Personalmangel in der Pflege wird zum Dauerproblem
Ein Kommentar von Bernd Müller
Der Pflegestreik in Berlin hat einmal mehr gezeigt: In der Pflege liegt einiges im Argen. Doch das hindert die Bundesregierung nicht daran, sich mit lobenden Worten selbst auf die Schulter zu klopfen. Erst kürzlich hat sie eine positive Bilanz ihrer Bemühungen gegen den Pflegenotstand gezogen.
Mehr Auszubildende, eine bundeseinheitliche Personalbemessung und ein Tariflohn – das klingt gut, aber auf kurze Sicht dürfte sich kaum etwas an den Zuständen ändern. Und die sind mitunter katastrophal, wie neulich auf einer Pressekonferenz des Berliner Bündnisses "Gesundheit statt Profite" deutlich gemacht wurde. Dort kamen Patienten aus Berliner Kliniken zu Wort, die von einem eklatantem Personalmangel berichteten. Patienten müssten stundenlang auf einer Bettpfanne sitzen, weil nicht ausreichend Pflegekräfte auf Station seien. Bei der Anmeldung müsste man aus dem gleichen Grund lange warten – trotz erheblicher Schmerzen.
Gegenüber dem Fernsehsender RTL sprach kürzlich eine Auszubildende von einem Praxiseinsatz, bei dem sie mit nur einer Kollegin für 40 Patienten verantwortlich war. "Das ist keine Pflege, die in irgendeiner Art und Weise würdevoll oder adäquat ist", sagte sie. Neben dem Personalmangel kritisierte sie, Arbeiten ausführen zu müssen, für die sie gar nicht ausgebildet sei – unter Gefahr, bei Fehlern sogar rechtlich belangt werden zu können. Sie glaube selbst nicht mehr daran, unter diesen Bedingungen eine Zukunft im eigenen Beruf zu haben.
Personalmangel ist ein bekanntes Problem. Der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) forderte am Donnerstag mehr Pfleger in den Kliniken. "Von der Herzchirurgie über die Geriatrie bis zur Inneren Medizin sind für zwölf 'pflegesensitive Bereiche' verpflichtende Mindestvorgaben, die Pflegepersonaluntergrenzen, festgelegt, um Patientengefährdung zu vermeiden", heißt es in einer Erklärung. In den knapp 1.300 Kliniken, für die diese Untergrenzen gelten, könnte im Schnitt jede achte Schicht nicht entsprechend besetzt werden. "Nicht mal das Mindestmaß an Pflegepersonal ist dort vorhanden." Auf den Stationen, die Schlaganfälle behandeln, sei dies sogar bei jeder fünften Schicht der Fall. Und das sei sowohl für die Patienten als auch für die Pfleger eine gesundheitsgefährdende Zumutung.
Die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di übte heftige Kritik an den beschlossenen Personaluntergrenzen. Diese seien für die Pflege in den Kliniken "völlig unzureichend", sagte Vorstandsmitglied Sylvia Bühler. Die Beschäftigten seien nicht bereit, sich länger vertrösten zu lassen. Die kommende Bundesregierung müsse das Problem "konsequent angehen und verbindliche und wirksame Maßnahmen auf den Weg bringen, um die Beschäftigten zu entlasten und dauerhaft mehr Personal in die Einrichtungen zu bekommen", so Bühler.
Im aktuellen "Versorgungsbarometer 2021" hat Ver.di festgehalten, wie sich die Arbeitsbedingungen in der Pflege für die Beschäftigten darstellen. Knapp 6.300 Beschäftigte aus Krankenhäusern aller Bundesländer wurden dafür befragt. Sie beklagten dabei, sich nicht richtig um die Patienten kümmern zu können. Fast jeder Fünfte musste zum Beispiel andere dringliche Aufgaben übernehmen, sodass es ihm nicht möglich war, alle seine Patienten in einer Schicht zu sehen. Nach Operationen konnten 21 Prozent der Pfleger die Patienten nicht im notwendigen Maße betreuen. Eine Mehrheit sieht die Ursachen dafür einerseits im Personalmangel, andererseits in der Ökonomisierung des Gesundheitswesens. 83 Prozent der Befragten finden die Situation so schlimm, dass sie sich nicht vorstellen können, unter diesen Bedingungen bis zur Rente zu arbeiten.
Pflege ist ein Knochenjob, wie eine Befragung der AOK aus dem Jahre 2016 belegt. Sowohl körperlich als auch psychisch seien die Pflegekräfte stärker belastet als der Durchschnitt der Beschäftigten. Bei Ver.di hieß es dazu: "Die Folge: Beschäftigte in der Alten- und Krankenpflege leiden häufiger unter Beschwerden wie Verspannungen, Rückenschmerzen, Erschöpfung, Kopfschmerzen und Schlafstörungen". Die Überlastung sei auch an den Krankenständen zu beobachten, die in der Altenpflege, der Behindertenhilfe und in Krankenhäusern höher seien als in anderen Branchen.
Kurzfristig lässt sich das Personalproblem wohl nicht lösen, deshalb hofft die Bundesregierung, mehr junge Menschen entscheiden sich für eine Ausbildung in der Pflege. Als sie kürzlich den zweiten Umsetzungsbericht der "Konzertierten Aktion Pflege" (KAP) vorstellte, sagte Bundesfamilienministerin Christine Lambrecht (SPD), im ersten Jahr der neuen, generalistischen Pflegeausbildung hätten sich viele Menschen für die Arbeit in der Pflege entschieden. Laut Bundesregierung sollen im Jahr 2020 mehr als 57.000 Menschen mit der Ausbildung begonnen haben, was einem Anstieg von 13,5 Prozent entspricht. Das sei „ein gutes Zeichen für die Attraktivität der Ausbildung“, so Lambrecht.
Diese Zahlen sagen aber noch wenig darüber aus, wie viele ihre Ausbildung auch zu Ende bringen. Vor hohen Abbrecherquoten hatte Ver.di schon im letzten Jahr gewarnt – und wurde kaum gehört. Den Grund sah sie in der Reform der Pflegeausbildung und warnte vor einem verschärften Prüfungsdruck, dem die Auszubildenden ausgesetzt sind. Das zeige sich unter anderem in der neu vorgeschriebenen Vergabe von Noten. Zuvor war es nicht üblich gewesen, dass Vornoten vergeben und Jahreszeugnisse ausgegeben werden.
Ver.di befürchtete, dass mit der generalistischen Ausbildung noch mehr Auszubildende vorzeitig aussteigen könnten als bislang. Die Abbrecherquote war bundesweit ohnehin einer der höchsten: Sowohl in der Alten- als auch in der Kinderkrankenpflege beendeten 24 Prozent die Ausbildung ohne Abschluss, in der Krankenpflege 29 Prozent.
Vor diesem Hintergrund bleibt es ein Rätsel, wie die Bundesregierung den Pflegenotstand beenden will. Es bleibt auch deshalb ein Rätsel, da mit der generalisierten Ausbildung die Bereiche Alten-, Kinderkranken- und Krankenpflege um Auszubildende konkurrieren. Deutlich mehr Menschen müssten in den Beruf gelockt werden, da nicht nur in den Krankenhäusern eine Personallücke besteht. In der Altenpflege kommen auf 100 offene Stellen nur 22 Bewerber, heißt es in einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) aus dem Jahre 2018. Bis zum Jahr 2035 werde die Personallücke noch größer, dann wird es allein in diesem Bereich knapp 500.000 unbesetzte Stellen geben. Der Pflegenotstand scheint damit auch in Zukunft ein Dauerproblem zu bleiben.
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