Wem nutzt die Vergiftung Nawalnys? Die von westlichen Medien und Regierungen nie gestellte Frage
Von Dmitri Babitsch
Obwohl Nawalny in den Kreisen der russischen Opposition durchaus eine herausragende Stellung einnimmt, fanden mehr als einer Woche nach Nawalnys Vergiftung keine Protestaktionen statt oder waren geplant. Tatsächlich streiten selbst die schärfsten Kritiker der russischen Regierung immer noch untereinander und legen verschiedene Versionen der Ereignisse vor.
Natürlich gibt es viele "Interessengruppen" in Russland wie auch außerhalb des Landes, die durchaus daran interessiert sein könnten, Nawalny mit einem solchen Skandal von der politischen Bühne zu entfernen, daher rührt auch diese Debatte.
Die westlichen Regierungen scheinen sich jedoch sicher, dass die Version der Geschichte, die Moskau am gründlichsten zum Teufel verdammt, die richtige sei – und sprechen schon jetzt lediglich von den "Konsequenzen", die sich daraus ergeben sollen.
Man fragt sich, woher diese westliche Solidarität kommt – nur wenige Stunden nach der Eilmeldung aus Deutschland? Die NATO-Verbündeten, von der deutschen Regierung selbst bis hin zu den Regierungen der Vereinigten Staaten und des Vereinigten Königreichs, sowie ihre Unterstützer stellten sich, die Reihen fest geschlossen, rasch hinter dieses selbige Narrativ.
"Highly likely" mit deutschem Akzent
Die deutsche Regierung erklärt, dass "kein Zweifel" daran bestehe, dass Nawalny durch eines der Nervengifte der Nowitschok-Gruppe vergiftet worden sei – ohne allerdings Beweise von deutschen Ärzten vorzulegen.
Da diese spezielle chemische Waffe in der westlichen Presse als russische Spezialität bezeichnet wird (auch wenn sie keine ist), zeigten westliche Regierungen überschnell mit dem Finger auf Moskau – und ignorierten dabei die Möglichkeit, dass es auch andere mögliche Täter geben könnte. Der britische Premierminister Boris Johnson fällte über Twitter ein endgültiges Urteil über die Situation. Er nannte es "empörend, dass eine chemische Waffe gegen Nawalny eingesetzt wurde" – und erinnerte an die unendliche Geschichte der Vergiftung der Skripals im englischen Salisbury im Jahr 2018.
"Wir haben um die tödlichen Folgen von Nowitschok im Vereinigten Königreich aus erster Hand erfahren", schrieb er. Er forderte, die russische Regierung müsse "jetzt genau erklären", was mit Nawalny passiert ist.
Das Problem ist, dass bis heute weder die britische noch irgendeine andere Öffentlichkeit "aus erster Hand" wirklich weiß, was in Salisbury geschehen ist – denn die Journalisten, die über den Fall berichten, hatten nie Zugang zu Sergei und Julia Skripal.
Darüber hinaus hat sich die britische Regierung nie die Mühe gemacht, zu erklären, warum sie die auf wundersame Weise überlebenden "Opfer" eines, wie sie es nannten, "russischen Chemiewaffenangriffs" nicht mit Reportern sprechen ließen.
Trotz alledem sprachen damals die französische, die italienische und andere NATO-Regierungen alle in der gleichen Weise. Sie forderten von Moskau eine "transparente Untersuchung" und ließen keinen Zweifel daran, bei wem ihrer Meinung nach die Schuld lag. Die französische Regierung erwähnte sogar eine "gemeinsame europäische Antwort" unter Einbeziehung der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW).
Die Ähnlichkeit des Falles Nawalny mit früheren und nach wie vor unbewiesenen Vergiftungsanschuldigungen scheint westliche Politiker und Medien nicht zu stören.
Irgendwie wiederholt sich das gleiche Muster der Ereignisse in den letzten zwei Jahrzehnten mit russischen Journalisten oder prominenten Oppositionellen, die zufällig im Westen besondere Sympathie für ihre Kritik an der russischen Regierung genießen.
Die Dissidenten Anna Politkowskaja und Wladimir Kara-Mursa berichteten ebenfalls, jeweils in den Jahren 2004, 2015 und 2017 von "Putins Agenten" "vergiftet" worden zu sein – doch aus irgendeinem Grund hat das Gift sie in all diesen Fällen irgendwie nicht getötet (ebenso wenig wie es Nawalny getötet hat). Was das "Gift" jedoch in all diesen Fällen bewirkte, waren Skandale in der Anti-Putin-Presse. Wladimir Kara-Mursa verdächtigte sogar ausgerechnet den US-amerikanischen Geheimdienst FBI, mit Moskau beim "Vertuschen" seiner "Vergiftung" unter einer Decke zu stecken – und reichte eine Klage gegen das FBI ein.
Reiner Zufall? – Reinster Hohn!
Die offensichtliche Frage lautet: Warum geschehen diese Vorfälle ausgerechnet jetzt, wo Russland gerade dabei ist, ein wichtiges Geschäft abzuschließen, beziehungsweise dann, wenn es ein vielversprechendes Projekt mit seinen westlichen Partnern startet?
Seit Monaten widersetzt sich die deutsche Regierung den US-amerikanischen Versuchen, die Umsetzung des Nord-Stream-Projekts zur Lieferung von russischem Pipeline-Erdgas nach Deutschland aufzuhalten. Und nun plädieren einige Stimmen dafür, das Großprojekt wegen der beiden neuen Zauberworte abzubrechen: "Nawalny" und "Nowitschok".
Genauso kamen auch die Medienberichte über den kritischen Zustand von Anna Politkowskaja (sie wurde zwei Jahre nach dem Versuch, sie zu vergiften, erschossen) nur wenige Stunden vor einem Treffen zwischen Putin und Kanzlerin Merkel auf. Wem nützen solche Zufälle? Doch sicherlich nicht Putin.
Die Frage hängt in der Luft: Was hat das russische Erdgas damit zu tun? Doch nur wenige sind bereit, sie laut zu stellen, während sich die gleiche Geschichte in neuer Form wiederholt. Cui bono? Zu wessen Nutzen geschieht es? Eine rhetorische Frage, natürlich.
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Übersetzt aus dem Englischen. Dmitri Babitsch, 1970 in Moskau geboren, arbeitet seit 25 Jahren für verschiedene Medien. Dazu gehören unter anderem die Moscow News, die Nachrichtenagentur RIA Nowosti und Sputnik International. Gegenwärtig ist er Redakteur des Internet-Medienprojekts InoSMI, und ein häufiger Gast bei BBC, Al Jazeera und CNN, wo er Geschichte und internationale Angelegenheiten kommentiert.
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