Querdenker als Terroristen? Erinnerungen an den Deutschen Herbst
von Dagmar Henn
Es war einer der prägenden Momente meiner Jugend. Herbst 1977, ich war dreizehn, früh politisiert; es ist Schule. Ein trüber Herbsttag. Das Schulgebäude liegt wie ein Hufeisen um den Oberstufenhof, zu dem die Fenster des Klassenzimmers zeigen. Plötzlich ist aus der gegenüberliegenden Seite Jubel zu hören, erst ein Mal, dann wieder.
Seit einigen Wochen war Hanns-Martin Schleyer entführt. Eine Tatsche, die ich mit kühler Distanz betrachtete. Von individuellem Terror hielt ich nichts, aber ich kannte ebenfalls die Biografie Schleyers, des Vorsitzenden beider Arbeitgeberverbände. Das schrieb das Braunbuch über ihn: "Gerichtsreferendar; unmittelbar nach der Annexion Österreichs vom Reichsstudentenführer mit der Leitung des Studentenwerks in Innsbruck beauftragt; von 1941-1944 im Zentralverband der Industriellen in Prag tätig; SS."
Was ich allerdings nicht aus der Distanz betrachtete, war das Bündel an Gesetzesverschärfungen, die auf die Entführung folgten. Die Einführung einer Isolationshaft von bis zu vier Wochen beispielsweise. Paragrafen, die zur Pressezensur dienten. Überall war schwerbewaffnete Polizei. Damals gab es noch bundesweit bekannte Anwälte, die gegen die rechtlichen Eingriffe Stellung bezogen; aber auf den kleinen Demonstrationen gegen diesen Angriff auf die bürgerlichen Rechte wurde man weidlich angefeindet, als "Terroristenfreund".
Das war unangenehm bis bedrohlich; aber dieser eine Herbsttag schlug das noch. Einige Zeit später wurde nämlich klar, was den Jubel ausgelöst hatte. Das Rundschreiben kam auch in mein Klassenzimmer. Verlesen wurde die Nachricht von den Selbstmorden in Stammheim. Und auch meine Klasse jubelte.
Ich saß dazwischen wie nicht von dieser Welt, entsetzt, erschüttert über diese Freude. Darüber, wie vollkommen sie eine Erzählung glaubten, die so simpel nicht war. Wie groß die Bereitschaft war, Humanität über Bord zu werfen und die Gefangenen von Stammheim ihrer Menschlichkeit zu berauben, ihren Tod nicht nur für legitim, sondern für wünschenswert zu halten, wegen der von anderen durchgeführten Entführung eines Mannes, der selbst ein Verbrecher war. Ungestraft, ja gefördert in dieser Bundesrepublik, aber ein Verbrecher, dennoch.
Die letzten Tage lassen diesen Moment unangenehm präsent werden.
Nehmen wir die Aussage des innenpolitischen Sprechers der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Mathias Middelberg in der Tagesschau:
"'Dem Kern der sogenannten Querdenker geht es längst nicht mehr um die Corona-Maßnahmen, sondern um die Bekämpfung unseres demokratischen Rechtsstaats. Damit wird eine rote Linie deutlich überschritten."' Wer weiter gegen Corona-Maßnahmen protestieren möchte, solle sich klar von der 'Querdenker'-Szene distanzieren, forderte Middelberg."
Distanzieren? Ich habe Erfahrung damit, von damals; eine nutzlose Übung. Für die, die Distanzierung fordern, steht schon längst fest, dass es keine Distanz gibt. Die RAF hatte zu den allermeisten der Dutzende linker Organisationen und Parteien in den Siebzigern keinen Kontakt, aber dennoch wurden die Wohnungen so gut wie aller Erwachsenen, die ich damals politisch kannte, in diesem Herbst durchsucht. Es war einfach eine günstige Gelegenheit.
Wochenlang bestanden die Nachrichten aus einer einfachen Botschaft – Schleyer ist gut, die Terroristen sind böse, und der Staat müsse jetzt "durchgreifen". Man musste nur ein Wort dagegen sagen, gleich, ob gegen die Glorifizierung Schleyers oder gegen die Einschränkungen von Bürgerrechten, schon war man fast so schlimm wie die Entführer.
Middelbergs Forderung nach "Distanzierung" hat etwas von der frühneuzeitlichen Hexenprobe, bei der eine Frau gefesselt ins Wasser geworfen wurde – schaffte sie es, oben zu bleiben, war sie eine Hexe und wurde verbrannt; ging sie unter und ertrank, war sie zwar tot, aber zumindest keine Hexe. Nachdem jeder, der gegen Corona-Maßnahmen demonstrierte, in den letzten Monaten zum Querdenker erklärt wurde, gälte ja das Demonstrieren gegen Corona-Maßnahmen als Beleg der Zugehörigkeit zur "Querdenker-Szene", was natürlich jede Form der Distanzierung unmöglich macht. Dazu kommt noch das kleine Problem des Versammlungsrechts, das schon damals bei den "Querfront"-Vorwürfen gegen die Friedensbewegung 2014 zielgerichtet verschwiegen wurde: von einer öffentlichen Versammlung (wozu auch Demonstrationen zählen) darf niemand ausgeschlossen werden. Außer, man hat in wirklich jeder Form des Aufrufs genau definiert, wen man nicht teilnehmen lassen will. Was Middelberg tatsächlich sagt, lautet also: "Jetzt wird nicht mehr gegen Corona-Maßnahmen demonstriert."
Zwei psychologische Experimente kommen mir da in den Sinn. Das erste ist ein Workshop, der als Training gegen Rassismus durchgeführt wird und nennt sich "Blue Eyed". Das funktioniert sehr schlicht: Die Gruppe der Teilnehmenden wird über den Zweck der Übung im Dunkeln gehalten und hört einen Vortrag, der Menschen je nach Augenfarbe unterschiedliche Eigenschaften zuschreibt. Dann wird die Gruppe nach diesem Kriterium geteilt. Die Leiter des Workshops behandeln die Teilnehmer gemäß diesen Kriterien, sie verteilen also Privilegien oder entziehen Rechte. Relativ schnell übernehmen die Teilnehmer diese Sicht; bis sie dann darüber aufgeklärt werden, dass alles fiktiv war und es darum ging, die Wirkung von Rassismus nachvollziehbar zu machen.
Im Grunde ist es gleich, nach welchem Kriterium geteilt wird. Anstelle der Augenfarbe könnte es auch die Größe der Hände sein, die Form der Ohren oder die Farbe der Kleidung. Der entscheidende Punkt ist, dass es anhand jeder beliebigen Unterscheidung zwischen Gruppen von Menschen möglich ist, ein Verhalten auszulösen, dass dem des Rassismus entspricht.
Das zweite psychologische Experiment ist das Stanford-Prison-Experiment. Dabei wurde eine Gruppe von Studenten zweigeteilt, die sich weder in der sozialen noch der ethnischen Herkunft unterschied; ein Teil spielte die Gefangenen, der andere deren Wärter. Die Gefangenen erhielten einheitliche Kleidung und Nummern an Stelle von Namen. Die Wärter erhielten das Recht, die Gefangenen zu drangsalieren, wenn sie gegen die Regeln verstießen. Obwohl beide Seiten wussten, dass es ein Experiment war, eskalierte die Lage binnen drei Tagen. Am ersten Tag quälten die Wärter die Gefangenen ein wenig. Am zweiten Tag rebellierten die Gefangenen dagegen und wurden niedergeschlagen. Am dritten Tag wurde alles zum Privileg, das verdient werden musste. Nach sechs Tagen wurde das Experiment abgebrochen, weil die Wärter die Gefangenen sadistisch behandelten und vier Gefangene bereits psychisch zusammengebrochen waren.
"Dem Kern der sogenannten Querdenker geht es längst nicht mehr um die Corona-Maßnahmen, sondern um die Bekämpfung unseres demokratischen Rechtsstaats." Das ist eine inhaltlich befremdliche Aussage; mein Eindruck war immer, die Querdenker wollten den Rechtsstaat gegen die Corona-Maßnahmen verteidigen. Der Satz ist übrigens auch rhetorisch manipulativ – er arbeitet mit der Vereinnahmung des Hörers (durch das "unser"), und er fingiert eine Eskalation ("längst nicht mehr – sondern"). In Summe erklärt er die "Querdenker" zu den bösen Anderen; was leicht ist, denn sie sind ja vermutlich auch ungeimpft, und damit antisoziale Schufte…
Diese Teilung, zwischen Geimpften und Ungeimpften, ist willkürlich, wie jene in den beiden Experimenten. Sie ist gekoppelt mit Regeln und Verstößen gegen diese Regeln; sie ist gekoppelt mit der Zuschreibung einer ganzen Liste an Eigenschaften, die jüngst – im Gefolge des Mordes in Idar-Oberstein – im Vorwurf des Terrorismus gipfelte. Die Teilung wie die Zuschreibung werden von der Obrigkeit mit allen verfügbaren Mitteln betrieben. Das begann mit der seltsamen Demonstration vor dem Reichstag im Sommer letzten Jahres.
Soweit es Studien gibt, welche Menschen gegen die Corona-Maßnahmen protestieren, liefern sie ein völlig anderes Bild; da sind die Demonstranten weniger durchgeknallte reichsbürgerliche Aluhutträger von der Flacherde, sondern schlicht in großen Teilen ältere – inzwischen aber weitgehend ehemalige – Grünen-Wähler. Ihre schärfsten Denunzianten sind die jüngere Generation, die heutigen Grünen-Wähler, wie Volksverpetzer und Correctiv.
Aber es lässt sich nicht argumentieren gegen die Bruchlinie einer solchen künstlichen Teilung; desto weniger, wenn die Rollen zwischen Gefangenen und Wärtern ebenfalls verteilt wurden.
Der Mord in Idar-Oberstein, der jetzt genutzt wird, um geradezu zur Treibjagd gegen Corona-Kritiker aufzurufen, ist die irrsinnige Folge eines Irrsinns, die weiteren Irrsinn gebiert. Morde und Mordanschläge durch psychisch gestörte Menschen gab es immer wieder. Auf Oskar Lafontaine beispielsweise, als dieser Kanzlerkandidat gegen Kohl war. Dieser Anschlag kostete ihn vermutlich den Wahlsieg und Deutschland etwas, das zumindest irgendwie als Wiedervereinigung hätte durchgehen können. Die Täterin war eine Frau, die Jesus gesehen haben wollte.
Auch Wahnvorstellungen unterliegen gesellschaftlichen Moden. Incubi und Succubi sind nicht mehr gefragt. Auch Aliens sind etwas zurückgefallen. Gedankenkontrolle aber, das dürfte immer noch gehen.
Den Gedanken sucht man allerdings in der Berichterstattung über das Ereignis ebenso vergebens wie den Hinweis, dass die Corona-Maßnahmen tatsächlich unzählige Menschen in eine psychische Ausnahmesituation gebracht haben. Das ist belegt; die Studien mehrerer deutscher Krankenkassen dokumentieren es ebenso wie Aussagen aus psychiatrischen Kliniken. Persönliche und familiäre Krisen, die vorher schon angelegt waren, verschärfen sich. Der emotionale Stress der Lockdowns hinterlässt Spuren. Auch die Veränderungen im Alltagsleben, in dem das Lächeln im Vorübergehen ebenso zurückgefahren wurde wie der Händedruck, machen sich destabilisierend bemerkbar. Wie reagiert jemand mit einem psychotischen Schub auf die allgegenwärtigen Masken? Er vermutet anderes hinter ihnen als ein menschliches Gesicht…
In vielen, in weit mehr Fällen richtet sich die Gewalt, die durch die Corona-Maßnahmen ausgelöst wird, nach innen. Zeigt sich in Gestalt von Suiziden. Das sind Menschenleben, die auf das Konto der Maßnahmen gehen. Eine Gewalt, die nicht bekämpft wird, über die die Leitmedien nach wie vor schweigen.
Jetzt also ein Fall, in dem sie sich nach außen richtete. Wäre das ohne die Maßnahmen passiert? Wieder wird so getan, als sei alles Mögliche schuld an diesem Mord, nur nicht die "Maßnahmen" und ihre Verfechter. Es gibt ja auch keine Beweise, dass die Tat durch die Maßnahmen ausgelöst wurde, vielleicht hätte er zum gleichen Zeitpunkt jemand anderen getötet, aus anderen Gründen, hätte es sie nicht gegeben.
Aber der Druck, den all diese Dinge rund um die Lockdowns auslösten, ist enorm und geht bis zum Jobverlust, zur sozialen Ausgrenzung. Und ist sicher hoch genug, um aus möglichen Zusammenbrüchen wirkliche zu machen. Suizide sind leichter zu verschweigen. Und es scheint so, als wäre die Gewalt auf eine Person begrenzt, sie hätte sich quasi selbst ausgelöscht, die Gesellschaft hätte nichts damit zu tun. Wenn sich die gleiche Gewalt nach außen richtet, ist es nicht ganz so einfach, die Beteiligung der Gesellschaft auszublenden. In der medialen Behandlung des Mordes von Idar-Oberstein wird sie nicht ausgeblendet, sie wird verschoben.
Ich saß ganz hinten im Klassenzimmer. Das war ein Platz, den ich mochte, da konnte man gut unter der Bank lesen. Und man hatte niemanden im Rücken sitzen. In diesem Moment, im Augenblick dieses Jubels nützte das aber alles nichts. Es war ein plötzlicher Sturz. Von der einen Sekunde zur anderen wurden aus meinen Klassenkameraden gefährliche, unberechenbare Wesen. Wenn sie die Toten von Stammheim so sehr erfreuen, hätten sie auch selbst Hand angelegt? Wie sicher bin ich in ihrer Mitte, wenn sie mich in einen Topf werfen mit jenen?
Es dauerte über zehn Jahre, bis die schlimmsten Gesetze wieder aufgehoben wurden. Und obwohl es damals weit größere Teile der Medienlandschaft gab als heute, die der Terrorhysterie zumindest teilweise kritisch gegenüberstanden und die Einschränkungen der Bürgerrechte nicht mittrugen, dauerte es ebenso lange, bis die Erzählungen über die Ereignisse dieser Jahre nüchterner wurden. Bis auch der enge Zusammenhang zwischen den bruchlosen Karrieren der Nazi-Eliten in der BRD nach 1945 und der Entstehung der RAF nicht nur in linken Kreisen geflüstert wurde.
Wenn jetzt täglich von den "sich radikalisierenden Querdenkern" die Rede ist, von den "unsolidarischen, antisozialen Impfgegnern", den "Corona-Leugnern", und gleichzeitig die staatliche Verfolgung immer weiter aufgedreht wird (was die Streichung der Lohnfortzahlung auch ist, neben einem Angriff auf die Rechte der Beschäftigten), und wenn erkennbar ist, wie viele dieser Erzählung folgen, nicht nur kritiklos, geradezu begeistert, dann ist das eine Wiederholung jener schrecklichen Sekunden in Zeitlupe. Man kann wissen, wohin das führt. Das zeigen die beiden Experimente, und das zeigt auch die deutsche Geschichte. Ob das gewollt geschieht oder aus Ahnungslosigkeit, ändert nichts am Ergebnis.
Wenn nun die konstruierte Szene der "Querdenker" kriminalisiert werden soll, ist das so sinnvoll, wie es damals nach dem Angriff auf Lafontaine gewesen wäre, die christlichen Kirchen zu schließen, weil die Täterin Jesus gesehen hatte. Wenn aus dem Mord von Idar-Oberstein eine sinnvolle Konsequenz zu ziehen wäre, dann wäre das, innezuhalten und die ganzen Vorwürfe und Emotionen aus der Debatte zu nehmen. Aber weder die Medien noch die Politik scheinen daran interessiert, dies zu tun.
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