Norbert Röttgen: Nawalny-Affäre ist ein Lackmustest für Europa
von Pierre Lévy
Wird Norbert Röttgen der nächste Bundeskanzler? Der derzeitige Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages macht keinen Hehl aus seinen Ambitionen, auch wenn seine Chancen im Moment eher gering sind. Er ist zweifellos einer der Kandidaten im Kampf um die Nachfolge von Angela Merkel als CDU-Chefin auf dem für Dezember geplanten Kongress. Und er versäumt es nicht, sich um sein Image im Ausland zu kümmern, wie sein jüngstes Interview mit der französischen Tageszeitung Le Monde zeigt.
Röttgen gilt als Ultra-Atlantiker und bestätigt das Bild, das er nach außen tragen will: das eines harten Kerls. So verteidigt er in Wirtschaftsfragen beharrlich den Stabilitätspakt, der die Staaten der Eurozone in ewige Sparsamkeit zwingt, um das Überleben der gemeinsamen Währung zu sichern. Zwar ist der Pakt, der insbesondere jedes Land verpflichtet, ein Haushaltsdefizit von weniger als drei Prozent einzuhalten, derzeit aufgrund der COVID-19-Pandemie ausgesetzt. Der französische Staatssekretär für europäische Angelegenheiten vertrat kürzlich die Auffassung, dass der Pakt niemals wieder in Kraft gesetzt werden sollte.
Zu diesem Punkt befragt, ruft Röttgen den französischen Minister zur Ordnung auf: Die Situation und die Sondermaßnahmen "dürfen kein Vorwand sein, den Grundsatz einer stabilen Finanzpolitik aufzugeben, dem Deutschland – und das betrifft nicht nur die CDU – sehr verbunden bleiben wird". Ein deutlicher Hinweis für diejenigen, die noch Zweifel gehabt haben könnten.
Aber selbstverständlich rückt der Vorsitzende des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten des Bundestages die internationale Politik in den Mittelpunkt. Er stellt fest, dass "die 'Ausrichtung' [französisch: 'le pivot'] der Vereinigten Staaten auf Asien, die von Clinton und Obama initiiert wurde, endlich Realität werden wird, unabhängig vom Ausgang der US-Wahlen". Diese "Ausrichtung auf Asien" bedeutet, dass Washington eher Asien als Europa ein vorrangiges Interesse beimisst.
Weit davon entfernt, sich dadurch beleidigt zu fühlen, schließt der christdemokratische Politiker daraus: "Die Vereinigten Staaten werden von den Europäern erwarten, dass sie ihre Verantwortung gegenüber ihren Nachbarn wahrnehmen" – ohne zu präzisieren, welche göttliche Autorität "Europa" mit dieser "Verantwortung" betraut hat). Mit anderen Worten: Nach dem (relativen) Rückzug von Uncle Sam wird die EU in ihrer Nachbarschaft – im Süden und vor allem im Osten – für Ordnung sorgen müssen, notfalls wohl auch mit Gewalt. Und damit dies geschieht, "muss sich Europa unbedingt als geopolitische Macht behaupten", hämmert Röttgen.
Röttgen rühmt sich auch, zur Veränderung der Positionen seiner Partei und der Kanzlerin beigetragen zu haben. Im Fall Nawalny – des russischen Oppositionellen, den Wladimir Putin nach Ansicht der EU-Chefs gern ermordet hätte – begrüßt er die Tatsache, dass die deutsche Regierung als Vergeltungsmaßnahme die Aussetzung des Baus der Gaspipeline Nord Stream 2 nicht ausgeschlossen hat. Diese Option wird zwar zur Zeit nicht weiterverfolgt, aber Herr Röttgen war einer der Ersten, der sie vorgeschlagen hat, was umgehend auf Zustimmung vonseiten vieler Politiker stieß. Die Kanzlerin hatte diese Option nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Das sei neu und gut, jubelt der Kandidat.
China bringt er die gleiche Liebe entgegen. Röttgen erinnert daran, dass er schon sehr früh – zunächst zwar vergeblich – darum gebeten hatte, die chinesische Firma Huawei vom Einsatz von 5G auszuschließen, bevor diese Forderung schließlich in einen in Vorbereitung eines heutigen Gesetzentwurfs aufgenommen wurde.
Auf die Frage nach der Art der Koalition, die das Land nach den für September nächsten Jahres geplanten Wahlen regieren könnte, zeigt er sich nicht gerade begeistert für eine Erneuerung des derzeitigen Bündnisses mit den Sozialdemokraten, da er diese für schuldig hält, "die Rückkehr des Militarismus bei der geringsten Gelegenheit anzuprangern". Auf der anderen Seite ist er erfreut, dass "die Grünen sich auf diese Fragen neu orientiert haben. In Bezug auf Russland oder China zum Beispiel liegen ihre Positionen oft recht nahe an unseren".
Schließlich verschont derjenige, der davon träumt, Kanzler zu werden, den französischen Partner nicht. Demnach reagierte Frankreich in der Nawalny-Affäre "im Vergleich zu Deutschland zu zaghaft. Diese französische Passivität ist bedauerlich, denn die Affäre ist ein Lackmustest für Europa, das, wenn es gegenüber Russland Gewicht haben will, eine kohärente Strategie haben muss". Allgemeiner ausgedrückt:
Emmanuel Macron lag falsch, einen 'strategischen Dialog' mit Russland vorzuschlagen.
Zugegeben, "es ist normal, dass Frankreich und Deutschland nicht immer genau die gleichen Positionen verteidigen", räumt Röttgen ein. Es sei jedoch zu bedauern, dass "die Unterschiede in letzter Zeit größer geworden sind". Und zum Schluss, schulmeisterhaft und drohend: "Wenn jedes Land seine eigene Politik betreibt, ist Europa in Gefahr."
Dass jedes Land darüber nachdenken sollte, seine eigene Politik zu bestimmen und zu verfolgen? Welch ein Alptraum, welch eine Absurdität, welch ein Skandal! Glücklicherweise hat Europa ein wachsames Auge ...
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