Meinung

Arbeitskampf: Bund provoziert Arbeitnehmer – Arbeitgeberangebot zynisch

Die aktuellen Tarifverhandlungen können wegweisend sein. Der Bund hat Verdi ein beschämendes Angebot vorgelegt, das zeigt, dass er die Zeichen der Zeit nicht versteht. Gerade jetzt bedarf es im öffentlichen Dienst kräftiger Lohnerhöhungen.
Arbeitskampf: Bund provoziert Arbeitnehmer – Arbeitgeberangebot zynischQuelle: www.globallookpress.com © Bodo Marks/dpa

von Gert Ewen Ungar

Vor einigen Tagen ärgerten sich viele Berufstätige über die Warnstreiks der Beschäftigten im öffentlichen Dienst. Weitere Streiks sind geplant. Der Ärger über diese Zumutungen ist verständlich. Aber wichtig ist zu verstehen, welche Bedeutung dieser Arbeitskampf angesichts der politisch verursachten Wirtschaftskrise durch den Lockdown hat. Es geht nicht nur um Löhne, sondern auch um Weichenstellungen, mit denen festgelegt wird, ob Deutschland prosperiert oder ob den Deutschen und den Bürgern der EU ein weiteres verlorenes Jahrzehnt wie nach der Finanzkrise von 2008 ins Haus steht.

Seit der letzten Krise bleiben Deutschland und die Euro-Zone hinter der weltweiten wirtschaftlichen Entwicklung zurück. Es gibt eklatante strukturelle Schwächen, die die wirtschaftliche Entwicklung hemmen. Eine dieser Schwächen ist das geringe Wachstum der Löhne in Deutschland und im Euro-Raum. Das mag für Konsumenten des Mainstreams zunächst ungewöhnlich klingen, weil diese Perspektive, insbesondere in Deutschland, aktuell kaum abgebildet wird. Zur Kenntnis zu nehmen, dass es eine andere Perspektive, eine Alternative zum ökonomischen Mainstream gibt, und dass deren Vertreter über gute Argumente verfügen, ist daher umso wichtiger für eine breite gesellschaftliche Debatte über die wirtschaftspolitische Ausrichtung Deutschlands. 

Es stehen sich zwei widerstreitende Sichtweisen gegenüber, von denen sich die erste in den letzten Jahren in der Politik und den Medien des Mainstreams als maßgeblich durchgesetzt hat. Denkt man einzelwirtschaftlich und nimmt den Blickpunkt einzelner Unternehmen ein, ist es verständlich für den Faktor Arbeit, möglichst wenig bezahlen zu wollen. Das macht die Produkte und Dienstleistungen billiger und verschafft einen Wettbewerbsvorteil vor jenen, die höhere Löhne bezahlen müssen. Denn in der Regel nimmt der Kunde bei gleicher Qualität das Produkt mit dem geringeren Preis. Wenn jemand von einem freien Markt, der alles regeln würde, spricht, meint er genau diesen Mechanismus. Ein freier, unregulierter Markt hat ein Interesse an möglichst niedrigen Löhnen und drückt diese entsprechend seiner inhärenten Logik nach unten.

Durch den politisch angeordneten Lockdown angesichts der Corona-Pandemie brach die Nachfrage auf breiter Front ein. Was wäre da sinnvoller, als nun die Löhne zu senken, um damit auf die Preise einzuwirken, damit der Absatz weiter gewährleistet ist und so Arbeitsplätze gesichert werden können?

So ziemlich alles, ist die Antwort aus einer anderen Perspektive. Denn dieser einzelwirtschaftlichen Sicht steht nämlich eine breitere, gesamtwirtschaftliche Sicht gegenüber. Diese besagt, dass die Einkommen der Arbeitnehmer immer auch die Gewinne der Unternehmen sind. Das Absenken des Lohnniveaus dämpft die Nachfrage und setzt eine Spirale der wirtschaftlichen Abwärtsbewegung in Gang. Eine Erhöhung der Einkommen erhöht die Nachfrage, lastet Produktionskapazitäten aus und würde im Endeffekt wieder Inflation erzeugen und so Deutschland und den Euro-Raum aus seinem deflationären Abwärtstaumel befreien. Lohnzurückhaltung erzeugt im Gegenteil Arbeitslosigkeit, die sie eigentlich zu bekämpfen vorgibt.

Der logische Schluss lautet: Ein Währungsraum kann sich nicht aus einer ökonomischen Krise heraussparen. Es braucht unter anderem Nachfrage, und Nachfrage generiert man über real steigende Löhne.

Nun stellt sich die Frage, wie man Unternehmen in der Krise dazu bewegt, höhere Löhne zu zahlen. In diesem Zusammenhang wird die doppelte Bedeutung des öffentlichen Dienstes deutlich. Er ist nämlich nicht nur Dienstleister und Versorger gegenüber den Bürgern, sondern hat als großer Beschäftigungssektor die Möglichkeit, Lohn- und damit Konjunkturimpulse zu setzen. Als staatlicher Akteur steht ihm die entsprechende finanzielle Feuerkraft zur Verfügung. Steigt der Verdienst im öffentlichen Dienst deutlich, fördert das die Erwartung der Unternehmen, durch die höhere Kaufkraft vermehrt absetzen zu können.

Damit erhöht sich deren Bereitschaft, höhere Löhne zu zahlen und Beschäftigung auszuweiten. Der Aufschwung wird selbsttragend, die wachsenden Steuereinnahmen refinanzieren den staatlich gesetzten Konjunkturimpuls. So lässt sich über eine kräftige Lohnerhöhung tatsächlich die Konjunktur anschieben und wieder auf Wachstumskurs schicken.

Dieses ökonomische Wissen, das uns nach dem Zweiten Weltkrieg das Wirtschaftswunder und einen jahrzehntelangen Aufschwung brachte, ist durch die neoliberale Gegenrevolution im öffentlichen Diskurs kaum noch vertreten. Umso wichtiger ist es, es angesichts der Krise jetzt wieder zu aktivieren. Mit Sparrunden und Lohnzurückhaltung kommen wir nicht aus der Krise, sondern hängen uns weiter von der weltweiten Entwicklung ab.

Neben diesem konkreten, theoretisch gut fundierten Argument für substantielle Lohnsteigerungen gibt es noch weitere, die für eine Erhöhung sprechen. Es wurde in den vergangenen Monaten, insbesondere zu Beginn der Corona-Pandemie, viel über systemrelevante Berufe geredet. Es gab Lob. Solidarität und Dankbarkeit wurden bekundet. Im Bundestag wurde für die Beschäftigten geklatscht. Diese Anerkennung blieb aber nur symbolisch. Das kostet nichts. Viele dieser systemrelevanten Berufe sind Berufe im öffentlichen Dienst. Es ist an der Zeit, dass die politisch Verantwortlichen ihre Solidaritätsbekundungen nicht nur durch symbolische Aktionen äußern, sondern auch durch konkrete Wertschätzung der erbrachten Leistungen in Form von Lohnerhöhungen. Es liegt am Bund, dies umzusetzen, denn er ist der Tarifpartner.

Das Angebot, das die Arbeitgeber bisher aber vorgelegt haben, ist in keiner Weise ausreichend. Es lässt sich im Gegenteil als zynische Verhöhnung der Arbeitnehmer verstehen. Geboten wurde eine auf drei Jahre gestreckte Erhöhung um 3,5 Prozent und eine Einmalzahlung. Gleichzeitig soll es künftig die Möglichkeit geben, Mitarbeiter in ihren Lohngruppen herabstufen zu können. Mit anderen Worten: Der Arbeitsdruck soll erhöht werden, der Lohn allerdings faktisch nicht. Im Gegenteil.

Legt man die Zielinflationsrate von knapp unter zwei Prozent als Maßstab an, die unter anderem auf deutschen Wunsch und deutsches Drängen in die Verträge der EU geschrieben wurden, strebt die Arbeitgeberseite in dieser Lohnrunde ein deutliches Lohnminus an. Wieder mal, muss man sagen. Die Arbeitgeberseite allerdings ist nicht völlig anonym und hat ein Gesicht. Es ist Bundesinnenminister Horst Seehofer, der hier den Bund repräsentiert und mit am Verhandlungstisch sitzt. Es liegt an ihm, die Weichenstellung für Deutschlands Zukunft und die des Euro-Raums vorzunehmen. Es wäre nämlich nicht nur für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, sondern auch für den Währungsraum des Euro ein wichtiges Signal, sollte sich der deutsche Innenminister zu Verhandlungen bereit erklären, die dieses Inflationsziel ernst nimmt.

Dann sind jedoch nur Angebote von weit über zwei Prozent mit einer Laufzeit von einem Jahr möglich. Zwei Prozent plus Produktivitätszuwachs ist die goldene Regel. Es wäre zumindest ein deutliches Signal auch in Richtung EU, wenn ein Deutscher in verantwortlicher Position so viel Einsicht in ökonomische Zusammenhänge zeigen würde, dass sich die Inflation nicht nur aus der Geldmenge ergibt, die die EZB zur Verfügung stellt, sondern es dazu auch entsprechender Lohnzuwächse bedarf.

Alles unter zwei Prozent auf Jahressicht verhöhnt daher nicht nur die Beschäftigten im öffentlichen Dienst, sondern auch die Partner in der EU, insbesondere die der Währungsunion. Da Deutschland die letzten Jahre auf Kosten seiner Währungspartner gelebt hat, bleibt unter dem Gesichtspunkt der Vernunft und der europäischen Solidarität nur, sich auf ein sehr kräftiges reales Lohnplus zu einigen. Die Botschaft muss sein: Gönnt euch was! Schnallt den Gürtel wieder weiter! 

Natürlich kann mit einer Tariferhöhung für den öffentlichen Dienst nicht die ganze Schieflage in Deutschland und dem Euroraum korrigiert und die anhaltende Wachstumsschwäche, unter der die Eurozone seit nunmehr über einem Jahrzehnt leidet, überwunden werden. Aber es wäre zumindest ein erstes Signal, dass man inzwischen in Deutschland in der Lage ist, wirtschaftspolitische Zusammenhänge zu verstehen und nicht länger die Absicht hat, die Währungspartner über niedrige Löhne und eine ausschließlich auf Export orientierte Wirtschaft ökonomisch zu fleddern. Es ist an der Zeit, dies gerade angesichts der ökonomischen Krise umzukehren, die ideologischen Scheuklappen abzulegen und in dieser Hinsicht der vollmundigen Solidaritätsbekundungen Taten folgen zu lassen. Die Partnerländer der Währungsunion werden es anerkennen.

Aber auch im Inland gibt es viel zu tun. Alle wirtschaftspolitischen Entscheidungen wurden spätestens seit der Agenda 2010 immer gegen die Interessen der Mehrheit und zugunsten von kleinen, aber finanzstarken Lobbygruppen getroffen. Diese Entscheidungen haben regelmäßig die Nachfrage gedämpft, waren daher wirtschaftspolitisch falsch. Es wurden Löhne gesenkt, die Tarifbindung in vielen Bereichen aufgehoben oder ausgehöhlt, die Rentenformel geändert und mit einer Verarmungsgarantie für künftige Rentner ausgestattet. Den angeblichen wirtschaftlichen Erfolg der letzten Jahre haben die Arbeitnehmer bezahlt. Der Standard ist in Deutschland gesunken.

Der Aufschwung der letzten Jahre hat nicht dazu geführt, dass Deutschland zu einer umfassenden wirtschaftlichen Stärke zurückfindet, von der alle gesellschaftlichen Schichten gleich profitieren. Die Bevorzugung von wirtschaftlichen Einzelinteressen vor dem Interesse der Allgemeinheit bringt aber die Gesellschaft unter Druck und sorgt für ihren Zerfall. Das war der Fehler aller Regierungen seit Schröder. So ist der aktuelle Zustand Deutschlands eben auch prekär. Es bedarf hier dringend einer Korrektur. Die Skepsis der Deutschen gegenüber der Bundesregierung, in welcher Zusammensetzung auch immer, hat in der einseitigen Berücksichtigung von Einzelinteressen, die konträr zu den Interessen der Gesamtgesellschaft stehen, ihre Ursache. Die aktuellen Verhandlungen mit Verdi ermöglichen es dem Bund, ein Zeichen zu setzen und seinen Willen zur Korrektur der vergangenen Fehlentwicklungen zu zeigen.

Für die Bürger in Deutschland aber ist wichtig zu verstehen, der Arbeitskampf bei Verdi mag zu Unannehmlichkeiten im Alltag führen, aber er dient auch denjenigen, die nicht im öffentlichen Dienst arbeiten – er dient allen. Dieser Arbeitskampf kann zu einem der wichtigsten der letzten Jahre werden. Vorausgesetzt, Verdi knickt nicht wieder ein und gibt sich mit deutlich weniger zufrieden, als wirtschaftspolitisch sinnvoll ist. Leider war das bei den letzten Tarifverhandlungen allzu oft der Fall. Den Arbeitnehmern im öffentlichen Dienst seien die Daumen gedrückt. Es hängt in mehrerlei Hinsicht viel von ihnen ab.

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