Meinung

Frankreich als konstante Zielscheibe des islamistischen Terrorismus

Der brutale Anschlag auf eine Kirche in Nizza reiht sich ein in eine lange Liste des Schreckens. Und doch verhält sich der Vorfall in dieser Zeit absoluter Unsicherheit anders. Ein Gastbeitrag der ehemaligen österreichischen Außenministerin Dr. Karin Kneissl.
Frankreich als konstante Zielscheibe des islamistischen Terrorismus© Asif Hassan

von Dr. Karin Kneissl

Der Attentäter von Nizza hat in der Kirche Notre-Dame-de-l'Assomption drei Menschen grausam ermordet, indem er ihnen die Kehle durchschnitt. Während er seine Opfer angriff, rief er laut "Allahu Akbar" (Gott ist groß). Er habe ein Dokument des Italienischen Roten Kreuzes bei sich getragen, das auf einen 1999 geborenen tunesischen Staatsbürger ausgestellt gewesen sei. Der Terrorist soll erst vor Kurzem aus Italien illegal nach Frankreich gelangt sein und habe nicht um Asyl ersucht. Zeitgleich wurde in Lyon ein ähnlicher Messerangriff, der ebenfalls von "Allahu Akbar"-Schreien begleitet war, von den Sicherheitskräften verhindert. Apropos, eine hohe Anzahl von Anschlägen wurde in Frankreich in den vergangenen Jahren vereitelt, darunter auch ein Angriff auf die Kathedrale Notre-Dame in Paris. 

Die lange grausame Chronologie des Terrorismus 

Doch die Liste der islamistisch motivierten Anschläge ist bedrückend lang und reicht bis in die 1980er-Jahre zurück. Im Herbst 1995 erschütterte eine Serie schwerer Bombenanschläge auf öffentliche Verkehrsmittel Paris. Es folgten minutiös geplante Anschläge von Dschihadisten, wie jene auf den Nachtclub Bataclan im November 2015, und der vielen einsamen Wölfe, die gemäß der IS-Vorgaben von 2014 sowohl Fahrzeuge als auch Messer gegen die sogenannten "Ungläubigen" einsetzen. Nizza war am Nationalfeiertag des 14. Juli 2016 Schauplatz eines Massakers, das ein Terrorist mit einem Lkw auf der dortigen Strandpromenade anrichtete. Nicht zum ersten Mal wurde in einer Kirche eine solche Tat verübt.

Die Skala der Täterprofile weist sehr unterschiedliche Radikalisierungsgründe auf: Einmal ist es der junge Nordafrikaner, Nachfahre von Zuwanderern, der sich abgehängt fühlt, auf die Republik und ihre Werte pfeift; ein anderes Mal ist es der radikalisierte Rückkehrer aus einem Kriegsgebiet, dann der Ex-Häftling, der erst hinter Gittern vom Autodieb zum radikalen Islamisten mutierte und so weiter. Der Mörder des Geschichtslehrers Samuel Paty war 18 Jahre alt. Seine Familie war vor 16 Jahren aus Tschetschenien nach Frankreich emigriert und hatte politisches Asyl erhalten.

Dieser Mord vor zwei Wochen ließ die Wogen in der Öffentlichkeit fast höherschlagen als die Ausgangssperre. Die Hinrichtung eines Lehrers wurde als Angriff auf die gesamte Republik gewertet. Hintergrund war offenbar der Unterricht zum Thema Meinungsfreiheit anhand von Islam-Karikaturen. Dieses Thema kennen wir aus Dänemark im Jahr 2006, als die damaligen Mohammed-Karikaturen zu einer internationalen Kampagne gegen das kleine Land führten. 

Erst fünf Monate nach Erscheinen der Zeichnungen in einer dänischen Provinzzeitung brannten von Niger bis Indonesien dänische Flaggen. Die Hetze gegen Dänemark war orchestriert, denn zunächst mussten all die dänischen Flaggen genäht werden, bevor sie demonstrativ vor den Kameras verbrannt werden konnten. Die gesamte skandinavische Diplomatie engagierte sich damals mittels "Toleranz-Workshops" von Kairo bis an den Persischen Golf für eine Entspannung, um wieder gesalzene dänische Butter in die Regale der arabischen Supermärkte zu bekommen. Frankreich ist eine viel interessantere Zielscheibe. 

Der Hass auf Frankreich

Frankreich ist auch ehemalige Kolonialmacht in der arabischen Welt, und Paris versteht sich bis heute als besonderer Akteur im Nahen Osten. Die französische Politik mischt in Syrien ebenso intensiv mit, wo so mancher diplomatische Vorstoß am Widerstand der Franzosen leider scheiterte, wie auch Paris die sogenannte humanitäre Intervention vom März 2011, die bald zum Regime-Change-Angriff auf Muammar al-Gaddafi wurde, verantwortet. Wenn nun selbst Staaten wie Katar, mit denen Frankreich sehr innige Beziehungen unter anderem im Waffenhandel unterhält, französische Waren boykottieren, dann ist etwas fatal schiefgelaufen.

Frankreich bietet bei allen exzellenten Anti-Terror-Maßnahmen wie dem Plan Vigipirate eine große Angriffsfläche. Wenn Frankreich die republikanischen Werte betont, die rigide Trennung von Politik und Religion, dann können viele Menschen, egal welchen Glaubens, ob im In- oder Ausland, wenig damit anfangen. Das Konzept des Laizismus ist wahrlich eine französische Besonderheit, das in dieser Form heute sonst nirgendwo mehr praktiziert wird. Dieser stark säkulare Charakter des Landes wird hochgehalten, er hat auch zu allen Zeiten religiös verfolgte Menschen als Exilanten angezogen. Mich persönlich hat dieses Konzept stets fasziniert, da ich die Vermengung von Politik und Religion kritisch sehe. 

Das Erbe der Französischen Revolution und damit diese strenge Trennung von Staat und Kirche verstörte einst die Katholiken und heute Radikale unter den geschätzten sechs Millionen Muslimen in Frankreich. Die terroristische Auseinandersetzung auf dem französischen Staatsgebiet trägt immer mehr Züge eines aufkeimenden Glaubenskrieges. Nicht nur der Attentäter von Nizza wollte Christen töten, indem er in eine Kirche ging, wo einige Menschen vielleicht nur für ein kurzes Gebet verweilten. Dieses Motiv ist leider immer öfter zu beobachten.

Auf der anderen Seite wird der Begriff der Islamophobie für jegliche Form der Kritik am Islam instrumentalisiert, bedauerlicherweise von Akademikern wie Regierungen gleichermaßen. Frankreich ist hierbei ein besonders ambivalenter Schauplatz. Auf der einen Front wird eine grenzenlose Meinungsfreiheit in Anspruch genommen, auf der anderen werden religiöse Gefühle nur allzu oft für eine Opferrolle instrumentalisiert. Diese Fronten könnten sich angesichts der großen wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen, die sich nun mit dem zweiten landesweiten Lockdown anbahnen, nur verhärten.

Der Terrorismus im Lockdown

Es wäre nun hoch an der Zeit, in der zerrissenen Republik, wo die Nerven blank liegen, mit Respekt aufeinander zuzugehen und nicht weiter zu polarisieren. Präsident Emmanuel Macron weiß mit seinem relativ neuen harten Kurs gegenüber den Islamisten, die von so mancher Partei lange verharmlost wurden, die Mehrheit der Franzosen hinter sich. Er will ähnlich wie alle Politiker Wählerstimmen maximieren und diese nicht an die Rechten verlieren.

Da ist das Thema Islamismus und dessen Bekämpfung wie in einem für Anfang Dezember geplanten Gesetz über den "islamistischen Separatismus" ein Terrain voller Spannungen. Nun hat der neue Lockdown begonnen, der sich bis Weihnachten hinziehen könnte. Wie die Bürger das hinnehmen, ob so mancher den Bankrott seines kleinen Betriebs einfach akzeptiert, kann niemand vorhersehen. Doch meines Erachtens bahnen sich große soziale Verwerfungen an, die für diese terroristische Auseinandersetzung zusätzlich Munition bieten. Zudem werden in diesen Wochen auch zahlreiche verurteilte Islamisten, die ihre Strafen abgebüßt haben, das Gefängnis verlassen. Hinzu kommen die illegalen Migranten dieser Zeit, die sich von Hassbotschaften angestachelt auf einen Anschlag vorbereiten.

Wenn Menschen zu Terroristen werden, hat dies aber zu allen Zeiten auch folgendes Motiv: Sie wollen ihrem unbedeutenden Leben eine Bedeutung geben. Dieses Motiv ist meines Erachtens nicht zu unterschätzen. Vor allem in einer Ära, in der sehr viele junge Männer, aber auch Frauen, auf der Suche nach Status sind, den ihnen weder der Arbeitsmarkt noch eine Gemeinschaft wie ein Sportverein aufgrund des Lockdowns bieten kann. Mit weiteren Horrortaten ist leider zu rechnen, wenngleich so mancher Entscheidungsträger im Sinne eines aufeinander Zugehens über seinen eigenen Schatten springen könnte.

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Dr. Karin Kneissl lebt und arbeitet derzeit in Frankreich. Sie ist Nahostexpertin und ehemalige parteilose Außenministerin von Österreich.

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