Das europäische Dilemma, oder: Wie Deutschland den USA Europa opfern will
von Gert Ewen Ungar
Die multipolare Weltordnung wird immer manifester. Die erschütternd stümperhafte Reaktion der EU auf die COVID-19-Pandemie wirkt auf die geopolitische Verschiebung beschleunigend, denn die EU fällt dadurch in der Entwicklung weiter zurück. Russland und insbesondere China sind weit besser durch die Krise gekommen. Das Wachstum in China übersteigt mit 18 Prozent im ersten Quartal alle Erwartungen. Dennoch tut der Westen alles, um eine multipolare Weltordnung zu verhindern und den Aufstieg Russlands und Chinas zu bremsen. Deutschland positioniert sich fest an der Seite des transatlantischen Bündnisses. Deutsche Medien sind in diesem Bündnis fester Bestandteil der Agitation und der Verbreitung von Desinformation. Ziel und Auftrag ist es, Konfrontationsbereitschaft zu erzeugen, indem der Eindruck einer moralischen und ökonomischen Überlegenheit gezeichnet wird. Dafür gibt es allerdings kaum noch Anlass.
Stellvertretend für die Desinformation durch deutsche Medien sei ein Beitrag von Silvia Stöber in der Tagesschau genannt. Stöber suggeriert hier eine Aggression Russlands gegen die Ukraine, gegen die der Westen und die NATO solidarisch zusammenstehen müssten. Dabei verhält es sich genau umgekehrt. Mit dem Amtsantritt Bidens fühlt sich die Ukraine offenkundig ermächtigt, deutlich stärker als unter Donald Trump militärisch zu eskalieren. Trump hatte an der Ukraine kaum Interesse. Biden sagt dagegen zu, die Ukraine aktiv zu unterstützen, liefert Waffen und macht das Schwarze Meer zu einer Zone der militärischen Eskalation. Die NATO-Mitglieder entsenden Kriegsschiffe. Defender 2021 gilt mit 28.000 Mann als eines der größten Manöver von NATO-Staaten seit Ende des Kalten Krieges. Man probt in diesen Tagen den Aufmarsch an der Ostflanke. Das Manöver findet also unmittelbar an der russischen Grenze statt. Stöber erwähnt das in ihrem Beitrag mit keinem Wort. Was sie auch unerwähnt lässt, sind die andauernden Verletzungen des russischen Luftraums durch die Luftwaffe der USA und ihrer Alliierten. All das findet nicht nur bei Stöber keine Erwähnung, in der deutschen Presse bleibt all dies ungenannt, schafft es bestenfalls zur Randnotiz. Man muss russische Medien rezipieren, um über diese Provokationen des Westens informiert zu werden.
Gleichzeitig wirkt das westliche Sanktionsregime an seine Grenzen gekommen. Immer willkürlicher und unberechenbarer werden die gegen Russland und China gerichteten Sanktionen, auf die Russland lediglich symmetrisch, China deutlich heftiger reagiert.
Stöber zitiert in ihrem einseitigen Beitrag mit Fiona Hill eine US-amerikanische Sicherheitsexpertin und Beraterin mehrerer Präsidenten, die Putin Unberechenbarkeit als Strategie unterstellt. Verquerer lässt sich nicht argumentieren. Es war Biden, der Putin zunächst einen Killer nannte, dann in Gespräche einwilligte, danach neue Sanktionen gegen Russland verhängte, um schließlich erneut Gesprächsbereitschaft zu zeigen. Unberechenbar zeigt sich hier lediglich Biden, der sich in seiner Rhetorik in nichts von seinem Vorgänger Trump unterscheidet.
Bei diesem war es mit der Bezeichnung "Rocketman" das nordkoreanische Staatsoberhaupt Kim Jong-un, der in ähnlicher Weise behandelt wurde, wie jetzt Biden meint, mit Putin umgehen zu müssen, der den russischen Präsidenten öffentlich "Killer" nannte. Die US-Außenpolitik hat sich unter Biden nicht grundlegend geändert, ihre Unberechenbarkeit und Irrationalität hat im Gegenteil noch zugenommen. Schon jetzt, nach lediglich etwas mehr als einhundert Tagen Biden-Administration, ist die Welt für alle merklich unsicherer und instabiler geworden.
Auch hinsichtlich des Pipeline-Projekts Nord Stream 2 ist nicht die russische Seite unberechenbar. Es sind die extraterritorialen Sanktionen der USA, die beständigen Auseinandersetzungen in der EU und die Uneinigkeit der deutschen Politik in Bezug auf das Projekt, die es für das Konsortium unberechenbar und zum Risiko machen. Russland hat bisher keinen Zweifel daran gelassen, dass es zum Projekt steht. Der Westen gibt in dieser Hinsicht ein völlig anderes Bild ab: unzuverlässig, indifferent, zerrissen, kurz: unberechenbar.
All diese Fakten unterschlägt Stöber und reiht ihren Beitrag damit erneut in einen Journalismus ein, der seiner eigentlichen Aufgabe zum Feind geworden ist.
Dieser Journalismus hat jedes Bemühen um Neutralität und Objektivität aufgegeben. Mit den Mitteln der Propaganda bereitet er Europa darauf vor, vermeintlich alternativlos Austragungsort für einen sich immer weiter intensivierenden Konflikt zwischen dem absteigenden Hegemon USA und dem aufsteigenden Mächten Russland und China zu werden. Die EU spielt in diesem Zusammenhang keine eigenständige Rolle. Ihr gelingt es partout nicht, eigene Interessen zu formulieren, geschweige denn, sich von den Vorgaben der USA zu lösen. Selbst zu der Formulierung, kein Interesse daran zu haben, Europa zum Austragungsort künftiger Konflikte zu machen, ringt man sich auf politischer Ebene weder in der EU noch in Deutschland durch. Und Berichte wie der von Stöber dienen dem transatlantischen Bündnis Europa geradezu als Kriegsschauplatz und Austragungsort für Konflikte an.
Daran wird sichtbar, wie weit sich Politik und deutsche Medien inzwischen von den vitalen Interessen der Bürger entfernt haben. Deren Interesse ist weder ein Wirtschaftskrieg noch eine Sanktionsspirale, die am Ende ihrer Möglichkeiten angekommen in eine tatsächlich militärische Eskalation auf europäischem Boden führen wird.
Durch die beständige Aggression des Westens gegenüber Russland und China schreitet die Abkoppelung immer weiter und immer schneller voran. Während der Aufstieg Russlands und Chinas durch westliche Sanktionen kaum gebremst wird, steigt die EU immer weiter ab. Gleichzeitig vertieft sich die Allianz zwischen den beiden neuen Machtzentren unter dem Druck, den der Westen aufbaut.
Russland arbeitet daran, das russische Internet im Ernstfall abkoppeln zu können, promotet im Inland seine Alternativen zu Youtube, Facebook und Co., die sich dem westlichen Zensur-Regime entziehen.
Während die EU inzwischen unverhohlen droht, Russland vom SWIFT-Zahlungsverkehr abzuschneiden, um es für sein "aggressives Verhalten" zu bestrafen, weitet Russland die Verwendung seines eigenen Zahlungssystems MIR immer weiter aus. Worin das "aggressive Verhalten" genau bestehen soll, bleibt unklar. Truppenverlegungen und militärische Übungen auf eigenem Gebiet reichen inzwischen schon aus, wie unter anderem der Beitrag von Stöber verdeutlicht. Stöber ist mit dieser bizarren Deutung nicht allein. Um dieses Bild des aggressiven Russland zu malen, wird die russische Stadt Woronesch, in der Truppen zusammengezogen wurden, von deutschen Medien kurzerhand an die ukrainische Grenze verlegt. Dabei ist die Stadt 300 Kilometer von der Grenze entfernt. Stöber verkürzt in ihrem Beitrag auf 150 Kilometer; andere Beiträge verorten die russischen Truppen sogar unmittelbar an der Grenze. Mit der Realität hat das erneut wenig zu tun, es dient ausschließlich einer aggressiven Berichterstattung, die Russland zur Bedrohung stilisiert. Diese Berichterstattung ist inzwischen auf einem Niveau angekommen, auf dem jede Handlung Russlands als aggressiv ausgelegt wird. Es werden regelrechte Verschwörungstheorien über eine verdeckte Einflussnahme Russlands entworfen.
So lässt die Tagesschau zusammen mit dem Magazin Kontraste ihre Zuschauer in einem verschwörungstheoretischen Beitrag über verdeckte Einflussnahme Russlands wissen: "Es gehe in erster Linie darum, Akteure zu finden, die sich langfristig positiv über Russland äußern." Wir lernen: Wer sich positiv über Russland äußert, kann nur ein Einflussagent Moskaus sein. Im Umkehrschluss heißt das auch: Über Russland gibt es nichts Positives zu berichten. Genau an diesem primitiven Narrativ richten sich deutsche Medien aus – genau das aber nennt man Propaganda. Dabei, so werden wir bei den Öffentlich-Rechtlichen weiter informiert, geht Moskau so verdeckt vor, dass diese Einmischung nur durch ganz indirekte Indizien aufgezeigt werden kann. Die ganz offene Einflussnahme US-amerikanischer Thinktanks und die direkten Vorgaben der US-Politik an Deutschland bleiben ungenannt. Die dürfen das. Der deutsche Mainstream ist als Ganzes ein klares Bekenntnis zum Vasallentum.
Bei all diesen Attacken von Politik und Medien gegen Russland bleibt unklar, zu welchem Ergebnis diese Aggressionen führen sollen. Was Russland konkret tun soll, um sich von den Attacken zu befreien, wird nicht gesagt. Das macht deutlich, wie sehr die Aggression Selbstzweck ist.
Der Westen ist im Niedergang begriffen, er ist längst in seine autoritäre Phase eingetreten. Westliche Gesellschaften sind durch die sozioökonomischen Entwicklungen der letzten Dekaden derart gespalten, dass sie nur durch immer autoritärere, repressivere Maßnahmen zusammengehalten werden können. Die breiten Proteste, die sich in allen westlichen Gesellschaften zeigen, sind dafür Ausdruck. Die gewaltsamen Niederschlagungen und die massive Polizeigewalt ebenso. Auch das repressive, die Grundrechte unnötig einschränkende Pandemie-Regime bezeugt diese Entwicklung. Nicht nur im Äußeren, auch im Inneren rüsten westliche Staaten massiv auf. Diese Aufrüstung richtet sich klar gegen die eigenen Bürger. Zensur, immer weitere Verengung der zugelassenen Meinungen, aktive Diskriminierung von "Abweichlern" – all dies ist inzwischen Standard in Deutschland. Mit den Werten, für die Deutschland und die EU angeblich stehen, hat die tagesaktuelle Politik und Berichterstattung inzwischen gar nichts mehr zu tun.
Dabei ist der Abstieg insbesondere der EU mit der jetzigen Wirtschaftspolitik nicht zu verhindern. Der Corona-Wiederaufbaufonds bleibt durch die Vorgaben des Europäischen Semesters an neoliberale Reformen in EU-Mitgliedsstaaten gekoppelt. Das wird die Gesellschaften weiter spalten und die Entwicklung bremsen. Der wirtschaftliche Einbruch durch die politischen Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie war in der EU und vor allem im Euroraum wesentlich stärker als in Russland und China. Während China längst wieder auf Wachstumskurs ist und die Wirtschaft Russlands laut IWF zum Ende des Jahres wieder auf Vorkrisenniveau liegen wird, verharrt die EU in der Krise.
Konkret bedeutet das, die EU und die Länder des Euroraums fallen in der Entwicklung gegenüber China und Russland weiter zurück. Das bedeutet auch: Für den Anspruch, aus einer Position der Stärke heraus gegenüber den neuen Playern aufzutreten, fehlt jede faktische Grundlage. Ob das von Biden initiierte Hilfspaket für die US-Wirtschaft tatsächlich in der Lage ist, die dortige Spaltung der Gesellschaft zu überwinden, steht in Frage. Es bedient die obere Mittelschicht und die Reichen. Was aber jetzt schon klar ist, ist, dass die transatlantische Freundschaft nicht so weit reichen wird, dass ein exportorientiertes Deutschland dort erneut abgreifen kann, um sich auch nach dieser Krise wieder zu sanieren. Der Handelsstreit mit den USA wird Dauerthema bleiben.
So bleibt dem Deutschen Wirtschaftsmodell China als Exportstütze, zumal weder in der EU noch in Deutschland ein fundamentaler wirtschaftspolitischer Kurswechsel zu erkennen ist, der die Kaufkraft der Bürger der EU so stärken würde, dass die EU aus eigener Kraft die Krise überwinden könnte. In China allerdings schreitet die Entwicklung so schnell voran, dass das Land immer weniger auf den Import von Technologie aus Deutschland angewiesen ist. In vielen Bereichen läuft schon jetzt der Technologietransfer in die umgekehrte Richtung: Wir kopieren bei den Chinesen.
So wirken die aggressiven Töne gegen Russland und China reichlich weltfremd. Im Gegenteil benötigen die EU und Deutschland dringend eine umfassende Kooperation mit beiden Ländern. Ökonomisch hat die EU gerade keine Trümpfe in der Hand. Es bleibt ihr daher nur die militärische Eskalation, will man der Möglichkeit einer Zusammenarbeit zum wechselseitigen Vorteil keinen Raum geben.
Aber zu dieser absolut bedenklichen, selbstzerstörerischen Entwicklung gibt es selbstverständlich Alternativen. Statt Russland und China weiter in die Abkopplung zu treiben, weil man überdeutlich macht, dass man als zuverlässiger Partner ausfällt und beständig an der Eskalationsschraube dreht, wäre es weit sinnvoller, würden die EU und vor allem Deutschland ihre einseitige, transatlantische Positionierung zugunsten einer klugen, vermittelnden Diplomatie modifizieren. So könnte der gesamte europäische Kontinent von der Verschiebung der Machtpole profitieren – ökonomisch, kulturell und vor allem friedenspolitisch. Von dieser politischen Klugheit ist die deutsche Politik weit, sind die deutschen Medien himmelweit entfernt. Die EU ist darüber hinaus unter diplomatischen Gesichtspunkten ein Totalausfall. Die EU, Deutschland und die hiesigen Medien bevorzugen, Deutschland und Europa erneut zum Schlachtfeld und Austragungsort geopolitischer Konflikte zu machen. Aus der Geschichte zu lernen, scheint der Gattung des deutschen Journalisten und des Politikers besondere Schwierigkeiten zu bereiten. Kehrt bei den politischen und medialen Eliten in Deutschland und der EU keine Vernunft ein, werden dafür alle Europäer einen hohen Preis zu zahlen haben.
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