Wir müssen auch der Opfer der Lockdowns gedenken

Ob das Sprechverbot über die Folgen der Lockdowns verhängt wurde, weil die Maßnahmen sonst nicht mehr durchsetzbar wären oder weil die Bundesregierung keine Fehler eingestehen will – es verschlimmert eine schlimme Situation. Denn dieses Schweigen macht Trauer unmöglich.

von Dagmar Henn

Eigentlich müsste ich von Trauer schreiben. Aber um dorthin zu kommen, wo diese Trauer ausgesprochen und wahrgenommen werden kann, muss man sich durch eine dicke Schicht nach oben graben. Eine dicke Schicht von nicht Ausgesprochenem, ins Unsichtbare Gedrängtem, und eine noch dickere Lage an hysterischen Alltagsmeldungen, die das ohnehin schon an die Wand gemalte Grauen noch einmal dicker tünchen.

Das, was in einer Gesellschaft an- und ausgesprochen wird, werden kann, bestimmt die Agenda des Handelns und die Wahrnehmung nicht nur eines Problems, sondern auch der Betroffenen. Nach über einem Jahr sind die Folgen der Lockdowns, des monatelangen Verbots sozialer Kontakte, des Entzugs der meisten Quellen der Lebensfreude, immer noch nicht ansprechbar. Ja, sicher, auf diesem Portal, in einer der verbliebenen Nischen. Aber es sind immer noch die Tagesschau, die Bild und der Spiegel, die der gesellschaftlichen Wahrnehmung den Takt schlagen, trotz aller Glaubwürdigkeitsverluste. Ich kann mich nur hindurchgraben.

Der Schriftsteller Christian Y. Schmidt hatte vor einiger Zeit angeregt, mit Kerzen der Corona-Opfer zu gedenken. Wir bräuchten ebenso sehr Kerzen für die Opfer der Lockdowns.

Aber das ganze vergangene Jahr wirkt wie ein Wettbewerb des Im-Stich-Lassens. Die in Quarantäne Geschickten – sollen sie doch sehen, wie sie sich versorgen. Die Mütter, deren Kinder zu Hause eingesperrt wurden – selbst schuld. Muss ja keiner Kinder haben. Die Alten, die isoliert wurden, ob sie wollten oder nicht – manche hätten sich wohl dafür entschieden, das Infektionsrisiko einzugehen, aber dafür die Nähe und die Berührung zu behalten; sie wurden gar nicht gefragt. Hundert kleine Nadelstiche: das fehlende Lächeln beim Einkaufen, die Erschwernis, neue Menschen kennenzulernen, die unnatürliche Stille auf den Kinderspielplätzen und Unmengen neuer, sich stetig ändernder Regeln.

Ich kenne niemanden mehr, der nicht davon erschöpft ist. Weil das normale menschliche Verhalten in einer Krise das genaue Gegenteil dessen ist, was uns verordnet wurde: mehr Nähe statt Distanz, mehr Berührung; die ganzen Beruhigungstechniken der Primaten, sie wurden verwehrt, verboten. Aber unsere hormonelle Regelung von Angst, Sicherheit, von Freude und Geborgenheit ändert sich nicht, weil plötzlich irgendein Erreger im Umlauf ist. So zerfasert fast allen das Nervenkostüm.

Es ist eine lange Zeit, man möchte aus ihr herausspringen, aber sie zieht sich, und die hundert Nadelstiche, der permanente seelische Ausnahmezustand, sie finden keinen Widerhall, bleiben ins Private verbannt, dürfen nicht neben die öffentliche Erzählung von der Abwehrschlacht gegen die Pandemie treten. Man muss nur die Suche bei Google-News laufen lassen, einmal mit dem Stichwort Delta und einmal mit den Stichwörtern "Jugend Psychiatrie". Ja, zu Letzterem gibt es eine Reihe Artikel, aber sie streuen sich über Monate; um Delta geht es im Minutentakt.

Wenn es für mich schon das längste Jahr scheint, an das ich mich erinnere, wie viel länger ist es für jene, die 18, 16, 15 sind? Für die im vergangenen Frühjahr die Ordnung der Welt zerfiel (und das tat sie, mit dem Schließen der Schulen und dem Verbot privater Treffen) und die bis heute keinen Moment sehen können, an dem sie wiederhergestellt wird? Die, wenn sie dann doch das Abitur hinter sich gebracht haben und miteinander im Freien feiern, von der Polizei mit Schlagstöcken auseinandergetrieben werden, immer noch, trotz Inzidenz nahe null?

Ja, es sind nicht die Kinder wohlhabender Eltern, mit einem eigenen Zimmer, Schränken voller Spiel- und Bastelmaterial, in einem Haus mit Garten und dem Wald gleich dahinter, die am meisten leiden. Es sind die Kinder in den Wohnsilos, die den Spielplatz ihrer Anlage nicht aufsuchen durften und bei denen zur Bespaßung schlicht das Geld fehlt, weil auch Bastelmaterial bezahlt werden muss. Die nach einem halben Jahr von der Regierung einen Hunderter bekamen, nachher, als könnte das irgendetwas ausgleichen. Es sind nicht die sicher gebundenen Kinder, die den Blick auf das Gesicht der Erzieherin im Kindergarten brauchen, sondern die unsicheren, die ambivalenten, die es sich mühsam erarbeiten müssen, sich irgendwo geborgen zu fühlen.

Manchmal denke ich, irgendwann in der Zukunft wird man zurückblicken und die Schäden in Blick nehmen und feststellen, diese Zeit sei traumatisch gewesen wie ein Krieg.

Wie ein Krieg, dessen Opfer nicht einmal erwähnt werden dürfen. Die Nachrichten darüber schleichen sich heran, über Erzählungen, nicht über die Presse. Ein 13.Jähriger, der von einer Brücke springt. Eine Gruppe Jugendlicher, die gemeinsam versucht, sich das Leben zu nehmen. Die Zeitungen schreiben kaum darüber; nicht nur, weil seit einigen Jahren Meldungen über Suizide wegen Nachahmungsgefahr nicht mehr gebracht werden; auch, weil über die Folgen des Lockdowns eben nicht gesprochen wird.

Schon wenn sie wüssten, dass sie Opfer sind, dass es nicht an ihnen liegt, würde das helfen. Wie sollen die Eltern dieser Jugendlichen damit umgehen, dass die Maßnahmen über ihre Kinder hinweggerollt sind wie ein Vierzigtonner? Könnten wir wenigstens so nett sein, diesen Eltern zu sagen, dass sie nicht schuld sind?

Wenn es eine ehrliche Debatte gäbe … Ich sehe sie mir an, diese empathielosen Gestalten, Spahn, Merkel, nichts an ihnen lässt erkennen, dass sie auch nur eine Wahrnehmung für das Elend haben, das sie hinterlassen. Nein, sie drohen lieber schon mit der nächsten Runde Lockdown; als spielten wir die Reise nach Jerusalem, jede Runde ein paar Stühle weniger, und nur die Harten kommen in den Garten. Probleme werden so behandelt wie immer unter Merkel: durch Beschweigen.

Das ist das Zynischste daran. Dieses Wegsehen, bei so vielen Fragen schon eingeübt. Die Botschaft, die es jenen vermittelt, die unter den Folgen leiden, ist nur: Ihr seid uns egal.

Ja, wir sollten Kerzen aufstellen. Für alle, denen die Maßnahmen den Lebensmut genommen haben. Damit wir den Raum haben, zu trauern.

Auch die Trauer ist übrigens aus dem Lot. Momentan finden Bestattungen statt wie am Fließband, weil alle darauf gewartet haben, endlich eine richtige Beerdigung mit Totenfeier durchführen zu können, statt die Angehörigen geradezu konspirativ zu verscharren. Auf den Standesämtern dürfte es ebenfalls zugehen wie auf dem Rummel. Wer will schon heiraten mit einem Gast aus einem anderen Haushalt?

Das heißt ja nicht, dass man nichts tun soll. Aber die Wirklichkeit mit ihrer ganzen Widersprüchlichkeit zulassen und dann eine wirklich klare Entscheidung fällen, statt die Menschen mit Schauergeschichten zuzukippen, bis sie nicht mehr aus den Augen schauen können, und dann Einzelhaft verordnen auf nicht absehbare Zeit.

Gut, ich weiß, dass es da Interessen gibt, Profiteure, die mal nebenbei ihr Vermögen verdoppelt haben. Das macht wütend. So, wie das Schweigen wütend macht.

Aber die Trauer bleibt trotzdem. Das Wissen, wie falsch es ist, wenn in einer Gesellschaft die Kinder für die Eltern geopfert werden. Selbst wenn auch das nur Gerede ist und die Profiteure ganz andere sind, da müsste sich doch etwas regen. Das ist doch verkehrt herum.

Diese jungen Leute, die den Lebensmut verlieren, liegen auf unser aller Gewissen. Wir haben es zugelassen, dass ihnen zu vieles genommen wurde. Um sie zu trauern, ist das Mindeste.

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