Das Hollywood-Szenario der USA in Afghanistan: Droht Europa das nächste 2015?

Afghanistan war das größte Debakel des Westens der letzten Jahrzehnte. Die Mainstream-Medien haben sich in den vergangenen Tagen jedoch ins Zeug gelegt, um das Desaster herunterzuspielen. Die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan wird für Europa womöglich Konsequenzen haben und zu einer neuen Flüchtlingsbewegung führen.

von Seyed Alireza Mousavi

Taliban-Kämpfer marschierten am Sonntag in die afghanische Hauptstadt ein. Sie erklärten sich zu Siegern des internen afghanischen Konfliktes und riefen das Islamische Emirat Afghanistan aus, das die Taliban während ihrer ersten Regierungszeit von 1996 bis 2001 gegründet hatten. 

In den letzten Tagen flohen die US-Amerikaner vor den Mudschahedin, die sie selbst in den 1980er-Jahren gezüchtet hatten. In Afghanistan hatten die USA seinerzeit die Konfrontation mit der Sowjetunion gesucht. Mit saudischer Unterstützung hatte die CIA die sogenannten Mudschahedin bewaffnet, die gegen sowjetischen Truppen in Afghanistan eingesetzt worden waren. 1989 zog sich Moskau aus Afghanistan zurück, und aus den Mudschahedin gingen dann Al-Qaida und die Taliban hervor.

Das Desaster des Westens in Afghanistan und die mediale Darstellung der Mainstream-Medien

Was sich in den letzten Tagen in Afghanistan abgespielt hat, ähnelt einem vorgefertigten Hollywood-Szenario, das dann erfolgreich aufgeführt wurde. Nach zwei Jahrzehnten Besatzung waren die letzten US-Truppen einfach wie Diebe aus dem Land geflohen, bevor die Taliban ihre groß angelegte Offensive starteten. Als die Taliban dabei waren, die Hauptstadt Kabul einzunehmen, verbrannte US-Personal in der Botschaft geheime Akten (schwarzer Rauch war über der US-Botschaft zu sehen), während Botschaftspersonal mit einem Hubschrauber vom Typ Chinook an den Flughafen Kabul verlegt wurde. Das Bild erinnerte dabei an die Aufnahmen von 1975, als die USA ihre Bürger und Personal aus Saigon ausgeflogen hatten. Chaotische Umstände am Flughafen Kabul bei der Evakuierung des US-Personals und US-Helfer waren Höhepunkte dieser hollywoodartigen Story. Menschen stürmten den Flughafen in Kabul. Drei Menschen wurden im Chaos am Flughafen erschossen. Zwei Menschen sind von einem Flugzeug gefallen, da sie sich an das Fahrwerk geklammert hatten. Die Bilder erinnerten an eine Hollywood-Filmszene, in der US-"Zivilisten" dem Land der "Vampire" wie im Film "Dawn of the Dead"zu entfliehen versuchen. 

Die Mainstream-Medien haben sich in den vergangenen Tagen mächtig ins Zeug gelegt, um das Desaster des Westens in Afghanistan kleinzureden und die öffentliche Wahrnehmung angesichts der gemischten Gefühle im Westen mit ihrer medialen Darstellung zur Durchsetzung ihrer eigenen Agenda neu zu prägen. Als geschicktes Ablenkungsmanöver fokussierten sich die westlichen Medien vor allem auf die Lage von Frauen und Mädchen in Afghanistan unter der Herrschaft der Taliban: "Besonders furchteinflößend ist die Taliban-Herrschaft auch für Frauen und Mädchen" oder "Die größten Verlierer sind die Frauen und die Zivilgesellschaft". Dabei gab den westlichen Mainstream-Medien ein Bild der erfahrenen CNN-Journalistin Clarissa Ward Anlass, Angst zu schüren und die Menschen vom Hauptthema abzulenken. Im Bild war die US-Amerikanerin am Tag der Einnahme von Kabul verhüllt im Tschador vor der Kamera zu sehen, während sie noch am späten Sonntagnachmittag nur leicht verschleiert vor die Kamera getreten war. Um die Propaganda der Mainstream-Medien zu entlarven, muss man jedoch wissen, dass eine TOLOnews-Korrespondentin zwei Tage später in landesüblicher Kleidung – wie unter der von den USA installierten ehemaligen Regierung üblich – im Studio in Kabul ein Interview mit dem Taliban-Sprecher führte.

Die Zukunft Afghanistans und ein möglicher neuer Flüchtlingsstrom

Nach der Einnahme der Hauptstadt Kabul machten die Taliban klar, dass es keine Übergangsregierung geben wird und sie die "komplette Machtübergabe" erwarten. Sie seien dabei, eine "offene islamische Regierung mit Repräsentanten verschiedener Gruppen" zu bilden. Die Taliban von 2021 sind eine ganz andere Organisation als die Taliban von 2001. Sie sind nicht nur kampferprobt, sie haben in den vergangenen Jahren auch ihre diplomatischen Fähigkeiten verbessert, wie zuletzt in Doha und bei hochrangigen Besuchen in Teheran, Moskau und Tianjin zu beobachten war. Was die Taliban mutmaßlich anstreben, ist eine Art Konföderation von Stämmen und ethnischen Gruppen unter einem Taliban-Emir. Zu erwarten ist zudem, dass die Taliban sich schrittweise von ihrer Struktur einer klaren paschtunischen Dominanz entfernen, um überhaupt regierungsfähig zu werden. Es bleibt allerdings abzuwarten, wie die Milizen sich in den nächsten Monate positionieren und welche konkreten Pläne sie haben.

Dass die afghanischen Taliban von der pakistanischen Militärführung und dortigen Geheimdiensten unterstützt werden, ist längst ein offenes Geheimnis. Heute setzt Pakistan darauf, dass die Taliban in Afghanistan an die Regierung zurückkehren, und man hofft, dass sie dabei helfen, die pakistanischen Taliban im Zaum zu halten. China, das enge Beziehungen zu Pakistan pflegt, nahm schon offizielle diplomatische Beziehungen zu den Taliban auf. Afghanistan ist aus Sicht Pekings ein wichtiger Korridor zu den Staaten Zentralasiens und könnte Teil des chinesisch-pakistanischen Wirtschaftskorridors CPEC werden.

Die größte Angst der Hauptkontrahenten der USA, nämlich China und Russland, ist im Grunde nicht der Sturz der vom Westen installierten Ghani-Regierung in Kabul, sondern der Aufstieg extremistischer Gruppen, die zum Beispiel Russland gerade in Syrien bekämpft. Dadurch besteht nämlich die Gefahr, dass viele Dschihadisten sich womöglich durch den reibungslosen Sieg der Taliban ermutigt fühlen, woraus eine Dynamik entstehen könnte und IS-Ableger auf afghanischem Boden wieder aktiviert werden könnten.

Die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan wird womöglich zu einer neuen Flüchtlingsbewegung führen. Im Zuge der Taliban-Offensive haben sich bereits Zivilisten bewaffnet, wodurch ein neuer Bürgerkrieg auszubrechen droht. Noch ist davon in der Bundesrepublik nichts zu spüren. Zum Kalkül hinter dem raschen US-Rückzug gehört auch, Afghanistan destabilisiert zu hinterlassen, um damit die Position Chinas und Russlands in der Region zu schwächen. Dass die Sicherheit Europas mit dieser Strategie aufs Spiel gesetzt werden könnte, spielt für die US-Amerikaner eine untergeordnete Rolle.

Bereits im Jahr 2020 war Afghanistan nach Syrien der Ausgangspunkt der zweitmeisten Flüchtlingsströme weltweit. Erinnerungen an die Flüchtlingskrise 2015 werden inzwischen bei den Deutschen wach. Der Flüchtlingsdeal zwischen der EU und der Türkei ist schon lange brüchig. Da viele Menschen aus Afghanistan flüchten, nimmt der Konflikt eine neue Dimension an. Die Türkei nimmt weltweit die meisten Flüchtlinge auf, doch innerhalb der Bevölkerung herrscht eine feindselige Stimmung gegenüber Geflüchteten. Erst kürzlich wurde über einen brutalen Angriff auf syrische Einrichtungen in Ankara berichtet.

Die Türkei kritisierte jüngst ein US-amerikanisches Programm zur Umsiedlung afghanischer Flüchtlinge in die Türkei. Die USA sollen die Türkei dabei ohne Rücksprache mit Ankara als Zielort vorgeschlagen haben. Der Iran fürchtet zudem einen Flüchtlingsstrom aus dem Nachbarland – ein Land, das wegen harter US-Sanktionen ohnehin einer schlechten Wirtschaftslage ausgesetzt ist. Und mehr noch als Pakistan, wohin erneut Afghanen fliehen, bekommt Teheran den erhöhten Migrationsdruck zu spüren. Laut Schätzungen leben schon etwa zwei Millionen afghanische Flüchtlinge im Iran, knapp die Hälfte davon ist offiziell registriert.

Vor diesem Hintergrund will die EU nun mit anderen Partnern dringend die humanitäre Krise im Land und in der Region bewältigen. "Es liegt in unserem eigenen Interesse, eine weitere Migrationskrise zu verhindern", hieß es in einer EU-Erklärung am Montag. Der von der Bundesregierung geprägte Begriff "Willkommenskultur" hat zwar ausgedient, aber das bietet keine Garantie, dass es keinen neuen Flüchtlingsstrom nach Mitteleuropa geben wird. Die Flüchtlings-Lobbyisten sind mittlerweile wieder aktiv geworden. Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl forderte vor Kurzem ein sofortiges Aufnahmeprogramm in Deutschland für bedrohte Afghaninnen und Afghanen. Es brauche ein Programm für jene, die in den letzten Jahren für "Frauenrechte, Demokratie und eine freie Gesellschaft" gearbeitet hätten.

Der rasche Rückzug der USA aus Afghanistan und das dadurch entfesselte Chaos wird die politische Landkarte in der Region umgestalten. Nun hängt alles davon, ob regionale Mächte wie der Iran oder Pakistan sowie globale Mächte wie Russland und China der neuen Lage Herr werden können, um die von den USA und der NATO entfesselte regionale wie internationale Krise in Afghanistan einzudämmen.

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