Stahlknechts Fall: Konflikte und Seilschaften hinter dem Streit in der CDU

Die Entlassung von Holger Stahlknecht als Innenminister von Sachsen-Anhalt schlug hohe Wellen. Teile seiner Partei, der Opposition und der Medien werfen dem CDU-Mann moralisches Versagen vor. Tatsächlich geht es um Machtkämpfe innerhalb politischer Seilschaften.
Stahlknechts Fall: Konflikte und Seilschaften hinter dem Streit in der CDUQuelle: www.globallookpress.com © Jacob Schröter via www.imago-images.de

Ein Gastbeitrag von Susan Bonath

Ein Blick aus Stahlknechts Heimatkreis auf das Geschehen zeigt: Die Eskalation kam für viele unerwartet. Und doch spielt selbst die Opposition dabei keine untergeordnete Rolle, denn überraschend war sie für langjährige Beobachter des politischen Geschehens nicht: Seit Monaten spitzte sich in Sachsen-Anhalts Landesregierung ein Streit um die Erhöhung der Rundfunkgebühren zu. Die SPD und die Grünen sind dafür, die CDU teils dagegen, teils dafür, die monatlichen Zwangsabgaben von 17,50 auf 18,36 Euro zu erhöhen. CDU-Ministerpräsident Reiner Haseloff befürwortet die Erhöhung. Seine Anhänger sind damit aber in der Minderheit. 

Koalitionsfrieden 

Um seine Fraktion und die Koalition gleichermaßen zu besänftigen, laviert Haseloff seit Wochen zwischen nein und vielleicht. Die Gangart seines Fraktionskollegen, dem nunmehr zurückgetretenen Landesvorsitzenden und ehemaligen Innenminister, Holger Stahlknecht, ist eine härtere: In einem Interview mit der regionalen Tageszeitung Volksstimme wollte er "Nägel mit Köpfen" machen: Die CDU bleibe beim Nein – und sei es um den Preis der Koalition, erklärte der Hardliner.

Stahlknecht, Jurist und Militärliebhaber, brachte sogar eine Minderheitsregierung der CDU bis zu der im Juni kommenden Jahres geplanten Neuwahl des Landtags ins Spiel. Möglich wäre dies nur mit Tolerierung durch die AfD. Zusammen haben beide Parteien eine Mehrheit im Parlament, die übrigens seit 2016 schon öfter zum Tragen kam. So setzten CDU und AfD zum Beispiel 2017 eine Enquete-Kommission durch, die seither unter dem Vorsitz der AfD – nahezu ohne Erfolg – zum Thema "Linksextremismus" ermitteln soll. 

Haseloff, ein Meister der warmen Worte und bürokratischen Vernunft, des Austarierens und Wahrens des gutbürgerlichen Gesamtbildes seiner Partei, kritisierte schon damals den als AfD-nah geltenden Stahlknecht-Flügel. Der 86-Cent-Streit brachte nun wohl das Fass zum Überlaufen: Der schwer kontrollierbare, für seine Ausschweifungen nach Rechtsaußen bekannte Innenminister musste weg – jetzt oder nie. 

Den schönen Schein wahren 

Die AfD nutzt den Konflikt in der CDU für sich, seit sie vor viereinhalb Jahren mit gut 24 Prozent der Stimmen ins Parlament eingezogen ist. Ob für die Einberufung der Enquete-Kommission "Linksextremismus" oder Asylgefängnisse, oder gegen ein alternatives Hausprojekt, diverse soziale Vorhaben und die lange überfällige, weitere Aufklärung dreier mutmaßlicher Morde im Polizeirevier Dessau: Stimmen aus der CDU waren der AfD fast immer sicher. 

Stahlknecht selbst ließ sich von Versuchungen nur allzu gern locken. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Ende 2016 löste er einen Sturm der Entrüstung aus, als er plante, mit dem Vordenker der Neuen Rechten, Götz Kubitschek, auf einem Podium im Landestheater Magdeburg zu diskutieren. Im letzten Jahr eckte Stahlknecht an, als er einen Rechtsaußen-Hardliner zum Staatssekretär in seinem Innenministerium machen wollte: den Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) Rainer Wendt. 

Der politische Richtungskampf zieht sich durch die gesamte CDU. Immer wieder flogen in den letzten Jahren Parteifunktionäre auf, die in mutmaßlich neofaschistischen Verbünden – wie dem Verein Uniter e.V. – zugange waren oder rassistischen Populismus betrieben. Kurzum: Der 86-Cent-Streit war die Spitze eines Eisberges, den Haseloff zu überdecken versuchte und Stahlknecht immer wieder frontal rammte. 

Gleichwohl geht es in Sachsen-Anhalt nicht wirklich um einen ideologischen Streit. Viel zu ähnlich sind sich die beiden tendenziell antisozialen Oberschichts-Parteien CDU und AfD. Den Christdemokraten um Haseloff dürfte es vor allem um den schönen Schein gehen – und darum, die vermutlich nicht kleine Wählerschaft gutbürgerlicher Konservativer nicht zu vertreiben. 

Einen besonderen Blick verdient die Rolle der Koalitionspartner und auch die der linken Opposition. Abgesehen davon, dass es wenig solidarisch mit den Ärmeren ist, den Rundfunk-Beitrag weiter in die Höhe zu treiben: Die aktuelle Empörung über Stahlknecht aus den Reihen der SPD, Grünen und Linkspartei ist nur eine weitere Entrüstungswelle in Dauerschleife. Egal, ob im Fall Kubitschek, Wendt oder diverser gemeinsamer Abstimmungen mit der AfD: Die Koalitionspartner SPD und Grüne drohten immer wieder mit einem Ende des Regierungsbündnisses, die Linksfraktion mahnte moralisch. Wahr wurden die Drohungen nie gemacht. 

Gewachsener Filz 

Das Kleben an den Stühlen der Regierungsmacht ist bei näherer Betrachtung jedoch nicht das einzige Motiv für die substanzlose Entrüstung. Es geht in diesem ostdeutschen Bundesland um 30 Jahre lang parteiübergreifend gewachsene Seilschaften unter dem Dach einer auf Landesebene und vor allem auf kommunaler Ebene dauerhaft dominanten CDU. Um das zu verstehen, ist ein Blick in die Geschichte nötig. 

Im Land Sachsen-Anhalt gelang der CDU nach dem Niedergang der DDR sofort der Aufstieg. Bis 1994 regierte sie zusammen mit der FDP. Sie sah ungerührt zu, wie die NPD in den Wirren der Nachwendezeit einen Großteil der Jugendarbeit an sich riss. Das neue Bundesland wurde zum Hotspot rechtsextremer Gewalt. Jeder Ausländer, Punk oder sich als Linker zu erkennen Gebende musste mit brutalen Überfällen auf offener Straße rechnen. Hetzjagden auf Andersdenkende und Überfälle auf alternative Jugendclubs waren an der Tagesordnung. Im Mai 1992 ermordeten Neonazis in Magdeburg – quasi unter den Augen der überforderten Polizei – den 23jährigen Linken Torsten Lamprecht. 

Die kurze Periode einer von der Linke-Vorgängerin PDS tolerierten Minderheitsregierung ab 1994 – zuerst aus SPD und Grünen, zuletzt von den Sozialdemokraten allein gestellt – rüttelte auf kommunaler Ebene wenig am Erfolg der CDU. Sie gab sich wirtschaftskompetent, warb für Privatisierungen öffentlicher Einrichtungen und für die Aufrüstung des heute europaweit modernsten Truppenübungsplatzes in der Altmark. Wer nicht ganz arm war und auf Vorteile spekulierte, stellte sich gut mit den Christdemokraten. 

"Einheitspartei der Vernünftigen"

In dieser Zeit, Mitte der 1990er Jahre, trat der Niedersachse Stahlknecht in Magdeburg als Staatsanwalt an – und in die CDU ein. Seine politische Karriere begann mit seiner Wahl 2002 zum Landtagsabgeordneten. Zugleich punktete er – in seinem Wahlkreis CDU-Kreisvorsitzender – als Freund des Kindersports. Sein lächelndes Konterfei machte im Lokalteil der Volksstimme die Runde. Im Innenministerium legte er einen steilen politischen Aufstieg hin. Als er 2011 Innenminister wurde, verwunderte das niemanden. 

Neben einem nicht kleinen Anteil Westdeutscher fanden sich in der CDU von damals viele ehemalige DDR-Parteibonzen, meist aus den sogenannten Blockflöten-Parteien, aber auch aus der SED selbst. Kaum anders sah es in der SPD und der PDS als Vorgängerin für Die Linke aus. Man kannte sich von früher, traf sich zum Stammtisch, klüngelte in Stadträten und Gemeindeparlamenten um Posten und Aufträge, kurzum: Die Seilschaften von früher nahmen die Annehmlichkeiten politischer Posten und Pöstchen gemeinsam mit. 

Die enge Verbundenheit von CDU, SPD und Linkspartei ist deshalb ein Phänomen in vielen ostdeutschen Regionen. Auch in Stahlknechts Wahlkreis, der westlich von Magdeburg gelegenen Börde, sind Landratsamt und Stadtverwaltungen seit 1990 mit Günstlingen dieses Klüngels besetzt. In der Kreisstadt Haldensleben spricht der Volksmund seit vielen Jahren von einer "GroKo" – allerdings einer "großen Koalition aus CDU, SPD und Linkspartei". Die steht zwar nicht auf dem Papier geschrieben. Aber gelebt wird sie ausgiebig, gerne unter dem Deckmantel der "Sachpolitik". Es ist der Filz einer "Einheitspartei der Vernünftigen". Wer ihn aufbrechen will, hat schlechte Karten.

Bürokrat versus Selbstdarsteller

Holger Stahlknecht hat ein Talent, das Haseloff fehlt: Er ist rhetorisch gewandt. Er weiß sich darzustellen, als Gastgeber, als "bürgernaher" Sportsfreund, als Kümmerer um kleinere Provinzprobleme und als einer, der die Emotionen kleiner Grundbesitzer im Dorf aufzugreifen weiß. 

Gegen die Selbstdarstellungskünste des Westdeutschen wirkt der in der DDR sozialisierte und studierte Physiker Reiner Haseloff wie ein grauer Bürokrat. Still und leise arbeitete er sich als Beamter hoch. 2002 ergatterte er einen Posten als Staatssekretär im Wirtschaftsministerium des Landes, vier Jahre später wurde er dort Minister. Unter seiner Aufsicht geschahen nicht nur zwei millionenschwere Fördermittelskandale, sondern auch einer der größten Müllskandale der Bundesrepublik, der 2008 endlich vom ZDF-Magazin Frontal ans Tageslicht befördert wurde. Ein Sumpf aus illegalen Genehmigungen für illegale Müllgeschäfte aus dem Hause Haseloff tat sich auf. Verknackt wurde auf politischer Ebene nur ein ehemaliger Landrat. Als Parteiloser gehörte der nicht zum Klüngel. 

Der "86-Cent-Streit" in der CDU Sachsen-Anhalts, der mit dem Sturz des rhetorisch gewandten westdeutschen Aufsteigers einen Höhepunkt fand, ist mitnichten ein Zoff um die Zusammenarbeit mit der AfD. Die gab es vorher und wird es danach wohl auch weiter geben. Es geht um die Selbstdarstellung gewachsener, parteiübergreifender Seilschaften. Es geht um Wähler und Posten, um gemeinsame "Leichen im Keller" und diverse Vorteile. Und letztlich schwelt wohl unterschwellig auch der alte Ost-West-Konflikt mit.

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