ESM-Reform und Rechtsstaatsklausel: Attacke der EU auf die Souveränität der Nationalstaaten
von Gert Ewen Ungar
Auf der Ebene der EU gab es kürzlich zwei Ereignisse, die zunächst unabhängig voneinander erscheinen, die aber zusammen gedacht werden müssen, um sie in ihrer Tragweite zu verstehen.
Auf der einen Seite wird die Bankenunion vertieft und der ESM reformiert. Banken können künftig einfacher abgewickelt werden. Ab 2022 soll der SRB vom ESM gestützt werden, wodurch die Abwicklung von in Schieflage geratenen Banken abgesichert werden soll. So weit, so gut. Der Spiegel verkündete dazu: "Damit die Eurozone noch besser gegen Krisen gewappnet ist, haben sich die Finanzminister der Euro-Gruppe auf eine Reform geeinigt." Das ist schön formuliert, an der Realität aber leider völlig vorbei. Denn wie keine andere Region war die Eurozone praktisch nicht gegen die vergangene Finanzkrise gewappnet, die Kriseninstrumente wurden eilig zusammengezimmert und sind in ihrer faktischen Ausgestaltung zur Krisenbekämpfung kaum in der Lage. Ihre Anwendung erlaubt dagegen den Durchgriff auf die Souveränitätsrechte der einzelnen Nationalstaaten.
Die zweite Nachricht war, dass Ungarn und Polen ihre Zustimmung zum mehrjährigen Finanzrahmen der EU verweigerten, damit auch der Corona-Wiederaufbaufonds vorerst nicht zur Verfügung steht. Stein des Anstoßes ist für beide Länder der europäische Rechtsstaatsmechanismus, der künftige Zahlungen der EU an die Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit, Achtung der Menschenrechte und Demokratie bindet. Das klingt erst mal gut und sinnvoll, ist aber bei genauerer Betrachtung eine Provokation und gefährlich. Wir werden gleich sehen, warum.
Der mediale Mainstream ist sich jedenfalls darin einig, dass sich die beiden Staaten lediglich aufgrund ihrer autoritären Tendenzen dem Mechanismus verweigern. Wer keine autoritären Bestrebungen verfolgt, könne ohne Bedenken zustimmen, wird suggeriert, schließlich ist die EU "wertebasiert". Wie so oft ist die Realität etwas komplexer, als es die deutschen Medien ihren Zuschauern vermitteln.
Als Hintergrundinformation für das Folgende ist wichtig, dass sowohl Polen als auch Ungarn keine Mitglieder der Eurozone sind. Polen benutzt weiterhin den Złoty, Ungarn den Forint als nationale Währung.
Ursprünglich war geplant, dass Ungarn 2010 und Polen 2013 dem Euro beitreten. Doch dann kam 2008 die Finanzkrise. Beide Termine sind geplatzt, beide Länder streben einen Beitritt zum Euro nicht mehr an. Ungarn gab den Wechselkurs des Forint frei, der daraufhin abgewertet hat. Auch der Złoty ist nicht an den Euro gebunden und notiert vergleichsweise schwach. Das hat vielerlei Effekte, verteuert unter anderem Importe insbesondere aus der Eurozone und aus Deutschland, stärkt aber die inländische Wirtschaft. Die Unabhängigkeit vom Euro verschafft den Zentralbanken sowie der Wirtschafts- und Sozialpolitik beider Länder deutlich mehr Handlungsspielräume.
Denn auf der anderen Seite, im Euroraum, verfügt die Eurogruppe über eine enorm große Macht und baut diese auch beständig aus. Es wird jetzt leider ein bisschen trocken, aber es ist wichtig zu verstehen, wie die EU funktioniert, um zu einer Einschätzung ihres Anspruches zu kommen, es handele sich um eine wertebasierte Union, die demokratischen Prinzipien verpflichtet sei.
Die Eurogruppe ist ein faktisch informelles Gremium. In der Eurogruppe kommen die Finanzminister der Länder, die den Euro verwenden, der EU-Kommissar für Wirtschaft und Währung und der Präsident der EZB, regelmäßig zusammen und koordinieren dort die Finanz- und Wirtschaftspolitik der Euroländer. Das Gremium verfügt über eine enorme Macht und wird faktisch nicht kontrolliert. Es gibt kein Einspruchsrecht gegenüber den dort gefassten Beschlüssen, die Zusammenkünfte sind noch nicht einmal richtig formalisiert, geschweige denn ist die Eurogruppe demokratisch legitimiert. Einzig der Wahlprozess in den einzelnen Ländern legitimiert die Besetzung der jeweiligen Posten der Finanzminister. Überhaupt nicht demokratisch legitimiert sind die EU-Kommissare und die Direktoren der EZB. Beide Institutionen, Kommission und EZB, sind einem demokratischen Prozess völlig entzogen. Dennoch regelt diese Gruppe die Geschicke der Währungsunion in ihren zentralen Belangen.
Noch undemokratischer und intransparenter wird es allerdings, wenn man sich mit der Institution beschäftigt, die im Rahmen der Finanzkrise von den Regierungschefs der Eurogruppe ins Leben gerufen wurde: dem Europäischen Stabilitätsmechanismus, abgekürzt ESM.
Der ESM ist zunächst einmal ein Fonds, in den die Euroländer einzahlen, damit er am Finanzmarkt mit diesen Einlagen besichertes Geld aufnehmen kann. Der ESM hat die Aufgabe, mit diesem Geld in Zahlungsschwierigkeiten geratenen Staaten des Euroraums mit Krediten zu helfen. Diese Kredite sind an Auflagen gebunden. Zentrale Kritik ist, dass damit staatliche Souveränität ausgehebelt wird. Wenn ein Staat in Schieflage gerät, er sich daraufhin an den ESM wendet, bekommt der ESM weitgehende Eingriffsrechte in die nationale Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik.
Dabei ist die Logik insgesamt merkwürdig verschoben. Eigentlich soll der Markt mit seinen Mechanismen für Ausgabendisziplin der Länder sorgen. Je höher der Zinssatz, desto höher das Ausfallrisiko ist die eigentlich Logik, desto mehr müssen die Länder reformieren, um an einen niedrigeren Zinssatz zu kommen. Nun kann – Reformwillen hin oder her – durch Spekulation gegen ein Land der Zinssatz so weit steigen, dass er realistisch von einem Land nicht mehr bedient werden kann, weil dazu ein enormes reales Wachstum generiert werden müsste. Dann kommt der ESM ins Spiel. Er zwingt die Länder, das umzusetzen, was angeblich der Markt fordert. Argumentativ beißt sich die Katze hier in den Schwanz, die Brüsseler und vor allem deutschen Technokraten stört es allerdings nicht.
Dabei sorgen die Auflagen des ESM dafür, dass die Eurozone in ihrem Wachstum weit hinter andere, dynamischere Regionen der Welt zurückfällt, dass die Arbeitslosigkeit, vor allem die Jugendarbeitslosigkeit im Euroraum, anhaltend hoch ist, die Inflation weit unterhalb der vereinbarten Zielinflation von knapp unter zwei Prozent liegt und die Sozialsysteme, so unterschiedlich sie in den einzelnen Nationalstaaten der EU auch sein mögen, geschliffen werden. Der ESM dient vor allem der Durchsetzung der neoliberalen Ideologie an den Parlamenten vorbei. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn ein zentraler Punkt neoliberaler Ideologie lautet ganz schlicht: Der Staat ist schlecht, er muss eingedämmt und ausgehungert werden, denn er beschränkt Freiheit, vor allem die der Märkte. Die EU macht genau das mit den Nationalstaaten. Ein Kredit durch den ESM ist die Garantie dafür, dass mit dem erhaltenen Geld keinerlei Wachstumsimpulse durch staatliche Investitionen gesetzt werden dürfen.
Der ESM wurde nun reformiert. Damit aber wurden die Probleme und Schieflagen nicht etwa behoben, sondern noch vertieft. Künftig werden Kredite des ESM an die Gläubigerbeteiligung gebunden. Staatspleiten werden so vereinfacht. Generell ist es so, dass ein Staat in seiner eigenen Währung nicht pleitegehen kann. Die Länder der Eurozone verschulden sich jedoch in einer Fremdwährung, deren Regeln sie eben nicht mehr selbst gestalten können – dem Euro. Sie sind damit den Regeln des Finanzmarkts ausgesetzt, und alle Institutionen der EU arbeiten darauf hin, diesen Druck auf die Einzelstaaten möglichst aufrechtzuerhalten und auszuweiten.
Die im Euro versammelten Staaten sind im System ein Marktteilnehmer unter anderen, der natürlich auch pleitegehen können muss. Dass dies jetzt schneller und einfacher passieren kann, dafür sorgt die Reform des ESM. Unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten ist das absolut absurd, denn es ist völlig uneinsehbar, was mit der Pleite eines Staates erreicht werden soll. Es stellt keine in irgendeiner Weise sinnvolle Marktbereinigung dar. Sinnvoll ist diese Maßnahme nur, wenn man meint, mit der Drohung der Verelendung breiter Teile der Bevölkerung, die bei einem Staatsbankrott unzweifelhaft eintritt, wären die Staaten bereit, einen neoliberalen Kurs mitzutragen, bei dem die Verelendung nicht abrupt eintritt, sondern in einem verlangsamten Prozess vonstattengeht. Die Geschichte des Euro ist die Geschichte eines Wohlstandsverlusts derjenigen Länder, die den Euro verwenden. Ungarn und Polen sind aus guten Überlegungen dem Euro nicht beigetreten.
Mit dem Euro wird den Nationalstaaten eine Wirtschaftspolitik aufgezwungen, über die sie in Wahlen nicht mehr entscheiden können. Präzedenzfall war hierfür Griechenland. Dort wurde 2012 mit Syriza eine linke Regierung gewählt, die sich dezidiert gegen den Austeritätskurs und das Diktat der Eurogruppe zur Wehr setzte. In der Folge wurde Syriza allerdings dazu gezwungen, all ihre Positionen aufzugeben und als linke Partei die diktierte Politik der Eurogruppe umzusetzen. Mit dem ESM wurde diese durchweg antidemokratische Entwicklung institutionalisiert und werden die Parlamente entmachtet. Dabei spielt es auch keine Rolle, dass aktuell angesichts der wirtschaftlichen Auswirkungen des Lockdowns die Stabilitätskriterien ausgesetzt sind. Mit einem Kredit beim ESM gibt man nationale Souveränität auf.
Allerdings kann der ESM nur Druck auf die Länder des Euroraums aufbauen, und nur sie können mittels des ESM-Regimes zur Umsetzung neoliberaler Reformen gezwungen werden.
Nun sind aber zwei Länder aufgefallen, die sich mit einer sehr eigenständigen Politik nicht dem neoliberalen Regime unterwerfen. Diese Länder sind Ungarn und Polen. Nun mag man von deren LGBT- und Abtreibungspolitik halten, was man will, unstrittig hingegen ist, dass insbesondere Polen mit einer umverteilenden Sozial- und einer nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik inzwischen auf dem Weg ist, ein treibender Wirtschaftsmotor der EU zu werden. Polens wirtschaftlicher Einbruch durch die COVID-19-Pandemie ist weit geringer als im Euroraum, und die Wachstumsraten vor der Pandemie lagen beständig über denen der Eurozone. Polens währungspolitische Unabhängigkeit ist ein Erfolgsmodell.
Die Rechtsstaatsklausel, an die die Auszahlung von EU-Geldern nun gekoppelt werden soll, ist derart schwammig, dass bei Polen als auch Ungarn völlig zu Recht der Verdacht besteht, es ginge hier nicht um Rechtsstaatlichkeit, sondern um die Einführung eines restriktiven Regimes, mit dem unliebsame Regierungen abgestraft und auf Linie gezwungen werden sollen. Man mag mit vielen Entscheidungen, die in Polen und Ungarn getroffen wurden, nicht einverstanden sein, aber rechtsstaatlich sind sie allemal. Zumindest deutlich rechtsstaatlicher als das, was die EU macht. Und auch das Argument, Orbán sei so lange an der Macht, dass sich dort ein korruptes Regime etabliert habe, zieht nur bedingt. Auch in anderen europäischen Ländern gibt es Dauerregent*innen, mit denen die Medien und Eliten ein Auskommen gefunden haben, das alle Kennzeichen der strukturellen Korruption trägt.
So gibt es den begründeten Verdacht, es ginge hier um das Gegenteil von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Es geht um Durchgriffsmöglichkeiten der rechtstaatlich keiner Weise legitimierten Kommission auf demokratisch legitimierte Parlamente. Dass nun ausgerechnet deutsche Politiker und Medien diese Durchgriffsrechte massiv fordern, löst insbesondere bei Polen ganz ungute Erinnerungen aus, die allerdings völlig verständlich sind. Mit der Rechtsstaatsklausel wird der neoimperiale Charakter der EU deutlich sichtbar.
Es muss deutlich gesagt werden: Die EU ist auf einem ganz unguten Weg, denn gemessen an den eigenen Ansprüchen ist sie ein absolut autoritäres Regime, das die selbst proklamierten europäischen Werte Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Achtung der Menschenrechte mit Füßen tritt. Die Weigerung Polens und Ungarns, diesem Prozess zuzustimmen, ist angesichts der Geschichte der Länder nur zu verständlich. Und Deutschland sollte sich angesichts seiner Geschichte gut überlegen, gegen wen und auf welcher Grundlage es austeilt, schließlich ist Deutschland treibende Kraft in der EU. Wer diese Zusammenhänge versteht, bekommt vor dieser deutschen EU ziemlich Angst.
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