Meinung

Russland steht im 57 Milliarden US-Dollar schweren Streit um das Yukos-Ölimperium vor einem Showdown

Inmitten des 57 Milliarden Dollar schweren Streits um das Yukos-Ölimperium steht Russland nun vor einem Showdown. Laut Justizminister Konstantin Tschuitschenko ist der Fall Teil eines "juristischen Krieges", der vor internationalen Gerichten gegen das Land geführt wird.
Russland steht im 57 Milliarden US-Dollar schweren Streit um das Yukos-Ölimperium vor einem ShowdownQuelle: Reuters © Reuters Photographer

von Gabriel Gavin

Was zählt mehr: Urteile von ausländischen Gerichten oder Gesetze, die von Politikern in der Heimat gemacht werden? Das ist die Frage, die russische Beamte nach einer Reihe von Gerichtsbeschlüssen abwägen, von denen sie sagen, sie stünden im Widerspruch zu den eigenen Prinzipien des Landes.

Ein internationaler Rechtsstreit um das zusammengebrochene Yukos-Ölimperium tobt seit mehr als einem Jahrzehnt vor Gerichten auf der ganzen Welt, vor allem in den Niederlanden und den USA. Eine rekordverdächtige Rechnung von 57 Milliarden Dollar hängt nun in der Schwebe.

Ehemalige Anteilseigner des inzwischen untergegangenen Unternehmens beschuldigen die russische Regierung, die sie als böswillig handelnde Oligarchen betrachten, sich das Vermögen des Unternehmens "angeeignet" und es in den Bankrott getrieben zu haben. Die Anwälte des Landes legten Berufung gegen eine erste Entscheidung eines niederländischen Gerichts zugunsten der Kläger ein und erklärten, die Richter hätten die russischen Gesetze gegen Korruption und Betrug nicht berücksichtigt.

Laut dem russischen Justizminister Konstantin Tschuitschenko ist der Fall Teil eines "juristischen Krieges", der vor internationalen Gerichten gegen das Land geführt wird. Die Situation sei sehr schwierig und ernst:

"Russland muss sich angemessen verteidigen und manchmal sogar zurückschlagen."

Wie der Staat zurückschlagen könnte, wurde im Dezember deutlich, als das Verfassungsgericht, eine der höchsten gerichtlichen Instanzen des Landes, entschieden hatte, dass Moskau sich weigern solle, die kolossale Summe zu zahlen, wenn es die jüngste laufende Klage gegen Yukos verliere. Der Fall wird unter den Bedingungen des Energiecharta-Vertrags verhandelt, den Russland zwar unterschrieben, aber nie ratifiziert hat, auf dessen Grundlage ausländische Gerichte darauf bestehen, dass sie immer noch zuständig sind. Die russischen Richter verweisen darauf, dass das Eintreten in den Pakt und die vermeintliche Zustimmung zu einer ausländischen Mediation eine grundlegende Bestimmung der Verfassung des Landes gebrochen hat.

Insbesondere, so die Richter, verstoße es gegen die Verfassung, nationale Gesetze internationalen Entscheidungen zu unterwerfen, und deshalb habe die Regierung von Boris Jelzin, als sie 1994 dem Vertrag beitrat, dies auf einer ungültigen Grundlage getan. Kein Staatsoberhaupt, so das Gericht, habe das Recht, das  Selbstbestimmungsrecht zu verspielen oder die "Kompetenz" russischer Gerichte "in Frage zu stellen".

Sollten die Richter in Den Haag schließlich die Entscheidung aufrechterhalten, die Multimilliarden-Dollar-Summe an diejenigen auszuzahlen, die nach dem Zusammenbruch von Yukos Geld verloren haben, wäre die Auszahlung der Gelder daher optional, so das Urteil. Diese Entscheidung würde Moskau von jeglichen Verpflichtungen gegenüber ausländischen Gerichten unter den Bedingungen von Verträgen, die es möglicherweise unterzeichnet hat, befreien und das Land auf Kollisionskurs mit dem Westen bringen, der versuchen könnte, eigene Maßnahmen zu ergreifen, um eine Einigung durchzusetzen.

Im November wurde ein paralleler Rechtsstreit, der von den Ex-Aktionären von Yukos angestrengt worden war, in den USA vorübergehend abgewiesen. Ein Richter in Washington akzeptierte die russische Petition, das Verfahren auszusetzen, während der Fall in den Niederlanden verhandelt wurde. Die Kläger hatten gefordert, dass die amerikanischen Behörden von Russland eine Sicherheitsleistung in Höhe von sieben Milliarden Dollar für den Fall verlangen, dass Moskau sich entschließt, nicht zu zahlen. In dem 30-seitigen Urteil wird diese Idee rundweg abgelehnt und argumentiert:

"Die Russische Föderation ist ein souveränes Land mit wirtschaftlichen Verflechtungen, die sich über den ganzen Globus erstrecken, und kein unsicherer potenzieller Schuldner, von dem eine Sicherheitsleistung verlangt werden muss, damit zu einem späteren Zeitpunkt keine Vermögenswerte beschlagnahmt werden können."

Jedoch sehen nicht die Justizsysteme aller Nationen dieses Problem in gleicher Weise. Letztes Jahr erwirkten die ehemaligen Investoren einen Gerichtsbeschluss in den Niederlanden, um das Vermögen zweier bekannter russischer staatlicher Wodkamarken, Stolichnaya und Moskovskaya, zu beschlagnahmen und Schadenersatz zu erhalten. Die Markenrechte waren erst einige Monate zuvor nach einem separaten Rechtsstreit mit einer privaten Firma um die Vermarktungsrechte an die russische Regierung übertragen worden. Eine anschließende Berufung kippte jedoch die Beschlagnahmung der Firmen durch die Aktionäre, wobei ein Gericht in Den Haag entschied, dass der Schritt illegal gewesen sei.

"Es war an der Zeit, dass diese leichtfertige Aktion, für die es keine Grundlage im Gesetz gibt, ein Ende findet", sagte Joris van Manen, ein Anwalt, der die staatlichen Unternehmen vertritt.

Er fügte hinzu, dass die Yukos-Aktionäre eine geplante Versteigerung der Markenrechte absagen müssten. Es wird erwartet, dass die quälenden juristischen Kämpfe, die auf beiden Seiten des Atlantiks ausgefochten werden, Anfang nächsten Jahres zu einem Höhepunkt kommen, wenn das niederländische Gericht sein endgültiges Urteil verkündet.

Es gibt jedoch keine Garantie dafür, dass Russland als Reaktion auf die astronomische Rechnung, die etwa so viel wiegt wie sein jährlicher Militärhaushalt, nicht zu drastischen Schritten greifen wird. Sollte dies der Fall sein, könnten Vermögensbeschlagnahmungen und sogar Sanktionen zur Debatte stehen.

In einer Rede vor einer nationalen Abstimmung über die Verfassung im letzten Jahr hat Präsident Wladimir Putin unmissverständlich erklärt, dass er inländische Gesetze für wichtiger hält als Entscheidungen aus dem Ausland – eine Position, die er manchmal mit den Oberhäuptern der USA und Chinas teilt. Er glaube, es sei an der Zeit, einige Änderungen vorzunehmen, "die direkt den Vorrang der russischen Verfassung in unserem rechtlichen Umfeld garantieren":

"Die Anforderungen des internationalen Rechts und der Verträge sowie die Entscheidungen internationaler Gremien können auf dem Territorium Russlands nur insoweit wirken, als sie keine Einschränkungen der Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers mit sich bringen und nicht im Widerspruch zu unserer Verfassung stehen", fügte Putin hinzu.

Nach der Abstimmung wurden Maßnahmen verabschiedet, die russisches Recht über Forderungen aus dem Ausland stellen. Es wäre nicht das erste Mal, dass Moskau darauf besteht, seine eigenen Gesetze über internationale Entscheidungen zu stellen. Anfang des Jahres hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) das Land aufgefordert, den inhaftierten Oppositionellen Alexei Nawalny freizulassen. Der Politblogger sitzt im Gefängnis, nachdem er für schuldig befunden worden war, gegen die Bedingungen einer dreieinhalbjährigen Bewährungsstrafe wegen Betrugs verstoßen zu haben.

In einer Erklärung teilte das Straßburger Gericht mit, dass "eine Kammer von sieben Richtern des Gerichtshofs entschieden hat, [...] der Regierung Russlands anzuzeigen [...], den Antragsteller freizulassen. Diese Maßnahme gilt mit sofortiger Wirkung". Das Justizministerium des Landes wies die Aufforderung jedoch zurück und sagte, sie sei "nicht durchsetzbar" und aus einer Reihe von Gründen beispiellos:

"Erstens ist dies eine klare und grobe Einmischung in die Aktivitäten der Justiz eines souveränen Staates. Zweitens ist diese Forderung unangemessen und rechtswidrig, da [...] sie keine einzige Rechtsnorm enthält, die es dem Gericht erlauben würde, eine solche Entscheidung zu treffen."

Der EGMR hatte zuvor versucht, die Verurteilung aus dem Jahr 2014 aufzuheben, aufgrund derer Nawalny ursprünglich verurteilt worden war und die sich auf einen Betrugsversuch mit der französischen Kosmetikfirma Yves Rocher im Jahr 2014 bezogen hatte. Auch hier ignorierte Russland das Schreiben und gab den Entscheidungen seiner eigenen Gerichte den Vorzug.

Es wäre jedoch falsch, Russlands Verhältnis zum Völkerrecht als ausschließlich konfrontativ zu charakterisieren. Obwohl das Land oft als konsequenter Verletzer ausländischer Entscheidungen dargestellt wird, beteiligen sich seine Diplomaten aktiv an der Gestaltung und Entwicklung globaler rechtlicher Rahmenbedingungen. Selbst während des Kalten Krieges waren sowjetische Delegierte maßgeblich an der Ausarbeitung einer Reihe von weltweit verbindlichen Abkommen beteiligt. Trotz lang anhaltender Gerüchte, dass das Land sich von der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zurückziehen könnte, glaubt es offensichtlich immer noch, dass durch ein Beibehalten mehr zu gewinnen sei.

Stattdessen scheint es, dass Russlands derzeitiger Ansatz darin besteht, sich so weit wie möglich auf internationales Recht einzulassen, ohne zuzulassen, dass Urteile seiner eigenen Gerichte dadurch gekippt werden, was als Untergrabung der heimischen Rechtsprechung wahrgenommen werden könnte.

Und das Land ist nicht allein mit seiner Abneigung, Souveränität im Austausch für ein ruhiges Dasein in diplomatischen Kreisen einzutauschen. Die USA haben sich zum Beispiel konsequent geweigert, die Mitgliedschaft im Internationalen Strafgerichtshof zu ratifizieren, der Kriegsverbrecher und Völkermörder verfolgt. Und das, obwohl sie sich selbst als führend auf dem Gebiet der Menschenrechte positionieren.

Demgegenüber haben Nationen wie Venezuela, Uganda und Kambodscha sich dem Internationalen Strafgerichtshof angeschlossen. In einer anderen Parallele zog sich Russland 2016 nach einem ungünstigen Urteil über die Halbinsel Krim aus dem Abkommen zurück.

Souveränität ist auch anderswo in Europa zu einem heißen Thema geworden. Eine Umfrage, die kurz nach dem Brexit-Referendum in Großbritannien veröffentlicht wurde, ergab, dass fast die Hälfte aller "Leave"-Wähler als wichtigsten Grund für ihre Entscheidung angaben, dass "Entscheidungen über das Vereinigte Königreich im Vereinigten Königreich getroffen werden sollten". Die Idee, dass nicht gewählte Beamte und Richter in Brüssel Entscheidungen aus der Ferne treffen, bildete eine effektive Angriffslinie für die Kampagne zur Abspaltung vom EU-Block.

Russland ist vielleicht nicht das einzige Land, das die Selbstbestimmung ganz oben auf die Tagesordnung setzen will, aber es verfolgt mit Sicherheit den offensten Ansatz. Während die Folgen der Ignoranz zum Beispiel gegenüber Entscheidungen des EGMR über Nawalny praktisch nicht existent waren, könnte sich die Entscheidung über die 57 Milliarden Dollar hohe Yukos-Rechnung im Westen aber als schwerwiegender erweisen.

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Übersetzt aus dem Englischen.

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