Abzug der US-Truppen als Symbol des Scheiterns: Afghanistan-Krieg wird zum westlichen Trauma

Die USA marschierten vor etwa 20 Jahren in Afghanistan ein, um die Taliban zu bekämpfen und den Afghanen "Demokratie" zu bringen. Nun bleibt den USA nichts anderes übrig, als die Entscheidung zum Abzug umzusetzen – und das, obwohl sie keines ihrer Ziele erreicht haben.

von Seyed Alireza Mousavi

In Afghanistan weiten sich die Kämpfe zwischen den Taliban und den Kräften der Regierung in Kabul weiter aus. Nun drohen große Städte sogar in die Hand der Taliban zu fallen. US-Präsident Joe Biden hält zugleich am Abzugsplan der US-Truppen aus dem Land fest, wobei die Durchsetzung der sogenannten demokratischen Werte ihn nicht mehr interessiert. Die letzten Soldaten des deutschen Afghanistan-Einsatzes verließen zudem das Land, bevor Taliban-Milizen die Stadt Masar-e Scharif einnehmen – eine Stadt, in der Kräfte der deutschen Bundeswehr stationiert waren. Die US-Militärführung spielte in den letzten Tagen die Entwicklungen in Afghanistan herunter, um nicht zu einer Stellungnahme über eine reibungslose Taliban-Offensive gezwungen zu werden.

Es bleibt den USA nichts anderes übrig, als die Entscheidung zum Abzug umzusetzen, obwohl sie keines ihrer Ziele erreicht haben. Die USA marschierten vor etwa 20 Jahren in Afghanistan ein, um die Taliban zu bekämpfen, den Afghanen "Demokratie und einen säkularen Staat" zu bringen und ihr Weltbild ins Land zu importieren. Die westliche Intervention zeigte sich in den letzten Jahren als gescheitert, und deswegen versuchte der ehemalige US-Präsident Donald Trump, zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban zu vermitteln, um einen "Frieden" zu erzielen. Im Grunde wollten die USA seinerzeit mit diesem Schritt aus ihrer Niederlage in Afghanistan einen Sieg machen. Doch damit ließen sie die vom Westen unterstützte Regierung in Kabul im Stich. Mit anderen Worten: Die US-Amerikaner entzogen der Regierung in Kabul praktisch die Legitimitätsbasis, die für die Etablierung der "Demokratie" und die Bekämpfung des "Islamismus" beauftragt worden war. 

Die US-Regierung ließ im Zuge des vollständigen Abzugs der US-Truppen erneut ihre Verbündeten im Stich, indem sie ihren einheimischen Hilfskräften wie Dolmetschern oder Wachleuten bislang keine konkrete Unterstützung zugesagt hat. Wegen ihrer Tätigkeit für das US-Militär drohen ihnen nun Rachemorde durch die Taliban.

Afghanistans ehemaliger Präsident Hamid Karzai sagte vor Kurzem in einem Interview mit AP, dass die USA in ihrer zwei Jahrzehnte währenden Mission in Afghanistan gescheitert seien. Der NATO-Militärfeldzug in Afghanistan sei sich nicht gegen Extremismus oder Terrorismus ausgerichtet gewesen, sondern gegen afghanische Dörfer und Häuser. Die NATO und die USA hätten Afghanen in Gefängnisse gesteckt und in deren eigenem Land Gefängnisse für sie errichtet.

Während die Taliban letzte Woche Gebiete überrannten und  Hunderttausende Afghanen unter ihre Kontrolle brachten, verließ der afghanische Präsident Aschraf Ghani sein Land in Richtung USA, um sich mit Joe Biden zu treffen. Während Ghanis politisches Überleben an einem dünnen Faden hängt, wie die US-Geheimdienste in einer neuen Lagebeurteilung bewerten, sicherte Biden bei seinem Treffen mit Ghani im Weißen Haus seine "Unterstützung" zu. Laut dem Wall Street Journal, das Einblick in das vertrauliche Papier erhielt, kamen die US-Sicherheitsbeamten in den vergangenen Tagen zum Schluss, dass die Regierung in Kabul bereits ein halbes Jahr nach dem NATO-Abzug zusammenbrechen könnte.

Der Rückzug der US-Truppen wurde zu einem westlichen Trauma, da es in Afghanistan selbst nach zwanzig Jahren Krieg keine Spuren von sogenannten westlichen Werten gibt. Im Zuge der Taliban-Offensive haben sich mittlerweile auch Zivilisten bewaffnet, wodurch ein neuer Bürgerkrieg auszubrechen droht. 

Unabhängig davon, welche Kräfte sich letztendlich in Afghanistan durchsetzen werden, würde die Zukunft Afghanistans von nun an nicht mehr von westlichen Überseemächten bestimmt werden. Regionale Akteure wie Russland, China, Iran, Pakistan, Indien und zentralasiatische Länder könnten eine größere Rolle spielen und ihren Beitrag zum Wiederaufbau des Landes liefern. Das Land ist ein entscheidendes Drehkreuz zwischen Süd-, West-, Zentral- und Ostasien und würde sich gerade deshalb in Chinas "neuer Seidenstraße", der Belt and Road Initiative (BRI), integrieren. Afghanistans Stabilität und seine Orientierung gen Osten stehen im Mittelpunkt der Interessen der Nachbarländer. Afghanistan selbst würde in naher Zukunft seine Interessen in Asien ausbalancieren, ohne von außen indoktriniert zu werden – und zwar aus einem einfachen Grund: weil der Westen das Land endlich verlassen hat. 

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