von Paul A. Nuttall
Bundeskanzlerin Angela Merkel unterstützt die geplante EU-Erweiterung auf dem Westbalkan. Merkel, die im September nicht mehr kandidiert, erklärte: "Es liegt im Interesse der Europäischen Union, den Erweiterungsprozess hier voranzutreiben." Unterstützt wird sie dabei von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der sagte, er unterstütze "sehr klar" den Vorstoß der EU in dieser Region. Und eines wissen wir über die EU: Wenn die beiden mächtigsten Länder der Union etwas wollen, passiert es normalerweise auch.
Die Erklärungen wurden am Mittwoch in einer Videokonferenz mit den Regierungschefs Serbiens, Albaniens, Nordmazedoniens, Bosnien-Herzegowinas, Montenegros und des Kosovo sowie der Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen abgegeben. Nach der Konferenz sagte von der Leyen zu Journalisten, dass "unsere oberste Priorität darin besteht, die Erweiterungsagenda in der gesamten Region zu beschleunigen und unsere Partner im westlichen Balkan bei ihrer Arbeit zu unterstützen, die notwendigen Reformen umzusetzen, um auf ihrem europäischen Weg voranzukommen".
Die EU hat seit Langem den Wunsch, auf dem Balkan zu expandieren. Slowenien beispielsweise trat 2004 der EU bei, Kroatien 2013. 2018 hat die Europäische Kommission ihren Plan für Serbien, Montenegro, Albanien, Nordmazedonien, das Kosovo und Bosnien-Herzegowina vorgelegt, dem zufolge diese Länder dem Beispiel Kroatiens und Sloweniens bis 2025 folgen sollen. Dies ist jedoch mit Schwierigkeiten behaftet. Bulgarien hat beispielsweise den Beitritt Nordmazedoniens wegen eines Streits um Sprache und Geschichte abgelehnt, Serbien und das Kosovo wären weiterhin in einen Grenzstreit verwickelt, der sich auf die internationale Bühne ausgebreitet hat und fünf EU-Länder – Spanien, Slowakei, Rumänien, Griechenland und Zypern – erkennen das Kosovo nicht mal als Staat an.
Dennoch wurde der Expansionsdrang der EU auf den Westbalkan dadurch verstärkt, dass Slowenien die sechsmonatige EU-Ratspräsidentschaft übernommen hat. Eine der Ambitionen des slowenischen Ministerpräsidenten Janez Janša ist es, die Verhandlungen wieder in Gang zu bringen und sicherzustellen, dass die Westbalkanstaaten bis 2025 bereit sind, der EU beizutreten. Die EU wird jedoch vor großen eigenen Problemen stehen, wenn sie sich weiterhin für die Expansion in den Westbalkan einsetzt. Die Erweiterung wird nicht billig und wenn diese sechs Länder schlussendlich der Union beitreten sollten, werden sie ausschließlich Nettoempfänger von EU-Mitteln sein.
Tatsächlich räumte die politische Beratungsgruppe Balkan in Europa ein, dass "es offensichtlich geworden ist, dass schwache Volkswirtschaften in der Region ohne größere EU-Unterstützung Schwierigkeiten haben werden, eine sozioökonomische Konvergenz zu erreichen". Dies wirft eine weitere Frage auf: Wer zahlt? Da Großbritannien, der zweitgrößte Beitragszahler in den EU-Haushalt, weg ist, kann es sich der Block nicht leisten, so leichtfertig mit seinem Geld umzugehen wie in der Vergangenheit. Das Geld muss irgendwo aufgetrieben werden. Finanzielle Hürden werden die EU jedoch nicht von ihrem Vorhaben abhalten, weil Expansion in ihrer DNA steckt. Ich erinnere mich, dass José Manuel Barroso, der damalige Präsident der Europäischen Kommission, 2007 verkündet hatte, dass die EU das erste "nicht-imperiale Imperium" sei.
Nichts, was die EU seitdem getan hat, hat meine Meinung darüber geändert, dass Barroso mit seiner Behauptung richtig lag. Und jetzt erleben wir es wieder auf dem Westbalkan. Die EU scheint einfach nicht die Lektion lernen zu wollen, dass sie mit jeder Erweiterung schwächer wird. Sie entzieht dadurch dem Zentrum die Macht. Sie erzeugt auch Ressentiments in der Öffentlichkeit der derzeitigen Mitgliedsstaaten, die gezwungen sind, für die Neumitglieder in die Brieftasche zu greifen. Tatsächlich wäre der Brexit nie erfolgt, wenn die EU nicht im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts nach Osten expandiert wäre.
Die EU hat also ihren zweitgrößten Geldgeber faktisch zugunsten von Staaten geopfert, die sich aus dem Finanztopf bedienen. Ein klarer Fall eines Schusses ins eigene Knie. Aber warum macht die EU das? Nun, die Antwort ist eine zwanghafte Angst vor Russland, und wir sehen dies deutlich, wenn es um den Westbalkan geht. Nach der Videokonferenz deutete Merkel beispielsweise an, dass es im Interesse der EU sei, in die Region vorzudringen, um dem wachsenden Einfluss Russlands und Chinas entgegenzutreten, obwohl sie es vermied, beide Länder namentlich zu nennen.
Tatsächlich ist ein Großteil des Balkans hinsichtlich seiner Energieversorgung von Russland abhängig, und die meisten Staaten verwenden den russischen Impfstoff Sputnik V, um die COVID-19-Krise zu bekämpfen. China erhöhte seine finanzielle Schlagkraft auf dem Westbalkan und hat 2,4 Milliarden US-Dollar in die Region investiert sowie 6,8 Milliarden US-Dollar an Krediten für Infrastruktur bereitgestellt. Für die Chinesen könnte der Balkan das Tor zu noch mehr Einfluss in Europa sein, was die EU offenbar verhindern will.
Wir dürfen auch die Vereinigten Staaten nicht ignorieren, da erwartet wird, dass die Biden-Regierung eine proaktivere Rolle in der Region spielen will. Die USA zögen es vor, dass der Westbalkan in den Orbit der EU fällt statt in jenen von Russland oder China. Biden ist in Bezug auf Serbien besonders restriktiv, und es kursieren Gerüchte, dass die USA eine Neuziehung der Grenzen in der Region nach ethnischen Linien befürworten, obwohl dies vom Weißen Haus bestritten wird. Dennoch wäre es undenkbar, dass die Biden-Administration nicht versucht, dem Westbalkan ihren Willen aufzuzwingen, denn es steht zu viel auf dem Spiel.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die ganze Sache ein Chaos ist und die Balkanstaaten wieder einmal als Schachfiguren in einem größeren geopolitischen Spiel missbraucht werden. Die EU möchte den Beitritt beschleunigen, aber dieser ist mit großen finanziellen und kulturellen Problemen behaftet. In Ermangelung eines Abkommens mit der EU erhöhen Russland und China sowohl ihren politischen als auch ihren finanziellen Einfluss in der Region. Und in den Startlöchern stehen die USA, die entschlossen sind, dafür zu sorgen, dass der Balkan nach Westen und nicht nach Osten schaut. Wir alle dürfen nicht vergessen, dass der Balkan ein politisches und kulturelles Pulverfass ist. Die Krisen in dieser angespannten Region haben im letzten Jahrhundert zu unsäglichem Elend geführt. Wir müssen aufpassen, dass wir dieselben Fehler in diesem Fall nicht wiederholen.
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Übersetzt aus dem Englischen. Paul A. Nuttall ist Historiker, Autor und ehemaliger Politiker. Er war von 2009 bis 2019 Mitglied des Europäischen Parlaments und war ein prominenter Aktivist für den Brexit.
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