Meinung

Montenegro gefangen zwischen EU- und US-Lobby: Regierung jongliert mit einer heißen Kartoffel

Auf dem Weg in die Europäische Union sitzt der kleine Balkanstaat zwischen zwei Stühlen. Brüssel fordert für die Aufnahme den Austritt aus einem Abkommen mit den USA. Washington würde in diesem Fall Sanktionen bei der Bereitstellung von Militärhilfen verhängen. Eine Lösung ist nicht in Sicht.
Montenegro gefangen zwischen EU- und US-Lobby: Regierung jongliert mit einer heißen KartoffelQuelle: AFP © Savo Prelevic

von Marinko Učur, Banja Luka-Podgorica

Der kleine Balkanstaat Montenegro hat ein Jahr nach der Unabhängigkeitserklärung und der Abspaltung von Serbien 2007 das SOFA-Abkommen mit den USA unterzeichnet. Die Regierung hat sich damit verpflichtet, keine amerikanischen Staatsbürger an den Internationalen Strafgerichtshof auszuliefern, die von diesem Gericht möglicherweise wegen Völkermord, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit belangt werden würden.

Das Abkommen wurde vom damaligen montenegrinischen Präsidenten Filip Vujanović und der US-Außenministerin Condoleezza Rice unterzeichnet, obwohl es gegen die EU-Politik verstieß. Angesichts der europäischen Bestrebungen Montenegros hat Brüssel nicht damit aufgehört, die offiziellen Staatsvertreter in Podgorica zu mahnen, dass es notwendig ist, seine Gesetzgebung an die europäischen Werten anzugleichen. Mit anderen Worten, die europäische Administration fordert offen den Austritt aus dem SOFA-Abkommen – einem Dokument, das die militärisch-bilateralen Beziehungen der Verbündeten mit den USA festlegt.

Inzwischen ist das Abkommen seit fast 15 Jahren in Kraft, als der ehemalige Präsident Milo Đukanović und seine Demokratische Partei der Sozialisten (DPS) an der Macht waren. Seit Đukanovićs Partei die Wahlen verloren hat und am 30. August letzten Jahres in die Opposition gegangen ist, laufen Versuche, die Lage zu ändern. Aber die neue Regierung von Premierminister Zdravko Krivokapić ist sich bewusst, dass es nicht einfach sein wird, sich aus dem Abkommen mit den Amerikanern einseitig zurückzuziehen.

"Um mit der allgemeinen Position der EU über die Integrität des Römischen Statuts in Einklang zu kommen, werden im nächsten Zeitraum Aktivitäten im Sinne einer schrittweisen Erarbeitung eines für alle Seiten annehmbaren und optimalen Modells fortgesetzt", so eine Mitteilung des Amtes für Europäische Integration von Montenegro. Darin wird nicht ausdrücklich angegeben, dass das Abkommen mit den Amerikanern außer Kraft gesetzt sein wird, weil dies eine Verweigerung der Bereitstellung der Militärhilfe an Montenegro von den transatlantischen Verbündeten bedeuten würde. Gleichzeitig wurde die Notwendigkeit betont, "die Verpflichtungen gegenüber den internationalen Partnern zu respektieren". Mit anderen Worten, die "heiße Kartoffel" liegt jetzt in den Händen der neuen montenegrinischen Regierung. Diese zeigt keine Bereitschaft zum Austritt aus dem Abkommen und bietet keine für Brüssel und seine Erwartungen zufriedenstellende Lösung.

Zur Überprüfung der Stimmung der aktuellen Opposition zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Abkommens durch die herrschende Klasse versuchten wir, von mehreren Abgeordneten des montenegrinischen Parlamentes Stellungnahmen dazu einzuholen. Auf die Frage von RT DE – was das Schicksal des SOFA-Abkommens angesichts der staatlichen Interessen ist, aber auch der Forderungen von Washington und Brüssel – wichen die Abgeordneten der oppositionellen Sozialdemokratischen Partei (SDP) Raško Konjević und Draginja Stanković-Vuksanović einer direkten Antwort aus.

Dagegen zweifelt Milan Knežević, Abgeordneter der Regierungskoalition und Vorsitzender der Demokratischen Volkspartei (DNP), an der Bereitschaft der aktuellen Regierung, die Amerikaner zu verärgern:

"Es handelt sich um ein weiteres Paradoxon der montenegrinischen Außenpolitik, ein Erbe der Zeit von Milo Đukanović, das zu jener Zeit, aber auch heute, zahlreiche Kontroversen und Zweifel an den außenpolitischen Prioritäten unseres Landes entfacht hat und noch immer entfacht, aber leider auch an der Akzeptanz der aktuellen geopolitische Lage zur Rolle Montenegros auf der Weltbühne. Ich bin dem nicht gefolgt, aber ich glaube auch nicht, dass die neue Regierung von Zdravko Krivokapić zu dieser Frage Stellung bezogen hat. Aber ich gehe davon aus, dass sie sich für das gleiche Modell entscheiden wird wie die vorherigen Regierungen von Milo Đukanović, Duško Marković, Igor Lukšić."

Auch Gojko Raičević, Redakteur des Portals IN4S, war gegenüber RT DE sehr vorsichtig bei der Prognostizierung der Bereitschaft der Regierung zur einseitigen Beendigung des Abkommens:

"Die Führer der drei Koalitionen, die bei den Wahlen in Montenegro die Mehrheit gewonnen haben, Zdravko Krivokapić, Aleksa Bečić und Dritan Abazović, haben im September letzten Jahres eine Vereinbarung unterzeichnet, in der die Prioritäten und Verpflichtungen der Regierung, die diese drei einige Monate später bilden werden, festgelegt sind. Im Wortlaut der Vereinbarung verpflichten sie sich, den europäischen Weg Montenegros fortzusetzen und alle eingegangenen internationalen Verpflichtungen verantwortungsvoll umzusetzen und die Zusammenarbeit mit der NATO zu stärken und zu verbessern. Aber auch alle Reformen, die für die volle Mitgliedschaft Montenegros in der Europäischen Union erforderlich sind, schnell, umfassend und engagiert umzusetzen. Es wird interessant sein zu sehen, wie die montenegrinische Regierung den möglichen Austritt aus dem Abkommen mit den USA aus dem Jahr 2007 bewältigen wird, im Wissen, dass dieses Abkommen den Vorgaben von Brüssel und den Standards der Europäischen Union widerspricht."

Die Fachöffentlichkeit hierzulande ist erwartungsgemäß gegen jede Vereinbarung, die Staaten oder Organisationen eine Ausschließlichkeit hinsichtlich ihrer Vormachtstellung gegenüber der innerstaatlichen Justiz einräumt.

"Dieses Abkommen hätte niemals unterzeichnet werden dürfen. Ich war gegen die Unterzeichnung im Jahr 2007 und bin immer noch dagegen, nicht nur, weil es gegen unsere Verpflichtungen im Zusammenhang mit der europäischen Integration verstößt, sondern 'Artikel 98' verstößt gegen das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofes", sagte der erstere Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aus Straßburg und Professor an der Fakultät für Rechtswissenschaften in Podgorica, Nebojša Vučinić.

Wie lange es der montenegrinischen Regierung gelingen wird, "zwischen zwei Stühlen zu sitzen", ohne Brüssel oder Washington zu verärgern, ist derzeit eine große Unbekannte. Wenn sie sich an den Interessen der Bürger Montenegros und seiner europäischen Agenda orientiert, könnte das für viele schädliche Abkommen mit den Amerikanern bald "ad acta" gelegt werden.

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

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