Meinung

Missbrauch des Gewaltmonopols: Die zweifelhafte Auflösung einer Demonstration

Wegen Verstößen gegen die Hygieneschutzmaßnahmen löst die Berliner Polizei eine friedliche Demonstration auf. Das Vorgehen führt zu noch mehr Verstößen, Gewalt und massenhaften Festnahmen.
Missbrauch des Gewaltmonopols: Die zweifelhafte Auflösung einer DemonstrationQuelle: www.globallookpress.com © Rolf Zoellner / www.imago-images.de

von Jens Zimmer

Am gestrigen Mittwoch fand in Berlin eine Demonstration gegen die Erweiterung des Infektionsschutzgesetzes statt. Zeitgleich wurde im Bundestag über das entsprechende Gesetz abgestimmt. Die sogenannte "Notbremse" soll der Regierung in Zukunft weitreichende Machtbefugnisse im Kampf gegen die ausgerufene Pandemie einräumen. Demonstrationen gibt es in Berlin täglich, auch und ganz besonders auf der Straße des 17. Juni. Ein wenig ungewöhnlich war am gestrigen Tage allerdings das Vorgehen der Polizei. Selbst für Berliner Verhältnisse.

Zwischen Yitzhak-Rabin-Straße und Brandenburger Tor hatten sich die Einsatzkräfte auf etwa 200 Meter Länge auf einer der Fahrbahnseiten postiert. Im Bereich der anderen Fahrbahnseite sollte die Demonstration stattfinden. Eine Aufteilung, die ich dort in dieser Form noch nie gesehen habe.

Inmitten der Demonstranten standen zudem von Beginn an kleine Gruppen Polizisten, die die Einhaltung der Hygieneschutzbestimmungen kontrollieren sollten. Zusammen mit der sehr ungewöhnlichen Absperrung vermittelte dies einen regelrecht "herrischen" Auftritt der Staatsmacht, die sehr aufdringlich Präsenz zeigte. Im wörtlichen wie auch im übertragenen Sinne ließ man den Menschen kaum Platz zum Atmen.

Zu diesem Zeitpunkt wurde die Maskenpflicht überwiegend noch eingehalten. Für die Einhaltung des Mindestabstands gab es jedoch schlicht keinen Platz. Schon um 10 Uhr morgens war die zugewiesene Fläche überfüllt.

Gegen 10:30 Uhr machte sich eine Gruppe von bis zu 500 Demonstranten auf in Richtung Großer Stern. Im Laufschritt improvisierte die Polizei eine Kette, mit der sie diese Menschen aufhielt. Über eine Stunde standen sich Demonstranten und Einsatzkräfte an der neu entstandenen Linie friedlich gegenüber. Dann wurde der Demonstrationsbereich auf der gesamten Breite des 17. Juni um etwa 400 Meter in Richtung Großer Stern erweitert.

Zu diesem Zeitpunkt war die Stimmung sehr gelöst. Häufig sah man Demonstranten und Beamte im Gespräch. Einzelne Polizeizüge hatten die Helme aufgesetzt, waren aber ebenfalls sichtlich entspannt. Ein direkter Anlass für die Helme war zu diesem Zeitpunkt nicht erkennbar.

Um 12:22 Uhr erklärte die Berliner Polizei die Veranstaltung überraschend für aufgelöst. Offizieller Grund war die Nichteinhaltung der Hygieneschutzbestimmungen und eine daraus resultierende "Gefährdung der öffentlichen Sicherheit". Die Menschen wurden aufgefordert, sich in Richtung Süden durch den Tiergarten zu entfernen. Viele Demonstranten kamen dieser Aufforderung nach.

An den jeweiligen Enden der Demonstration gab es jedoch einige Hundert Teilnehmer, die sich zu gehen weigerten und teils auf den Boden setzten. Auf Seite des Großen Sterns konnte die Polizei diese Menschen recht schnell in den Tiergarten abdrängen. Abgesehen von einigen Remplern kam es dabei nicht zu nennenswerter Gewalt.

In Richtung Brandenburger Tor gestaltete sich die Lage schwieriger. Dort machten die Menschen keine Anstalten, sich freiwillig in den Tiergarten zu begeben. In ihrer Zusammensetzung handelte es sich um den Querschnitt der Gesellschaft. Normale, ansonsten vermutlich vollkommen unauffällige Bürger, die sich vollkommen friedlich verhielten. Vielen Polizisten war die Situation sichtlich unangenehm. Vielleicht dauerte es deshalb so lange, bis sie die letzten Teilnehmer in den Tiergarten abgedrängt hatten.

Um das zu erreichen, ging die Polizei zunehmend auch mit Gewalt vor. Sie ignorierte zunächst die sitzenden Demonstranten und drängte die stehenden in den Tiergarten. Dann wurden die Sitzenden abgeführt, oder, wie ich es einmal beobachtete, sehr "robust" im Tiergarten abgeladen. Dennoch gab es auch zu diesem Zeitpunkt noch immer viele Gespräche zwischen Demonstranten und Polizisten. Feindseligkeiten waren punktuell. Jedoch war die zuvor sehr gelöste Grundstimmung einer allgemeinen Anspannung gewichen.

Aus mir nicht ersichtlichen Gründen ging die Polizei dann auch im Tiergarten weiter gegen die Demonstranten vor. Mit kleinen Einheiten, die sich ihren Weg teilweise sehr rücksichtslos durch die Menschen bahnten. Es gab ein paar Festnahmen, zu denen mir die Vorgeschichten fehlten. Naturgemäß heizte das die Stimmung aber weiter auf. Nach meiner Beobachtung ging die Aggression von jenen Teilen der Polizei aus, die im Tiergarten die Festnahmen durchführten. Dieses Video zeigt ab Minute drei einige aufschlussreiche Szenen.

Und wozu das alles? Aufgelöst wurde die Demonstration offiziell wegen Verstößen gegen die Hygieneschutzmaßnahmen. Hinsichtlich des Hygieneschutzes wurde die Lage durch die Maßnahmen aber nicht entschärft, sondern eher verschlimmert. Eine absehbare Entwicklung, die niemanden überrascht haben dürfte. Das Gedränge im Tiergarten war unausweichlich, die spätere Eskalation angesichts des weiteren Verhaltens der Polizei beinahe vorprogrammiert.

Die Maßnahmen der Polizei waren offenbar nicht darauf ausgelegt, ein verhältnismäßiges Ziel zu erreichen. Wenn der ins Feld geführte Verstoß gegen den Hygieneschutz in seiner Konsequenz zu noch mehr Verstößen gegen den Hygieneschutz führt, dann sind die Maßnahmen kontraproduktiv. Bei Entscheidungen dieser Art sollte es um die Abwägung zwischen einem möglichen Schaden für die Allgemeinheit und der größtmöglichen Wahrung bürgerlicher Rechte gehen. Werden polizeiliche Entscheidungen aus anderen Gründen heraus getroffen, so wird das staatliche Gewaltmonopol missbraucht.

Ohne das sinnlose Eingreifen der Polizei wäre es auf der bis dahin absolut friedlichen Veranstaltung aller Voraussicht nach nicht zu Gewalt gekommen. Es hätte an diesem Tage keinen Pfeffersprayeinsatz, keine geworfenen Gegenstände und auch keine unzähligen Festnahmen gegeben. In Bezug auf die Hygieneschutzmaßnahmen hätte es zudem keinen Unterschied mehr gemacht. Es ist ausdrücklich NICHT die Aufgabe der Polizei, Menschen im Sinne von Politik, Medien oder Zeitgeist auf der Straße zu bestrafen.

Auffällig ist die zurückhaltende Berichterstattung in den Medien. Die polizeilichen Fehlentscheidungen, die Massenfestnahmen und die erhebliche Einschränkung des Demonstrationsrechts erscheinen nur als Randnotiz. Noch vor kurzem hätte die gestrige Demonstration eindeutig die Schlagzeilen beherrscht. Jeder mag sich selber überlegen, was seit gestern anders ist.

Der einzige erkennbare Journalist, der mir gestern im Tiergarten inmitten des Geschehens begegnet ist, war übrigens Boris Reitschuster. Der Rest tummelte sich hinter den Absperrungen und trat sich dort gegenseitig auf die Füße. Sensationslüstern und gierig, wie in einem Film! Einmal wurden sie per Durchsage aufgefordert, doch bitte Platz zu machen, damit die Polizei ihre Arbeit tun kann.

Die für 16 Uhr angemeldete Demonstration vor Schloss Bellevue ist mir aus technischen Gründen leider entgangen. Dafür möchte ich mich entschuldigen. Aber nicht ohne eine letzte Anmerkung: Wir leisten uns in Deutschland einen wahren Moloch üppig finanzierter öffentlich-rechtlicher Medien! Doch um zu erfahren, was gestern noch geschehen ist, besuche ich wohl besser reitschuster.de.

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Eine telefonische Anfrage bei der Pressestelle der Polizei Berlin ergab folgende Informationen:

(Wiedergabe nach Stichpunkten)
Nach Rücksprache gegen 11:35 Uhr stellte sich die Lage solcherart dar, dass die Anmelderin (Einzelperson) keinen ausreichenden Einfluss auf die anwesenden Demonstrationsteilnehmer ausüben konnte, um diese zur Einhaltung der vorgeschriebenen Hygieneschutzmaßnahmen zu bewegen. Wegen fortgesetzter Verstöße wurde die Veranstaltung gegen 12:20 Uhr für beendet erklärt. Die ehemaligen Teilnehmer wurden aufgefordert, sich in Richtung Süden durch den Berliner Tiergarten zu entfernen.

Wegen der unerwartet hohen Anzahl an Teilnehmern wurde die Veranstaltungsfläche für erwartete 500 Teilnehmer zuvor noch in Richtung Siegessäule erweitert. Den Verstößen gegen die Auflagen tat dies keinen Abbruch.

Viele ehemalige Versammlungsteilnehmer hielten sich nach Auflösung der Demonstration im Berliner Tiergarten auf. Wegen des Werfens von Gegenständen auf Polizeibeamte kam es dort zu Verhaftungen und dem Einsatz von Reizgas.

Die Auflösung der Versammlung war verhältnismäßig, da nach aktuellen Maßgaben der Verstoß gegen die geltenden Hygienevorschriften eine Gefährdung der Öffentlichen Sicherheit darstellt. Diesen Zustand musste die Polizei beenden.

Auf der Straße des 17. Juni und im Tiergarten kam es im Zuge dieser Veranstaltung zu insgesamt 115 Festnahmen.

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