Ein Kommentar von Kit Klarenberg
Insgesamt zeichnen die jüngst freigegebenen und vom National Security Archive veröffentlichten Akten in oft schockierenden Details nach, was genau wie, wann und wo beim Einsatz der USA in Afghanistan schief gelaufen ist. Mehr noch, aus ihnen wird vor allem auch deutlich, in welchem Ausmaß dies konsequent und absichtlich vor der Öffentlichkeit verborgen gehalten wurde.
Intern Besorgnis – für die Öffentlichkeit ein jingoistischer Wildwest-Optimismus
Man nehme zum Beispiel ein von Donald Rumsfeld verfasstes Memorandum vom März 2002. Hierin fordert der damalige Verteidigungsminister, ein dringendes Treffen mit Beamten des Pentagon anzuberaumen, da er "besorgt" sei, dass der US-Einsatz in Afghanistan "abdrifte". Dabei, wie das Archiv dokumentiert, gab Rumsfeld jedoch noch am selben Tag ein langes Interview an den US-Fernsehsender MSNBC, in dem er nachdrücklich beteuerte, dass der Krieg längst gewonnen sei und jeden Gedanken zurückwies, dass Washington mit den verbleibenden Aufständischen der radikalislamischen Taliban verhandeln sollte:
"Sie bombardieren und versuchen, sie zu töten – das ist das Einzige, was man tun kann. Genau das haben wir auch getan, und es hat funktioniert. Sie sind weg. Und das afghanische Volk ist viel besser dran."
Pentagon-Gelder für einen Krieg … gegen den "Krieg gegen Terror"
Dies mutet wie perverse Ironie an, denn ein weiteres Rundschreiben, das nur drei Monate später zirkulierte, könnte das Todesurteil für die Afghanistan-Mission des US-Militärs geläutet haben. Darin fragt Rumsfeld einen seiner engsten Mitarbeiter über die Möglichkeit, Pakistan einen "Batzen Geld" zu geben, damit das Land "wirklich den Krieg gegen den Terror führt". So kam es auch, dass Washington im Laufe des nächsten Jahrzehnts Milliarden US-Dollar nach Islamabad pumpte, um dessen Beitrag im Kampf gegen Al-Qaida und die Taliban zu finanzieren. Ein großer Teil dieser Mittel wurde allerdings zweckentfremdet und ein bislang unbestimmter Betrag könnte möglicherweise tatsächlich in die Finanzierung genau jener Gruppierungen geflossen sein, die von dem Geld eigentlich hätten bekämpft werden sollen.
Terroristen und pakistanischen Eliten: Die Geschichte einer wunderbaren Freundschaft
Auf die Rolle Pakistans bei der Unterstützung afghanischer Aufständischer wird in einer langen E-Mail hingewiesen. Dieses Schreiben verfasste im August desselben Jahres ein Mitglied der US-Sondereinheit Green Berets, die in Afghanistan in einem Sonderkommando "hochwertige" Ziele jagte. Diese E-Mail zirkulierte auf den höchsten Ebenen des Pentagon. Der Verfasser behauptete darin, dass sich die Al-Qaida "im Südosten neu gruppiert – unter der Duldung einiger unzufriedener jüngerer Warlords sowie der doppelspielenden Pakistaner".
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"Der Schießwettbewerb ist durchaus noch in vollem Gange.
In den Grenzprovinzen kann kein Steinchen fallen, ohne dass daraufhin die bösen Jungs gleich ausschwärmen wie die Ameisen, Schlangen und Skorpione."
Ein ziemlicher Sumpf also. Dabei war die Besatzung Afghanistans zu diesem Zeitpunkt schon längst aus dem Blickfeld des Oval Office verschwunden, zumal das offizielle Washington seine Vorbereitungen für die Invasion Iraks intensivierte. In einem Memorandum vom Oktober wurde festgehalten, wie Verteidigungsminister Rumsfeld den damaligen US-Präsidenten George W. Bush fragte, ob dieser ein Treffen mit General Dan K. McNeill, damals Befehlshaber der Koalitionstruppen in Afghanistan, wünsche. Dies unterstreicht, wie sehr das Weiße Haus die Mission in Afghanistan auf seiner Prioritätenliste herabgestuft hatte: Der US-Präsident fragte verblüfft nach, wer McNeill überhaupt sei.
Vom "Erfolg" des Irak-Einsatzes beflügelt: Übermut wider die informierte Bodenständigkeit
Nun ein Schnellvorlauf zum August 2009. Die Besatzung Afghanistans verlangt erneut Priorität – und zwar derart dringlich, dass das Pentagon sich für eine deutliche Aufstockung der dortigen US-Militärpräsenz aggressiv einsetzt. An der Spitze dieses erneuten Vorstoßes stand die Ernennung des Generals Stanley McChrystal zum Leiter der Afghanistan-Mission der USA. McChrystal galt als ein Jünger des damaligen Chefs des Zentralkommandos der US-Streitkräfte David Petraeus, der felsenfest an die Wirksamkeit der zwei Jahre zuvor in Irak durchgeführten massiven Truppenverstärkung glaubte.
In einer von McChrystal verfassten 66-seitigen Lageeinschätzung wird eine Kampagne zur Aufstandsbekämpfung wie in Bagdad gefordert, mit einem "angemessenem Ressourcenaufwand", der bis zu 60.000 zusätzlichen US-Truppen und erheblichen Investitionen in die Bewaffnung und Ausbildung der afghanischen Armee umfassen sollte. Voller Selbstüberzeugung schwadroniert der brave General, dass bei Nichtgelingen, innerhalb der nächsten 12 Monate "die Initiative zu ergreifen", eine Niederlage drohe. Letztendlich wurden ihm nur 30.000 zusätzliche Soldaten für eine Dauer von 18 Monaten bewilligt. Hiervon unbeirrt teilte McChrystal dem Senat im Dezember des Jahres voller kühner Entschlossenheit mit:
"Die nächsten achtzehn Monate werden wahrscheinlich entscheidend sein und letztendlich den Erfolg ermöglichen."
"Wir werden tatsächlich gewinnen."
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Die freigegebenen Akten machen jedoch deutlich, dass einige US-Vertreter McChrystals Optimismus nicht teilten. Eher im Gegenteil. So stellte sich Karl Eikenberry, ein ehemaliger General, der zum US-Botschafter in Afghanistan ernannt worden war, strikt gegen eine Aufstockung der US-Truppenpräsenz. In einem Schreiben an die damalige US-Außenministerin Hillary Clinton traf er die Voraussage, dies würde astronomische Kosten verursachen, "den Tag hinauszögern, an dem die Afghanen übernehmen, es schwierig, wenn nicht gar unmöglich machen, unsere Leute nach einem vernünftigen Zeitplan nach Hause zu bringen" sowie die Verluste auf dem Schlachtfeld und die Zermürbungsverluste dramatisch erhöhen.
Dem fügte Eikenberry hinzu, es sei unlogisch, sich noch tiefer in eine Mission militärisch zu involvieren, "die nach Übereinstimmung der meisten nicht allein mit militärischen Mitteln gewonnen werden kann" und dass "weitere Truppen den Aufstand nicht beenden werden, solange Pakistan Aufständischen Zuflucht gewährt". Überhaupt, so lautete die Prognose des Botschafters, werde Islamabad die größte Quelle von Instabilität in Afghanistan bleiben.
Clintons Antwort auf Eikenberrys Schreiben ist in den veröffentlichten Dokumenten nach wie vor geschwärzt. Jedoch deutet eine spätere, ebenfalls von Eikenberry verfasste Depesche darauf hin, dass die Befürchtungen des Botschafters in den Wind geschlagen wurden. Angesichts des jüngsten nahezu augenblicklichen Zusammenbruchs von Kabul nach dem Abzug der Koalitionstruppen wirft diese Mitteilung zudem ernste Fragen zu den zahlreichen offiziellen Dementis jener Tatsache auf, dass eine solche Eventualität vorausgesehen wurde. Denn Eikenberry schlägt in seiner Nachricht vor, andere Maßnahmen als eine Aufstockung der Truppen ins Auge zu fassen. Er stellt fest, dass die Truppen lediglich für mehr Sicherheit sorgen können, "solange sie bleiben", und dass frühere Truppenaufstockungen zu einer Verschärfung von Gewalt und Instabilität geführt hatten.
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Eikenberry behauptete zudem, dass weder die afghanische Armee noch die Regierung "den Willen oder die Fähigkeit gezeigt haben, für die Sicherheit die Hauptverantwortung zu übernehmen". Grundsätzlich gebe es "kaum Grund zur Annahme, dass weitere Truppenaufstockungen unsere strategischen Ziele weiter voranbringen werden". Stattdessen "werden sie uns noch tiefer reinziehen".
Der Warnruf einer vielstimmigen Kassandra
Natürlich stießen diese weitsichtigen Beobachtungen auf taube Ohren und die US-Militärpräsenz vervielfachte sich in den Folgejahren erheblich auf einen neuen Höchststand von rund 110.000 Soldaten im Jahr 2011.
Geradezu furchteinflößende Voraussicht durchzieht auch das Protokoll einer Befragung von Richard Boucher, dem ehemaligen Stellvertreter des US-Außenministers für Angelegenheiten Süd- und Zentralasiens. Diese Befragung wurde im Oktober 2015 vom Generalinspekteur US-Aufsichtsbehörde für den Wiederaufbau in Afghanistan vorgenommen und später nach einer Klage auf Informationsfreiheit veröffentlicht.
Boucher legte seine Einschätzung über den US-Einsatz in Afghanistan bemerkenswert unverblümt offen. Seit Beginn der Mission hätte diese sich ständig und konsequent um neuartige und unerwartete Einsatzziele ausgeweitet und letztlich habe man in Washington einfach nicht gewusst, was man tat. Die Annahme, dass Afghanistan ein den USA in jeglicher Hinsicht ähnlicher Staat werden könnte oder gar werden würde, sei "einfach falsch gewesen" und habe die USA anstatt zu zwei oder drei zu fünfzehn Jahren Krieg verdammt. Die folgende Aussage Bouchers ist kaum an Prägnanz und geradezu prophetischer Clairvoyance zu überbieten:
"Wenn wir unsere Ausstiegsstrategie darin wähnen, entweder die Taliban zu besiegen (was angesichts der örtlichen, regionalen und grenzüberschreitenden Umstände nicht möglich ist) oder aber eine afghanische Regierung aufzustellen, die in der Lage wäre, ihren Bürgern mit US-amerikanischen Werkzeugen und nach US-amerikanischen Methoden eine gute Regierungsarbeit zu bieten, dann haben wir keine Ausstiegsstrategie – denn beides ist unmöglich."
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Übersetzt aus dem Englischen.
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Kit Klarenberg ist ein investigativer Journalist, der die Rolle von Geheimdiensten bei der Beeinflussung von Politik und öffentlicher Wahrnehmung untersucht. Folgen Sie ihm auf Twitter @KitKlarenberg.