Kinder im Lockdown: Weggesperrt zum Schutz Erwachsener?
Ein Gastbeitrag von Susan Bonath
Corona ist kein Problem von Kindern und jüngeren Erwachsenen. Gefährdet sind Hochbetagte und schwer Vorerkrankte. Und zwar ausschließlich. Das ist im weniger repressiven Schweden genauso wie im dauer-gelockdownten Deutschland. Das zeigen – nicht erst seit gestern – alle Daten. Laut Statistischem Bundesamt starben in Deutschland in der vorletzten Kalenderwoche von 2020 rund 4.500 Menschen mehr als im gleichen Vorjahreszeitraum. Das Plus betraf ausnahmslos die Altersgruppe 70 plus. Die allermeisten davon – 86 Prozent waren es in Hessen – lebten in Pflegeheimen. Bei den unter 60-Jährigen ermittelten die Statistiker sogar eine Untersterblichkeit von gut fünf Prozent gegenüber 2019. Dennoch sollen Kinder, Jugendliche und ihre Eltern die Hauptlast der Pandemie tragen. Die Politik schlägt Warnungen in den Wind.
Kritik unerwünscht: Kanzlerin mit Beraterstab aus Fürsprechern
Angela Merkels Berater sind ausgewählte Experten, die sagen, was die Bundeskanzlerin hören will: Zero COVID, nieder mit dem Feind! Koste es, was es wolle. Kritiker der Maßnahmen-Politik, wie der ehemalige SARS-Forschungskoordinator der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Klaus Stöhr, ließ Merkel gar nicht erst zu. Mahner, darunter Psychologen und Kinderärzte, können noch so laut mahnen: Merkel ignoriert sie.
Die Kanzlerin umgibt sich mit wenigen Virologen, die den Aufbau von Viren beschreiben, mit einem Tierarzt als Leiter des Robert Koch-Instituts (RKI) und nun auch mit Physikern, die starre, theoretische Modelle mit fiktiven Bewegungsradien berechnen. Wenn sie vor die Kameras tritt, spricht sie von Menschen, als wären sie seelenlose Schachfiguren, die man beliebig wegsperren und steuern könne. Junge und Alte, Kinder, Jugendliche, Mütter und Väter, Omas und Opas: Es gibt nur noch Superspreader und Risikogruppen.
So kam es, dass man den ganzen Sommer über nichts gegen den Personalmangel in Pflegeheimen, Kliniken und Schulen getan hat. So geschieht es, dass betreuungsbedürftige Senioren an ihrem Lebensabend wie im Frühjahr in ihren Zimmern eingesperrt werden, schwere Depressionen und Thrombosen durch Bewegungsmangel als Folgen eingeschlossen. So verpuffte das Versprechen vom Sommer, die Schulen und Kitas nie wieder flächendeckend zu schließen, weil dies gigantische und langwierige Kollateralschäden bei den heute Jüngsten nach sich ziehen dürfte.
Merkel: "Lasse mir nicht anhängen, dass ich Kinder quäle."
Angela Merkel weiß das. Sonst wäre sie nicht nach dem Vorwurf der Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig (SPD), so in Rage geraten. Schwesig hatte ihr in der Beratungsrunde am Dienstag sinngemäß vorgeworfen, Merkel sei auf die Schulen fixiert, während sie die Konzerne schütze. Die Kanzlerin konterte: "Ich lasse mir nicht anhängen, dass ich Kinder quäle und Arbeitnehmerrechte missachte."
Doch genau das tut sie. Wenn sie das Wort Homeschooling in den Mund nimmt, mag in ihrem Kopf die Vorstellung von braven Jungen und Mädchen herumgeistern, die mit hochmotivierten Eltern im Hintergrund vor einer Videokonferenz mit Mitschülern und einer fröhlichen Lehrerin sitzen und in einem ruhigen, hübschen Zimmer eifrig lernen. Und dass die Kinder am Nachmittag zum Ausgleich mit ihrem einzigen erlaubten Freund vielleicht ein bisschen spielen – natürlich mit desinfizierten Händen, Abstand und Maske.
Glaube statt Evidenz soll Maßnahmen rechtfertigen
In einer solchen Fantasiewelt kinderloser, hochbezahlter Politiker mochte auch ihr Kanzleramtschef Helge Braun geschwelgt sein, als er das Ergebnis der Beratungen, die Präsenzpflicht in Schulen bis Mitte Februar auszusetzen, gegenüber den Sendern RTL und n-tv mit den Worten verteidigte:
"Wir müssen mit den Neuinfektionszahlen so schnell wie möglich runter, und deshalb müssen wir so viele Maßnahmen gleichzeitig durchhalten. Dazu gehört auch, dass die Schulen bis auf Weiteres geschlossen bleiben."
Braun begründete das mit der vor einigen Wochen in Großbritannien entdeckten "mutierten Virus-Variante". Es heiße, der Erreger breite sich bei Kindern ähnlich aus wie bei Erwachsenen, so Braun. Just Evidenz gibt es dafür bisher keine, nur angeblich "ernst zu nehmende Hinweise", wie der Kanzleramtschef mahnte. Leicht gefallen sei der Beschluss keineswegs, fügte er an. Man wisse, was er für Familien bedeute.
Mütter: Kinder betreuen, Lehrer spielen, von Arbeitslosigkeit bedroht
Dass Merkel, Braun und ihr Beraterstab darum besorgt sein könnten, was ein fortgesetzter Shutdown der Schulen für Familien aus dem "einfachen Volk" bedeutet, darf stark bezweifelt werden. Sonst würden sie die bittere Realität nicht permanent und penetrant ignorieren.
Ein Beispiel aus dem Umfeld der Autorin, einer Kleinstadt in Sachsen-Anhalt mit knapp 20.000 Einwohnern, soll dies verdeutlichen. Die gefühlte Hälfte der weiblichen Bevölkerung dort malocht bei Hermes, einer hundertprozentigen Tochterfirma des Otto-Versandes, für wenig Geld. Es gibt spezielle Muttischichten für fleißige Packerinnen mit Kindern unter zehn Jahren. Homeoffice gibt es nicht. Die Pakete können nicht warten, ganz besonders in Corona-Zeiten. Und die Notbetreuungsplätze reichen nicht für alle Grundschüler und Kita-Kinder. Ist keine Oma in der Nähe, der Vater auf Montage oder gar nicht da, wird es schnell eng. Der Arzt wird um Krankschreibung ersucht, der Jahresurlaub beantragt, die Kündigung droht. Da draußen warten Tausende Arbeitslose. Vor allem die Mütter tauschen mit ihnen die Plätze.
Die Mär vom "Homeschooling"
Wenn denn wenigstens das Homeschooling funktionieren würde. Das tat es schon im letzten Frühjahr nicht, das tut es bis heute nicht. Das Online-Lernportal Moodle ist immer wieder down, sobald die Zugriffsraten steigen. Videokonferenzen mit Lehrern gibt es nicht. Sie scheitern schon am schlechten Internet vielerorts im Einzugsgebiet. Insbesondere ärmeren Familien mangelt es an technischer Ausstattung. Niemand in der Schule hat den Kindern beigebracht, mit dem Programm umzugehen. Auch viele Lehrer tun sich damit schwer. Und ja, es gibt nicht wenige Eltern aus der arbeitenden Klasse, die zwar zupacken, alles mögliche reparieren und WhatsApp-Nachrichten verschicken können, aber noch nie eine E-Mail verschickt haben.
Die Lösung: Die Schulen verschicken an viele Kinder die Aufgaben mit der Post in riesigen Stapeln. Können Eltern oder Großeltern nicht helfen, sollen die Kleinen sich den Stoff allein erarbeiten. Und das vielleicht mit ein, zwei weiteren Geschwistern in einer viel zu engen Wohnung. Das kann vielleicht mal zwei, drei Tage klappen, nicht aber über Wochen oder Monate. Kurzum: Es existiert kein Homeschooling, wie es Kanzlerin und Konsortium herbeifantasieren. Viele künftige Drittklässler würden "weder richtig lesen können noch die Buchstaben kennen", blickte der Chef des Kinderhilfswerks Arche, Bernd Siggelkow, zu Wochenbeginn in die Zukunft. Er warnte vor längeren Schulschließungen. Auf ihn hört die Politik aber nicht.
Ihre Abschlussprüfungen müssen ältere Schüler trotzdem schreiben. Die Rede ist bereits von einem "Corona-Abitur" mit herabgesetzten Anforderungen. Klausuren wurden bei wenigen Präsenz-Gelegenheiten seit März 2020 nach weitgehendem Selbststudium der Schüler gerade noch so durchgedrückt. Wer das nicht packte, hatte Pech. Schule und Abitur seien "zu einem Lottospiel geworden", brachte es eine Berliner Elternsprecherin vorige Woche im RBB auf den Punkt. Im Klartext: Die Prüfungsvorbereitungen für aktuelle Abschlussklassen sind ausgefallen. Es gab schlicht nichts dergleichen. Die Frage bleibt: Was können Betroffene später einmal mit ihrem Corona-Abschluss anfangen?
Politik ignoriert Warnungen von Kinderärzten und Psychologen weiter
Derweil füllen sich die Kinder- und Jugendpsychiatrien. Immer mehr Kinder seien mit Depressionen, Angst- und Zwangsstörungen in Behandlung, warnten Therapeuten und Ärzte am Dienstag in der Neuen Westfälischen. Sie sprachen von einem "deutlichen Patientenanstieg", ausgelöst durch "Einsamkeit, Isolation und Unsicherheit". Auch Eltern und andere Erwachsene treffe dies vermehrt, mahnte am Wochenende ein Arzt aus Schleswig-Holstein im NDR.
Es gibt starke Anzeichen für eine Zunahme von Kindesmissbrauch und -misshandlungen, wie aus zahlreichen Berichten der letzten Wochen und Monate hervorgeht. Der beratenden Expertenrunde im Kanzleramt fehle es an Praxiswissen, kritisierte der Generalsekretär der Deutschen Akademie für Kinder-und Jugendmedizin (DAKJ), Hans-Iko Huppertz, am Mittwoch in der Neuen Osnabrücker Zeitung (NOZ). Er sei "entsetzt" von den weiteren Schließungsbeschlüssen und warnte vor "schlimmen gesellschaftlichen Folgen".
Dabei erkrankten Kinder "nur sehr selten schwer an COVID-19", und es gebe keinen Beweis dafür, dass Schulen oder Kitas "Treiber der Pandemie" seien, mahnten die Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) und die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH) in einer Stellungnahme vom Montag. Allein um andere zu schützen, seien die zu erwartenden "gravierenden Kollateralschäden", etwa durch mehr Konflikte in Familien auf engem Raum und psychische Probleme bei Kindern, nicht hinnehmbar, so die Autoren. Gehört wurden sie nicht. Die Kinder bleiben weggesperrt – zum Schutz Erwachsener.
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