Meinung

New-START-Rüstungsabkommen: US-Weigerung ebnet den Weg zum kollektiven Selbstmord

Erklärungen des leitenden US-Rüstungskontrollbeauftragten Marshall Billingslea verdeutlichen: Die USA verschreiben sich einem nuklearen Wettrüsten frei von Vorbelastung durch den New-START-Vertrag. Doch dieses Rennen können weder die USA gewinnen noch diese Welt überleben.
New-START-Rüstungsabkommen: US-Weigerung ebnet den Weg zum kollektiven SelbstmordQuelle: Gettyimages.ru © Roger Viollet

von Scott Ritter

In einer Äsop, dem altgriechischen Dichter von Fabeln und Gleichnissen, zugeschriebenen Fabel treffen ein Skorpion und ein Frosch am Ufer eines Flusses aufeinander. Der Skorpion bittet den Frosch, ihn auf die andere Seite zu bringen. Der Frosch lehnt die Bitte des Skorpions ab – aus Angst, dass der Skorpion ihn auf halber Strecke stechen und töten könnte. Der Skorpion entgegnet, dass dies bedeuten würde, dass beide sterben würden, und dies als solches daher unlogisch wäre. Der Frosch erklärt sich daraufhin bereit, den Skorpion auf die andere Seite zu bringen. Doch – wie er befürchtet hatte – sticht der Skorpion ihn und schickt so ihn und auch sich selbst in den Tod. Bevor er untergeht, fragt der Frosch den Skorpion, warum er das getan hat. Worauf der Skorpion antwortet: "Weil es in meiner Natur liegt."

Auf diese Fabel wird in der Einleitung meines Buches 'Scorpion King: America's Suicidal Embrace of Nuclear Weapons from FDR to Trump'  (dt. etwa: "König der Skorpione: Geschichte selbstmörderischer Liebe Amerikas zu Atomwaffen – von Roosevelt bis Trump") verwiesen. Es erschien im vergangenen Frühjahr, als noch die Hoffnung bestand, dass die gegenwärtige US-Regierung zur Vernunft zurückkehren und einer fünfjährigen Verlängerung des letzten noch in Kraft befindlichen Rüstungskontrollvertrags New START zustimmen würde, der den nuklearen Ambitionen der Vereinigten Staaten und Russlands Schranken setzte.

Jüngste Äußerungen von Marshall Billingslea, dem Sondergesandten des US-Präsidenten für Rüstungskontrolle, in einem Interview mit der russischen Zeitung Kommersant haben deutlich gemacht, dass die Trump-Administration nicht die Absicht hat, eine Verlängerung des New START-Vertrags anzustreben, der im Februar 2021 ausläuft.

Zunächst einmal erklärte Billingslea, dass die USA nicht die im Vertrag vorgesehene automatische Verlängerung um fünf Jahre anstreben, sondern vielmehr eine "Absichtserklärung" – ein Memorandum von weniger als fünf Jahren Gültigkeitsdauer, in welchem den Russen ein Vorschlag zum "kaufen wie gesehen" unterbreitet wird: Entweder sie akzeptieren ein Abkommen, das keinerlei Beschränkungen für NATO-Nuklearwaffen vorsieht, oder die USA werden ein Programm zur nuklearen Modernisierung ohne Beschränkungen durch jegliche Rüstungskontrollabkommen in Angriff nehmen. Darüber hinaus habe Russland bis zu den US-Präsidentschaftswahlen im November Zeit, das Abkommen zu akzeptieren – sonst, so drohte Billingslea, werde "nach der Wiederwahl von Trump wird die 'Eintrittsgebühr' steigen – wie wir in den Vereinigten Staaten sagen".

Es überrascht also nicht, dass das US-Ultimatum – als welches es Russlands stellvertretender Außenminister Sergei Rjabkow völlig richtig einordnete – von Russland rundheraus abgelehnt wurde. Rjabkow gab zu verstehen: "Wir [, Russland,] können in diesem Ton nicht reden." Er stellte fest, dass die US-Position letztlich die Chancen der beiden Staaten, sich über die Verlängerung von New START zu einigen, deutlich verringerte.

Neben der Festlegung inakzeptabler Bedingungen in Bezug auf das Nukleararsenal in den NATO-Staaten wurde das Beharren der USA auf trilateralen Verhandlungen sowohl von Russland als auch von China ebenfalls als ein Rohrkrepierer abserviert. Gerade dieser Versuch, den bilateralen New-START-Vertrag in ein trilaterales Abkommen umzuwandeln, hat die Aussichten auf eine Verlängerung von New START praktisch zunichte gemacht – und daher der Aussicht auf ein erneutes Wettrüsten Tür und Tor geöffnet. Und das, wohlgemerkt, zu einem Zeitpunkt, da sowohl die USA als auch Russland die Entwicklung fortschrittlicher strategischer Atomwaffen verfolgen. Dieser Aspekt der Realität schien Billingslea allerdings mitnichten zu beunruhigen – er stellte nur fest, dass

Russland die Modernisierung seines Atomwaffenarsenals weitgehend abgeschlossen hat. Mit der unsrigen fangen wir gerade erst an. Und wir werden sie mit größter Freude ohne die Beschränkungen durch den START-Vertrag fortsetzen.

Die meisten Rüstungskontroll-Experten sind sich nahezu einig, dass eine Verlängerung des New-START-Vertrags einen wesentlichen Schritt zu einem Mindestmaß an Stabilität darstellen könnte, was die nuklearstrategischen Doktrinen sowohl der USA als auch Russlands anbelangt. Dies gilt insbesondere in der heutigen Zeit, in der sich die Beziehungen zwischen diesen beiden Nationen auf breiter Front verschlechtert haben. Die Entscheidung der Trump-Regierung, sich im August 2019 aus dem INF-Vertrag (Washingtoner Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme) zurückzuziehen, brachte das strategische Gleichgewicht zwischen den USA und Russland bereits in noch größere Gefahr: Denn durch die Abschaffung von Mittelstreckenflugkörpern aus Europa, die Moskau innerhalb weniger Minuten nach ihrem Abschuss treffen könnten, trug der INF-Vertrag dazu bei, die Schwelle für einen umfassenden Atomkonflikt zwischen den USA und Russland deutlich anzuheben.

New START ist die letzte verbleibende Beschränkung für strategische Nuklearwaffen der USA und Russlands, sowohl hinsichtlich ihrer Anzahl als auch ihres Vernichtungspotenzials. Sollte nun auch dieser Abrüstungsvertrag noch auslaufen, würden sowohl die USA als auch Russland die Indienststellung fortschrittlicher neuer Systeme vorantreiben, einschließlich neuer nuklear bewaffneter Hyperschallflugkörper. Das würde wiederum die Standards in der jeweiligen Doktrin zum Nuklearwaffeneinsatz beider Staaten, die ohnehin bereits permanent haarscharf an einem Alarmzustand vorbeimanövrieren, nur noch weiter verschärfen. 

Wir könnten nun durchaus an einem Zeitpunkt angekommen sein, von dem später in den Geschichtsbüchern stehen wird, dass er der Wendepunkt in Bezug auf die Durchführbarkeit des amerikanischen Demokratieexperiments war – als man in seinem Rahmen versuchte, ein unnötiges nukleares Wettrüsten zu finanzieren, und zwar zur denkbar unpassendsten Zeit, als nämlich die durch Jahre der Vernachlässigung geschwächte und durch die Belastungen der COVID-19-Pandemie zusätzlich zersplitterte Wirtschaft und Gesellschaft der USA bereits am Rande ihres Zusammenbruchs stand. Die Trump-Regierung sah sich bereits gezwungen, die Verteidigungsausgaben für das Jahr 2021 aufgrund der durch die Pandemie verursachten Belastungen des Gesamtbudgets zurückzufahren. Die unbekümmerte Haltung von Billingslea zur Finanzierung des kommenden Wettrüstens – "wir können es uns leisten" – spiegelt nicht die Realität wider.

Die US-Wirtschaft befindet sich in einer Phase grundlegender Neuausrichtung, sowohl ihre interne Funktionsweise als auch ihre Schnittstellen mit dem Rest der Welt betreffend. Die sozialen Erfordernisse einer Wirtschaft, die nur durch massive staatliche Stimulierungsmaßnahmen funktionieren kann, sowie eines Gesundheitssystems, das für viele US-Amerikaner nur noch dem Namen nach existiert, können nicht durch endlose Kreditaufnahmen finanziert werden, vor allem, wenn einer der größten Besitzer und Käufer US-amerikanischer Staatsanleihen – China – in einen Handelskrieg gegen die USA verwickelt wird, in dem es ausgerechnet um das Loswerden der besagten US-Schulden geht.

In sehr naher Zukunft werden die US-Politiker mit einer Art existenzieller Krise konfrontiert sein, mit der alle Imperien beim Niedergang schließlich konfrontiert werden – wenn nämlich gänzlich unabhängig von jeglichen getroffenen Entscheidungen nichts mehr getan werden kann, um sich aus dem Schlamassel herauszuziehen, den man eigenhändig herbeigeführt hat. Die Vorstellung, dass der US-Kongress unter diesen Bedingungen weiterhin eine neue Generation strategischer Atomwaffen finanzieren wird, scheint absurd. Das bedeutet dennoch nicht, dass die Krise abgewendet ist – weit gefehlt.

Wie schrieb ich im Schlusskapitel von 'Skorpion King':

Die Welt arbeitet sich ihrem Irrglauben ab, dass die Vereinigten Staaten ein rationaler Akteur sind und daher nicht zu der Art von irrationalen Handlungen neigen, die zu einem allgemeinen nuklearen Austausch und so zum Weltuntergang führen könnten. Doch die verfügbaren Fakten erlauben eine solche Schlussfolgerung nicht. Die beiläufige Art und Weise, in der sich die Vereinigten Staaten von der Last verbindlicher Verträge und Vereinbarungen zur nuklearen Rüstungskontrolle befreit haben und sich gleichzeitig auf ein nukleares Wettrüsten einlassen, bei welchem die zu beschaffenden Waffen als eine arbeitsfähige Komponente der US-amerikanischen militärischen Machtprojektion angesehen werden, legt die Vermutung nahe, dass den Vereinigten Staaten die Rolle vom Skorpion bei Äsop wie angegossen passt.

Wenn man sich die Vorstellung zu eigen macht, dass die Sicherheit der USA auf einer neuen Generation von Kernwaffen beruhe, die nicht durch die durch Rüstungskontrollabkommen auferlegten Beschränkungen eingeschränkt ist, verschärft die Möglichkeit, diese Waffen zu beschaffen, aufgrund des sozialen und finanziellen Zusammenbruchs nur noch jene Bedrohung nur noch, die durch diese Waffen abgewendet werden sollte. Es spielt dabei gar keine Rolle, dass eine solche Bedrohung nicht existiert: Hier baut die Wahrnehmung ihre eigene Realität auf – und die Wahrnehmung derjenigen, die – wie Billingslea – für neue Atomwaffen eintreten, besagt eben dennoch, dass eine solche Bedrohung existiere.

Wie der Frosch bei Äsop wird der Rest der Welt mehr als wahrscheinlich versuchen, den Vereinigten Staaten zu helfen, die vor ihnen liegenden unruhigen Zeiten zu meistern. Und wie der Skorpion bei Äsop werden die Vereinigten Staaten diese Freundlichkeit sehr wahrscheinlich mit einer unverantwortlichen Militärpolitik belohnen, die ihre eigenen sozialen und wirtschaftlichen Schwächen ausgleichen soll, und so einen Atomkonflikt auszulösen, der sie selbst und den Rest der Welt zerstört.

Weil es in unserer Natur liegt.

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Übersetzt aus dem EnglischenScott Ritter ist ein ehemaliger Offizier für Aufklärung der US-Marineinfanterie. Er diente den USA in der Sowjetunion als Inspektor für die Umsetzung der Auflagen des INF-Vertrags, während des Zweiten Golfkriegs im Stab von General Norman Schwarzkopf und war danach von 1991 bis 1998 als Waffen-Chefinspekteur bei der UNO im Irak tätig. Derzeit schreibt Ritter über Themen, die die internationale Sicherheit, militärische Angelegenheiten, Russland und den Nahen Osten sowie Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung betreffen.

 

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