Ausgebremst? Karlsruhe-Urteil zum Wiederaufbaufonds erschwert stärkere Integration der EU
von Pierre Lévy
Am 26. März machte das Bundesverfassungsgericht der Ratifizierung des EU-Wiederaufbaufonds einen Strich durch die Rechnung. Es untersagte dem Bundespräsidenten vorübergehend, das Gesetz zur Ratifizierung der gemeinsamen Finanzierung dieses Fonds zu unterzeichnen. Das Karlsruher Gericht gab damit einem Eilantrag einer von fast 2.300 Bürgern mitunterzeichneten und von Wissenschaftlern angeführten Initiative statt.
Die Petition wurde unmittelbar nach der Zustimmung des Bundestages und anschließend des Bundesrates zu dem umstrittenen Gesetzentwurf am 25. und 26. März eingereicht. Sie forderte und erreichte, dass das Gesetz ausgesetzt wird, bis die Verfassungsrichter eine Klage auf einstweiligen Rechtsschutz geprüft haben, über die sie – vielleicht in einigen Wochen – entscheiden werden. Eine Entscheidung in der Hauptsache könnte mehrere Jahre dauern.
Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) versuchte umgehend, die Bedeutung der Karlsruher Entscheidung herunterzuspielen: Die Finanzierung des 750-Milliarden-Euro-Wiederaufbaufonds und des mehrjährigen EU-Haushalts stehe "auf einem stabilen verfassungs- und europarechtlichen Fundament". Der gleiche Tonfall war in Brüssel zu hören, wo ein Sprecher hoffte, dass das Gericht schnell entscheiden würde, so dass die europäischen Gelder in den kommenden Monaten freigegeben werden könnten.
Um in Kraft zu treten, muss das europäische Konjunkturprogramm von den 27 Mitgliedsstaaten einstimmig ratifiziert werden. Diese Verpflichtung ist mit der Art der Finanzierung des Plans verbunden: Die Mittel müssen von der Kommission im Namen der Mitgliedsstaaten auf den Märkten aufgenommen werden. Dies ist eine Innovation (zumindest für einen solchen Betrag), die viele europäische Staats- und Regierungschefs bei ihrer Verabschiedung begrüßten. Insbesondere für Emmanuel Macron war dies ein entscheidender Schritt in Richtung eines föderalen Europas, da es mit einer kollektiven Schuldenaufnahme ausgestattet würde, die den Weg zu einem europäischen "Staatshaushalt" eröffnet.
Diese Aussicht auf die "Vereinigten Staaten von Europa" ist jedoch mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland unvereinbar. So hatte das Karlsruher Gericht bei der Ratifizierung des Vertrages von Maastricht (1993) ausdrücklich daran erinnert, dass das Grundgesetz eine unveräußerliche Souveränität bekräftigt, deren Hüter es ist.
Bei der Ratifizierung des Vertrags von Lissabon hatten die Richter sogar erklärt, dass der Rahmen der Demokratie in Ermangelung eines europäischen Volkes nur national sein könne. Um zu einem supranationalen Staat überzugehen, müsse sich Deutschland selbst auflösen, was nur durch eine explizite Befragung des Volkes geschehen könne.
Darüber hinaus hat der Gerichtshof wiederholt die Genehmigung von geldpolitischen Maßnahmen der Europäischen Zentralbank (EZB) verschleppt. Sein letzter Warnschuss datiert vom 5. Mai 2020. Damals stellte er das 2015 gestartete massive Anleihe-Rückkaufprogramm der EZB (das auf Gelddrucken hinausläuft) in Frage und warf seinem Kollegen, dem EU-Gerichtshof, vor, es bestätigt zu haben, obwohl es "unverhältnismäßig" war. Im Juni 2020 gab die EZB jedoch ein Dokument heraus, das die Situation erklären sollte – und Karlsruhe ließ es schließlich durchgehen. Damals waren also einige der Meinung, dass das Verfassungsgericht "immer murrt, aber nie beißt". Doch Karlsruhe schränkt mit einer Entscheidung nach der anderen den Handlungsspielraum der Befürworter eines föderalen Europas ein.
In jedem Fall ist das Urteil vom 26. März auf europäischer Ebene wichtig. Schon kurzfristig: Angesichts einer gewaltigen dritten Welle von Epidemien und den damit verbundenen erheblichen wirtschaftlichen Schäden haben die Staats- und Regierungschefs der EU viel auf diesen Aufschwungsplan gesetzt. Der Plan wurde von den EU-27 im Juli unter dem Druck von Angela Merkel und Emmanuel Macron, die die Idee zwei Monate zuvor zusammen lanciert hatten, angenommen.
Letzterer, der sich selbst schmeichelt, die Initiative des Plans initiiert zu haben, ärgerte sich kürzlich über den langsamen Ratifizierungsprozess: Bis heute sind nur zehn Länder (darunter Frankreich) zur parlamentarischen Abstimmung gegangen. Die Karlsruher Entscheidung sorgt für Unsicherheit über die Zukunft des Plans. Sollte dieser blockiert werden, würden die bereits angekündigten nationalen Pläne, die von ihm abhängen, zusammenbrechen.
Aber vor allem mittelfristig haben die Befürworter der Integration etwas zu befürchten. Einerseits hat das Verfassungsgericht im Jahr 2020 die monetäre Finanzierungspolitik der EZB in Frage gestellt, dann jetzt ein Jahr später einen Vorbehalt gegen die Transferleistungen der Mitgliedsstaaten untereinander, wobei dies die beiden einzigen Möglichkeiten sind, die gemeinsame Währung am Leben zu erhalten.
Andererseits spiegeln die Karlsruher Richter auf ihre Weise eine weit in Deutschland verbreitete Mentalität (aber auch in den Niederlanden und in den sogenannten "sparsamen" Staaten) wider. Die Zusammenlegung von Schulden auf europäischer Ebene war ein Tabu, das die Bundeskanzlerin mit dieser Initiative im Mai letzten Jahres gegen alle Widerstände gebrochen hat. Viele kleine Sparer oder Rentner befürchten, eines Tages für die Defizite der sogenannten "laxen" Südländer aufkommen zu müssen.
In diesem Zusammenhang spiegelt das Urteil vom 26. März, auch wenn es vorläufig ist, die Divergenzen wider, die in den letzten Jahren innerhalb der deutschen herrschenden Eliten deutlich geworden sind. Es gibt einen gedämpften Gegensatz zwischen denen, die die europäische Integration immer noch ganz oben auf die Tagesordnung setzen, und denen, die sie zwar auch befürworten, aber meinen, dass die Interessen der deutschen Wirtschaft jetzt Vorrang haben müssen. Die Corona-Krise hat Ersteren geholfen, indem sie die Verflechtung der Lieferketten zwischen verschiedenen Ländern deutlich gemacht hat. Letztere haben aber keineswegs aufgegeben.
Das zeigte das Ergebnis, das Friedrich Merz auf dem Christdemokratenkongress im Januar erzielte. Der Parteitag nominierte schließlich Armin Laschet als CDU-Vorsitzenden, aber Merz, der eine "Deutschland zuerst"-Linie vertritt, wurde nur knapp geschlagen. Auch die große, wirtschaftsnahe Frankfurter Allgemeine Zeitung veröffentlichte wenige Stunden nach der Urteilsverkündung einen Kommentar, in dem sie das Karlsruher Urteil begrüßte.
Der Rest ist noch nicht geschrieben. Aber Karlsruhe hat ein weiteres Problem geschaffen, nicht nur für Brüssel, sondern auch für Angela Merkel und Emmanuel Macron, denen es im Moment nicht an Problemen mangelt. Erstere sah ihre Freunde bei den letzten Regionalwahlen schwere Niederlagen erleiden. Und letzterer sieht seine Bemühungen um eine stärker integrierte EU wieder einmal vereitelt.
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