich zusehends. Die Volksrepublik sieht den Inselstaat als Teil ihres Staatsgebiets, den es zurückzuerobern gilt. Und das mit aller Macht! Die chinesische Luftwaffe ist am Samstag mit Kampfflugzeugen wieder in den Luftraum Taiwans eingedrungen. Das taiwanische Verteidigungsministerium teilte mit, zuerst seien 20 chinesische Kampfflugzeuge in der Nähe der Pratas-Inseln aufgetaucht. … Mit insgesamt 39 Kampfflugzeugen habe das Aufgebot an Maschinen die bisherige Höchstzahl vom Freitag noch übertroffen."
Ein erster Blick in den Atlas (der den ARD-aktuell-Redakteuren durchaus zuzumuten gewesen wäre): Die Pratas-Inseln – ihr chinesischer Name ist "Dong sha qun dao" und bedeutet "Östliche Sandinseln" – liegen im Südchinesischen Meer, südlich des chinesischen Festlands. Taiwan hingegen liegt östlich davon, im Ostchinesischen Meer. Nicht nur der Tagesschau-Titel "China schickt Kampfjets Richtung Taiwan" und erst recht die Bild-Schlagzeile "China fliegt mit 39 Kampfjets über Taiwan" sind allein deshalb purer Unsinn.
Die Pratas-Inseln sind vom chinesischen Festland gut 250 Kilometer entfernt, von Taiwan jedoch 400 Kilometer, wie man mittels "Google Maps" leicht nachmessen kann. Der Zankapfel: Beijing beansprucht die Inselgruppe für sich, aber Taiwan übt nach wie vor die Kontrolle darüber aus und unterhält eine Marinebasis mit Flugplatz auf dem winzigen, knapp zehn mal zehn Kilometer bedeckenden Atoll; es hat einen Überwasser-Anteil von nur 1,7 Quadratkilometern, der Rest ist Lagune. Von rund 200 taiwanesischen Marinesoldaten abgesehen ist das Atoll unbewohnt und für Zivilisten unzugänglich. Einen anderen als rein militärischen "Nutzen" hat es nicht. Die Unterhaltskosten des Stützpunkts stehen in keinem wirtschaftlichen Verhältnis zu seinem Gebrauchswert. Der liegt nur im politischen Prestige und in seiner strategisch interessanten Lage.
Kleiner, aber feiner Unterschied
Was hat es nun mit "Taiwans Luftverteidigungszone" auf sich, deren Verletzung sowohl im Tagesschau-Text als auch in der Bild hervorgehoben wird? Beide Medienerzeugnisse berufen sich auf Mitteilungen des Verteidigungsministeriums in Taipeh. Das darin verwendete Kürzel "ADIZ" steht für den englischen Begriff Air Defense (and) Identification Zone. Nach üblichem Verständnis ist damit ein Luftraum gemeint, in dem sich alle, auch zivile Flugzeuge im Interesse der nationalen Sicherheit des fraglichen Landes orten und identifizieren lassen (sollen), und zwar lange bevor sie in dessen tatsächliches Hoheitsgebiet einfliegen. Eine ADIZ ist also meist wesentlich größer und keineswegs identisch mit dem völkerrechtlich konkret definierten Lufthoheitsraum über einem souveränen Staat.
Das Konzept der ADIZ ist vielmehr recht willkürlich, in keinem internationalen Vertrag geregelt und wird von keinem internationalen Gremium verwaltet und angewandt. Eine über das staatliche Hoheitsgebiet hinausreichende ADIZ dient denn auch lediglich dazu, der fraglichen Regierung mehr Zeit zu geben, auf die Annäherung möglicherweise feindlicher Flugzeuge zu reagieren. Nur einige, bei weitem nicht alle Länder haben einseitig eine ADIZ deklariert und fordern jedes dort einfliegende Flugzeug auf, sich zu identifizieren. Diese Aufforderungen werden häufig und folgenlos ignoriert, weil hinter der unverbindlichen ADIZ kein einklagbares Hoheitsrecht steht. Üblicherweise überlappt eine ADIZ aber auch kein fremdes Hoheitsgebiet.
US-typisch großmäulig
Die ersten ADIZ wurden von den USA während des Koreakrieges und nach imperialistischer Manier deklariert. Auch Taiwans ADIZ ist eine US-Schöpfung aus jener Epoche. Entsprechend herrschsüchtig und anmaßend fiel sie aus. Sie ragt weit ins chinesische Festland hinein, ins unbestreitbare Hoheitsgebiet der Volksrepublik China: in die Provinzen Fujian, Zhejiang und Jiangxi sowie in einen Teil des Ostchinesischen Meeres. Nur ein Teil der ADIZ Taiwans umfasst dessen "Ausschließliche Wirtschaftszone". Selbst die steht jedoch völkerrechtlich infrage, weil Taiwan nun einmal kein international anerkannter und bei den UN als Mitglied vertretener Staat ist. Nur 19 Länder, alle von der Größenordnung Paraguay, Swasiland und drunter, unterhalten noch reguläre diplomatische Beziehungen zu Taipeh; der Vatikanstaat ist unter ihnen das einzige europäische Land. Auch die USA nutzen Taiwan lediglich als handelspolitisch sowie geostrategisch bedeutenden Posten unmittelbar vor der Ostküste Chinas.
Ungeniert zeigt das Ministerium in Taipeh mit einer Landkarte die Dreistigkeit seines ADIZ-Anspruchs auf Gebiete der Volksrepublik. Eine bezüglich der Grenzziehung identische Karte erscheint auch auf der Internetseite der neuseeländischen "Global Security". Sie weist ebenfalls die ADIZ Chinas, Südkoreas, Japans und Taiwans aus und zeigt, dass sich außer der südkoreanischen alle Zonen überschneiden, jedoch nur die taiwanische obendrein auf fremdes, nämlich das chinesische Hoheitsgebiet übergreift.
Das taiwanesische Verteidigungsministerium macht übrigens keinen Hehl daraus, dass es die Überflüge der volksrepublikanischen Kampfjets über den Südwestzipfel seiner weitgezogenen ADIZ keineswegs für dramatisch oder gar für existenziell gefährlich hält; sie werden als lästig, aber im Wortsinne alltäglich betrachtet. Am 1. Oktober, dem Nationalfeiertag der Volksrepublik China, gab es lediglich eine Extraportion dieser militärischen Übungsflüge über das Atoll.
Militärische Übungsflüge
Hätten sich unsere Qualitätsjournalisten die Mühe gemacht, erst einmal die Grundlagen der aufbauschenden Agenturmeldungen der kanadischen Thomson Reuters
"China begeht seinen Nationalfeiertag mit massiven Luftangriffen in der Nähe von Taiwan"
und der US-amerikanischen Associated Press
"Spannungen durch verstärkte chinesische Flüge in der Nähe von Taiwan"
zu untersuchen, dann wäre ihnen die irreführende Zielsetzung dieser Propagandisten aufgefallen. Ob die Tagesschau-Größen dann darauf verzichtet hätten, den vergiftenden Unfug zu senden, ist leider eine andere Frage.
Nicht einmal das Verteidigungsministerium in Taipeh verstieg sich zu der Behauptung, VR-chinesische Kampfjets hätten den Lufthoheitsraum über Taiwan verletzt oder gar die Insel selbst angegriffen. Das anzudeuten blieb den Reuters- und AP-Hetzern vorbehalten. Sie verfälschten militärische Übungsflüge der VR China über das südliche Pratas-Atoll in einen Aggressionsakt auf den östlichen Nachbarn Taiwan. Und die Tagesschau betete die AgitProp-Texte nach.
Dazu musste das begnadete journalistische Fachpersonal allerdings die Augen schließen und das Denken gänzlich einstellen, denn Logik hätte nur gestört: Wenn wirklich chinesische Kampfjets in die Hoheitszone Taiwans eindrängen, würde dessen Flugabwehr mit dem Abschuss von Boden-Luft-Raketen reagieren. Die USA würden ihre nächstgelegene Flugzeugträgerflotte in Marsch setzen, der Krieg mit China würde beginnen. Von entsprechend substanzieller Verletzung des Luftraums über Taiwan konnte hier aber keine Rede sein. Nur von "Luftaktivitäten in der südwestlichen ADIZ". Beim Pratas-Atoll also, gut 400 Kilometer von Taiwan entfernt.
Angemessen vorsichtig war denn auch die Mitteilung des taiwanesischen Verteidigungsministeriums: Die eigenen Kampflugzeuge seien aufgestiegen, Funkwarnungen geschickt und Luftabwehrraketen abschussbereit gemacht worden, "um die Aktivitäten zu überwachen" (engl. Originaltext: "… to monitor the activity"). Dass die chinesischen Jagdbomber zum Abdrehen gezwungen worden seien, wie von der Tagesschau angedeutet, wurde nicht behauptet. Es gab auch sonst keine Berichte über "gefährliche Annäherungen" oder gar von Warnschüssen. Solche irrigen Vorstellungen legten nur Reuters, AP und die Tagesschau nahe.
Blind für das Widersprüchliche
Bei halbwegs korrekter journalistischer Arbeitsweise wäre den ARD-aktuell-Redakteuren eine Besonderheit aufgefallen: Die AgitProp-Meldung
"China marks national day with mass air incursion near Taiwan" ("China begeht den Nationalfeiertag mit massenhaften Überflügen nahe Taiwans", Übers. d. Verf.).
erschien bei Thomson Reuters am 1. Oktober um 01.30 Uhr (Ortszeit), wurde acht Stunden danach von AP übernommen und noch am Abend desselben Tages von der in Hongkong erscheinenden South China Morning Post gebracht. Hier unter dem Titel
"38 Chinese warplanes enter Taiwan’s air defense zone" ("38 chinesische Kampfflugzeuge dringen in Taiwans Luftverteidigungszone ein", Übers. d. Verf.).
Zum Nachschmecken: Die South China Morning Post ist eine in Hongkong gedruckte und dort verbreitete Tageszeitung. Dass auch sie offensichtlich soviel Pressefreiheit genießt, einen reichlich Beijing-feindlichen AgitProp-Artikel US-amerikanischer und kanadischer Nachrichtenagenturen zu veröffentlichen, fiel unseren Könnern in der ARD-aktuell-Redaktion nicht als bemerkenswert auf, obwohl doch die Behauptung, Beijing unterdrücke die Pressefreiheit, zum transatlantisch-deutschen Glaubensbekenntnis gehört.
Steigbügelhalter
Wir Deutsche gut, Chinesen böse. Die USA postulieren das Feindbild China, und ihr Aberglaube soll sich auch bei uns wieder festsetzen und gepflegt werden, wie zu Kaiser Willems Zeiten. Dazu leisten die Meinungsmacher der Tagesschau verdienstvolle Beiträge. Nach Art des Hauses inzwischen schon auf demselben primitiven Niveau wie Springers journalistische Krawallbrüder. Die ARD-aktuell hat den Baerbocks, Habecks, Göring-Eckardts und Bütikofers die Steigbügel zum Regierungseintritt gehalten. Jetzt übernimmt sie in vorauseilendem Gehorsam der kommenden Koalitionsregierung gegenüber die grün-aggressive, chinafeindliche Schaumschlägerei in die Regelberichterstattung der Tagesschau.
Schon die abgewählte schwarz-rote Koalition konnte sich gegenüber Deutschlands wichtigstem Handelspartner China allerhand Maulheldentum erlauben, ohne eine distanziert-kritische Berichterstattung der Tagesschau fürchten zu müssen. Auf Anordnung der Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer durchfuhr die Fregatte "Bayern" soeben erst das Südchinesische Meer, eine lachhafte maritime Aufschneiderei. Erklärtermaßen nimmt die "Bayern" allerdings nicht, wie ursprünglich beabsichtigt, an dem dortigen US-geführten Dauer-Manöver "Operation Freiheit der Seefahrt" ("Freedom of Navigation Operation, FONOP“) teil.
Von diesem Manöver einer riesigen multinationalen Flotte geht weit größere Gefahr für den Weltfrieden aus als von den paar chinesischen Demonstrationsflügen über den Pratas-Inseln. Dutzende vorwiegend US-amerikanische und britische Kriegsschiffe toben sich im FONOP-Rahmen aus, weniger der "Freiheit der Seefahrt" wegen als vielmehr zwecks Provokation der Volksrepublik China. Übrigens: Außenminister Maas hatte – man fasst es nicht – in Beijing anfragen lassen, ob unsere Fregatte "Bayern" auch zu einem Hafenbesuch in Shanghai eingeladen werde. (nach Vorbeimarschfahrt an Taiwan. Hasch mich, ich bin der Frühling). Uns' Heiko. Der größte Außenminister aller Zeiten. Bald ist auch er Geschichte.
Noch dümmer und schlimmer geht's aber immer – bei ARD-aktuell, Bild-Zeitung & Co.
Das Autoren-Team:
Friedhelm Klinkhammer, Jahrgang 1944, Jurist. 1975 bis 2008 Mitarbeiter des NDR, zeitweise Vorsitzender des NDR-Gesamtpersonalrats und des ver.di-Betriebsverbandes sowie Referent einer Funkhausdirektorin.
Volker Bräutigam, Jahrgang 1941, Redakteur. 1975 bis 1996 Mitarbeiter des NDR, zunächst in der Tagesschau, von 1992 an in der Kulturredaktion für N3. Danach Lehrauftrag an der Fu-Jen-Universität in Taipeh.
Anmerkung der Autoren:
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