Meinung

Das Trauerspiel von Afghanistan

Schneller als von irgendjemandem vermutet gelang es den Taliban, Kabul einzuschließen und Afghanistan weitestgehend unter ihre Kontrolle zu bringen. Weltweit stellt sich die Frage: "Wie war das möglich?" Auch, weil sich die internationale Gemeinschaft zu keinem Zeitpunkt die Mühe machte, Afghanistan aus der Sicht der Afghanen zu analysieren.
Das Trauerspiel von AfghanistanQuelle: Reuters © Yannis Behrakis/File Photo

von Matthias Hofmann

Als erstes muss man anerkennen, dass es vor allem die regionalen und lokalen "Ältesten Räte" (ausschließlich Männer) waren, die das afghanische Militär bis Mitte August 2021 bereits immer wieder aufgefordert hatten, die Kampfhandlungen gegen die Taliban einzustellen und sich kampflos zurückzuziehen. Damit wurde klar, dass für viele Afghanen ein von den Taliban streng organisierter, religiöser Gottesstaat eine brauchbare Alternative zu der als zügellos und korrupt geltenden afghanischen Regierung darstellt. Alle mahnenden Worte von Experten, dass man die afghanische Regierung auch verstärkt in der Fläche des Staates Afghanistan einbeziehen müsste, verhallten bei den entsprechenden Stellen der dort in einem Militäreinsatz engagierten Staaten. Die politische Unterstützung fand hauptsächlich, fast ausschließlich nur in Kabul statt. Für die Einsätze in der Fläche waren die sogenannten Regierungsorganisationen und NGOs (Nichtregierungsorganisationen) zuständig, die dies hauptsächlich in Eigenregie realisierten. Aber für ein Land wie Afghanistan, das noch zu keinem Zeitpunkt seiner jungen Geschichte, eine Nationalisierung erlebt hatte, wäre genau das ein wesentlicher internationaler Ansatz gewesen. Die Afghanen hätten erkennen sollen oder können, dass Politik nicht ausschließlich im fernen Kabul, sondern auch direkt vor ihrer jeweiligen Haustür stattfindet.

Ein weiteres großes Versagen, wenn nicht sogar das größte, stellte die Nichtdurchsetzung eines allgemeinen flächendeckenden Bildungssystems dar. Zwar wurde dies bereits Anfang 2004 in der neuen Verfassung von Afghanistan explizit formuliert, aber alle diesbezüglichen Bemühungen wurden zumeist nur sehr halbherzig vorangetrieben, sowohl von Afghanistan selbst, als auch von den engagierten Unterstützerstaaten, andere Belange schienen immer wichtiger gewesen zu sein. Somit gibt es bis heute keinen einheitlichen Lehrplan und nicht genügend Schulen. Und die Lehrer werden, wenn es welche gibt, nur sehr gering oder gar nicht entlohnt. Auch hierbei gab es in den letzten Jahrzehnten von unterschiedlichen Stellen immer wieder mahnende Worte an die internationale Staatengemeinschaft, die aber ebenfalls kein Gehör fanden.

Doch Bildung wäre sehr wichtig für die Menschen in Afghanistan. Bildung würde auch den betroffenen Menschen ermöglichen, eigenständige Auswege aus kritischen Situationen zu finden. Menschen, die nicht lesen und schreiben können, müssen den gesprochenen Worten Glauben schenken, da sie keine sonstigen Quellen der Informationen nutzen können, um diese Worte kritisch zu hinterfragen. Was passiert, wenn man Demokratie in einem Staat einführen will, in dem es kein eingespieltes Bildungssystem gibt, sehen wir jetzt auch in Afghanistan. Wählerstimmen werden in den jeweiligen Clans gekauft, das Verständnis, was eigentlich Demokratie bedeutet, ist kaum vorhanden, und Politiker werden im Allgemeinen als korrupt wahrgenommen. Solche Wahrnehmung zugrunde gelegt, erscheint ein strukturierter Gottesstaat, so wie ihn die Taliban proklamieren, eine wirkliche Alternative darzustellen.

Zu keinem Zeitpunkt machte man sich seitens der internationalen Staatengemeinschaft einmal die Mühe, Afghanistan aus der Sicht der Afghanen selbst zu analysieren. Immer geschah dies aus der Perspektive der jeweiligen sich vor Ort engagierenden anderen Staaten. Damit waren die Ergebnisse von vornherein nicht auf Afghanistan bezogen und die daraufhin eingeleiteten Maßnahmen mussten somit immer ihr gut gemeintes Ziel verfehlen. In einem Land wie Afghanistan, das noch keine eigene nationale Identität entwickelt hat, ist es durchaus nachvollziehbar, dass sich Soldaten der afghanischen Nationalarmee (ANA) nicht wirklich zu ihrem Staat bekennen und folglich auch keine große Lust verspüren, für diesen Staat ihr Leben zu riskieren. Übrigens hätte man die Herausbildung einer nationalen Identität ebenfalls maßgeblich mittels eines allgemein gültigen verpflichtenden Bildungssystems unterstützen können.

Zum jetzigen Zeitpunkt (15.08.21) kann man nur hoffen, dass sich die Taliban an ihre Versprechen halten und die internationalen Vertreter und ihr jeweiliges Personal friedlich aus Kabul abziehen lassen. Die für den 25. August 2021 anberaumte deutsche Bilanzierung des Afghanistan-Einsatzes sowie die für den 31. August 2021 geplante Ehrenveranstaltung für die in Afghanistan eingesetzten Soldatinnen und Soldaten während der letzten 20 Jahre wurden auf unbestimmte Zeit verschoben. Vielleicht merkt nun die deutsche Politik, dass ein internationaler Militäreinsatz wesentlich mehr politisches Engagement voraussetzt als das, was deutsche Politik in den letzten Jahren und bei den unterschiedlichen Militäreinsätzen bereit war zu liefern.

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Matthias Hofmann ist Historiker und Orientalist (MA) mit Erfahrung in Afghanistan.

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