
Russland: Liberale Reformen werden nicht aus den Reihen der Liberalen kommen
von Paul Robinson
Für Außenstehende kann Russlands Innenpolitik verwirrend und schwer fassbar sein. Wer sind die Liberalen und wer sind die Konservativen? Wer will Veränderung und wer will, dass die Dinge so bleiben, wie sie sind? Die jüngsten Ereignisse zeigen, dass westliche Politiker völlig ahnungslos sind.

Der ehemalige US-Präsidentschaftskandidat und derzeitige Senator Mitt Romney machte diese Woche erneut Schlagzeilen und traf sich mit dem russischen Oppositionsaktivisten Leonid Wolkow, der vor allem für seine enge Verbindung mit dem inhaftierten Aktivisten Alexei Nawalny bekannt ist.
Das Treffen von Angesicht zu Angesicht hat die Aufmerksamkeit einer Reihe von Kommentatoren auf sich gezogen. Der prominente US-"Russland-Beobachter" Kevin Rothrock fragte auf Twitter, warum Wolkow mit US-Politikern fotografiert werden möchte, da die Bilder seine Glaubwürdigkeit in Russland wahrscheinlich nur weiter untergraben würden. Es sei, als ob "Wolkow und andere in seinem Boot die politischen Ambitionen zu Hause aufgegeben haben", schrieb er auf Twitter:
"Kampf gegen die Kleptokratie ist gut. Russlands Unterdrückung der Nawalny-Bewegung ist ungerecht. Aber Fotos wie dieses weisen für mich darauf hin, dass Wolkow und andere in seinem Boot die politischen Ambitionen zu Hause aufgegeben haben. (Ich kann es ihm nicht verübeln.)"
Anti-kleptocracy work is good. Russia’s persecution of the Navalny movement is unjust. But photos like this suggest to me that Volkov and others in his boat have given up on political ambitions back home. (I don’t blame him.) https://t.co/92OxBbklwe
— Kevin Rothrock (@KevinRothrock) June 29, 2021
Mit Politikern in Washington zu posieren ist in der Tat kaum eine clevere Art, Freunde zu finden und die Menschen in Russland zu inspirieren. Aber genauso wichtig ist die andere Seite der Gleichung: Was nützt es dem Westen, mit russischen Oppositionellen zu posieren? Romney und seinesgleichen glauben wahrscheinlich, dass sie damit die Sache des russischen Liberalismus unterstützen. Aber hier stoßen sie auf ein Problem. Die Geschichte legt nahe, dass liberale Reformen in Moskau nicht aus den Reihen der Liberalen kommen werden.
Wenn man den Liberalismus als eine Ideologie versteht, mit der die persönliche Freiheit ausgedehnt werden soll, dann ist sein Triumph kaum zu bestreiten. Überall auf der Welt genießt die Mehrheit der Menschen heute eine Reihe von rechtlich durchsetzbaren bürgerlichen, politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Freiheiten, die vor einem Jahrhundert kaum vorstellbar gewesen wären. Auch wenn der Umfang dieser Freiheiten von Land zu Land sehr unterschiedlich ist, lässt sich die Vorstellung, dass sie sich im Laufe der Zeit erheblich ausgeweitet haben, nur schwer in Frage stellen.
Paradoxerweise hat die Ausweitung der Freiheit jedoch oft sehr wenig mit dem Liberalismus selbst zu tun, geschweige denn mit Liberalen. Staaten gewähren ihren Bürgern aus einer Vielzahl von Gründen Freiheiten. Diese sind oft rein pragmatisch und haben nichts mit liberaler Ideologie zu tun. Tatsächlich sind liberale Reformer oft dezidiert nicht liberal und tun das, was sie tun, aus dezidiert nicht liberalen Gründen. Russland ist ein typisches Beispiel dafür.
Man könnte durchaus argumentieren, dass Russland heute nicht mehr so frei ist wie vor zehn Jahren. Aber verglichen mit vor 50, 100 oder 200 Jahren ist es heute ein Land von außergewöhnlicher Freiheit. Doch in all dieser Zeit waren Liberale nur für zwei sehr kurze Perioden tatsächlich in öffentlichen Ämtern tätig – für ein paar Monate im Jahr 1917 und für ein paar Jahre in den frühen 1990ern. Für die liberale Minderheit Russlands ist es daher schwer, die Ausweitung der Freiheit in ihrem Land als ihr Verdienst zu proklamieren. Tatsächlich war Freiheit in Russland größtenteils ein Geschenk von oben. Wenn Zaren oder Generalsekretäre die Fesseln lockerten, mit denen sie ihr Volk gängelten, dann taten sie dies in der Hoffnung, damit den Staat zu modernisieren und zu stärken. Dabei wurden sie von sogenannten "aufgeklärten Bürokraten" unterstützt – Staatsbeamten, die Reformen anstrebten, um die Regierung effizienter zu machen.
Aus diesen Gründen gewährte Zar Peter III. von Russland 1762 dem Adel die Freiheit von der Verpflichtung zum Staatsdienst. 100 Jahre später befreite Zar Alexander II. die Leibeigenen, schuf lokal gewählte Bürgerversammlungen und führte eine umfassende Justizreform ein.
Alexanders "Große Reformen" verdankten dem Liberalismus wenig, wenn überhaupt etwas. Sie waren größtenteils eine Reaktion auf die Niederlage Russlands im Krimkrieg, die deutlich machte, dass ein grundlegender Wandel des russischen Sozial- und Wirtschaftssystems notwendig war, um das Land zu modernisieren und auf der internationalen Bühne wettbewerbsfähig zu machen. Das Ergebnis war eine substanzielle Liberalisierung der russischen Gesellschaft, die aus grundsätzlich konservativen Gründen von Bürokraten durchgeführt wurde, deren Hauptinteresse die Stärkung des Staates war.
Zwei Beispiele für solche "aufgeklärten Bürokraten" waren die Brüder Miljutin – Dmitri und Nikolai. Ersterer führte eine umfassende Reform des russischen Militärs durch, während Letzterer eine Schlüsselrolle in der Redaktionskommission spielte, die das 1861 erlassene Edikt zur Befreiung der rund 20 Millionen russischen Leibeigenen verfasste. Nikolai machte seine Position zum Wandel deutlich und sagte: "Die Initiative, irgendwelche Reformen zum Wohl des Landes durchzuführen, liegt bei der Regierung und nur bei der Regierung."
Obwohl der Zar den russischen Adel aufforderte, Vorschläge zur Befreiung der Leibeigenen zu unterbreiten, ignorierten Miljutin und seine Kommission die meisten davon und gingen auf ihre Weise vor. Das Ergebnis entsprach überhaupt nicht dem, was sich die liberaleren Mitglieder der russischen Gesellschaft erhofft hatten, hatte aber den Vorteil, praktisch zu sein.
Ein ähnliches Muster zeigte sich in der späten Sowjetunion. Laut dem Historiker Robert English ist die Anerkennung der Menschenrechtselemente der Schlussakte von Helsinki von 1975 durch die Sowjetunion "russischen Diplomaten der mittleren Ebene" – Zapadniki (westlich Orientierten) – zu verdanken, die sich um eine Ausweitung der Entspannungsdynamik bemühten und das Abkommen als "Ermutigung" zu innenpolitischen Reformen, einer allmählichen Befreiung vom kommunistischen System und einer Humanisierung der sowjetischen Gesellschaft betrachteten. Der Druck von Dissidenten der sowjetischen Menschenrechtsbewegung hatte mit der Entscheidung nichts zu tun.
Auch in der Perestroika von Michail Gorbatschow spielten Dissidenten so gut wie keine Rolle. Vielmehr gehörte die Initiative einer kleinen Gruppe von Personen, die eine lange Karriere im kommunistischen System verfolgt hatten. Dazu gehörten wichtige Berater Gorbatschows wie Anatoli Tschernjajew, Georgi Arbatow, Georgi Schachnasarow und Abel Aganbegjan.
All dies deutet darauf hin, dass der Westen, der seine Hoffnungen auf das moderne russische Äquivalent der sowjetischen Dissidenten setzt, wahrscheinlich seine Zeit verschwendet. Anstatt sich mit politischen Totgeburten wie Wolkow zu beschäftigen, sollten sie versuchen, die Miljutins und die Tschernjajews der Zukunft zu entdecken. Und wenn sie wirklich daran interessiert sind, dass Russland liberaler wird, dann sollten sie darüber nachdenken, wie das Leben der modernen Miljutins einfacher gemacht werden kann. Es ist schwer vorstellbar, wie der Einstieg in den Kalten Krieg 2.0 dabei hilfreich sein soll.
Westliche Kreml-Auguren stellen Russlands Präsidenten Wladimir Putin manchmal als einen Zentristen dar, der konkurrierende Fraktionen innerhalb der russischen Elite ausgleicht. Liberale Bürokraten waren schon immer eine dieser Fraktionen. Weit verbreitet ist jedoch die Auffassung, dass die Ost-West-Spannungen in den letzten Jahren dazu geführt haben, dass das heikle Kräfteverhältnis zum Nachteil liberaler westlich Orientierter und zum Vorteil ihrer Gegner gekippt ist.
Dies ist für niemanden von Vorteil. Durch die neue Atmosphäre des Kalten Krieges droht der aufgeklärten Bürokratie das Aussterben. Damit schwinden die Aussichten auf Reformen von oben, und es bleibt nur noch ein Mittel, um Veränderungen herbeizuführen – die Revolution von unten. Moskau hat das schon einmal versucht. Es hat weder für Russland noch für den Rest der Welt gut geklappt.
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Übersetzt aus dem Englischen. Paul Robinson ist Professor an der Universität von Ottawa. Er schreibt über russische und sowjetische Geschichte, Militärgeschichte und Militärethik und ist Autor des Blogs Irrussianality.
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