US-Gefängnisse als Epizentrum in der Corona-Krise: Eine Ärztin berichtet
Zwischen den New Yorker Stadtteilen Queens und Bronx im Hafengebiet liegt Rikers Island, eine Gefängnisinsel, die auch als das "neue Alcatraz" bezeichnet wird. Hier sind zehn Justizvollzugsanstalten angesiedelt. Nur eine Straße über eine Brücke führt zu den Anlagen. Sie trägt den Namen "Brücke des Schmerzes". Bis zu 17.000 Männer und Frauen sitzen dort ein. Die meisten Menschen können keine Kaution hinterlegen, haben gegen Bewährungsauflagen verstoßen und verbüßen Haftstrafen von weniger als einem Jahr. 80 Prozent sollen drogenabhängig sein.
Am 28. August meldeten die USA 5.883.686 positiv getestete Personen. 180.728 Menschen sollen im Zusammenhang mit der COVID-19-Erkrankung gestorben sein. Gefängnisse und Haftanstalten wurden in der Pandemie zum Epizentrum. Gegenüber RT Deutsch schildert die Ärztin Illya Szilak, die im berüchtigten Rikers tätig ist, wie es sich anfühlt, an dem Coronavirus erkrankt zu sein und welche Maßnahmen im Gefängnis ergriffen wurden. Es kam zu einigen vorzeitigen Entlassungen, Massenentlassungen blieben allerdings aus. Über 1.000 Vollzugsbeamte wurden positiv getestet. Das in der Corona-Pandemie empfohlene "Social Distancing" (zu Deutsch: "soziale Distanzierung") ist allein dann möglich, wenn Gefangene als Strafe in Einzelzellen verlegt werden. Dann müssen sie dort 23 Stunden am Tag ausharren. Der Freigang ist nur auf wenige Meter begrenzt.
Sie arbeiten als Allgemeinmedizinerin in der Justizvollzugsanstalt Rikers. Sie selbst infizierten sich mit dem Virus. Können Sie beschreiben, wie sich dies angefühlt hat?
In New York gerieten die Dinge schnell aus den Fugen, außer Kontrolle. Die Leiter der Justizvollzugsanstalt versuchten, Protokolle zu erarbeiten, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Die Ratschläge (...), insbesondere in Bezug auf die Notwendigkeit des Tragens einer normalen Maske und der Verwendung von N95-Masken wie das Testen von Patienten auf das Virus und die Anweisungen für Justizvollzugsangestellte, ließen auf sich warten. Es fühlte sich ziemlich chaotisch an. Mitte März begann ich damit, alle Insassen darüber aufzuklären, wie sie sich selbst schützen. In den Einrichtungen, in denen ich arbeite, hing ich Schilder auf, die darauf hinwiesen, wie man sich ordnungsgemäß die Hände wäscht. Das Tragen von Masken wurde von allen Mitarbeitern der Abteilung für Korrekturen (DOC) und medizinischem Personal empfohlen, aber nicht vorgeschrieben, außer bei engem Kontakt.
Ich hatte mir die SARS- und MERS-Studien angesehen und begann sehr vorsichtig zu sein, mit niemandem engen Kontakt zu haben, selbst nicht mit meinen Kindern. (...) Meine Kleidung zog ich an der Tür aus, wenn ich hereinkam, ich packte sie in Taschen und desinfizierte alle Oberflächen. Ich begann sogar damit, eine Maske im Freien zu tragen, und schickte meine Kinder zu ihrem Vater. Ende März wurde ich krank, vier Tage nachdem ich zahlreiche positiv getestete Patienten behandelt hatte. Es war nicht überraschend. Es fühlte sich furchtbar an. Ich hatte leichte Kopfschmerzen, leichtes Fieber und war so erschöpft, dass ich 22 Stunden am Tag schlief. Nach einer Woche fühlte ich mich besser, aber dann – innerhalb von 24 Stunden – fühlte ich mich wieder sehr krank und hatte Husten. Ich hatte gelesen, wie man beatmete Patienten in Bauchlage lässt, also schlief ich mehrere Stunden am Tag auf dem Bauch liegend. Ich war so krank, dass ich mich nicht einmal testen lassen konnte. Ich schaffte es kaum aus dem Bett. Dann endlich, am 14. Tag, fühlte ich mich besser. Ich blieb noch eine Woche zu Hause, um sicherzustellen, dass ich keinen Rückfall erhalten würde.
Es fühlte sich an wie in meinen 20ern, als ich eine Lungenentzündung bekam und ins Krankenhaus musste. Die Corona-Infektion führte mich nicht ins Krankenhaus. Ich suchte noch nicht einmal einen Arzt auf. Warum sollte ich andere Personen dieser Gefahr aussetzen? Glücklicherweise besitze ich ein Pulsoximeter für meine Arbeit, sodass ich meinen Sauerstoffgehalt überwachen konnte. Das Schlimmste war, dass ich zwei Wochen allein war. Die Leute in der Wohnung über mir sind oftmals laut, aber als ich krank war, machte mich das glücklich. So fühlte ich mich nicht so sehr allein. Selbst jetzt, wenn ich sie höre, werde ich nicht böse. Ich erinnere mich, wie es war, und lächle.
Aus einer Facebook-Gruppe nur für Ärzte erfuhr ich von einer randomisierten kontrollierten Studie, die die Mayo-Klinik mit Hydroxychloroquin durchführte. Ich schickte ihnen eine E-Mail und qualifizierte mich auch ohne Test aufgrund meiner wahrscheinlichen Expositionshistorie und meiner Symptome. Sie schickten mir ein, wie ich später erfuhr, Placebo zu und ich nahm dieses fünf Tage ein und füllte alle paar Tage einen Online-Fragebogen aus. Später schickten sie mir Lanzetten und (Abstrich-)Karten, damit ich Blut für Antikörpertests zurückschicken konnte. Ich war – nicht überraschend – Corona-positiv. Ich war Teil einer Studie, die zeigte, dass Hydroxychloroquin als Prophylaxe und Behandlung nach Exposition keine Wirksamkeit hat. Einige Leute sagten, dass ich sehr mutig gewesen sei, an einer Studie teilzunehmen, während ich krank war, anstatt mich selbst behandeln zu lassen. Aber ehrlich gesagt: Dafür ist die Wissenschaft da. Wir brauchen gute klinische Studien, um zu wissen, was funktioniert und was nicht.
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Als ich zurück nach Rikers kam, hatte man inzwischen bessere Protokolle umgesetzt. Alle trugen nun eine Maske – DOC (department of corrections staff), medizinisches Personal, Insassen, die in die Klinik kamen oder die verlegt worden waren.
Jeder, der dort arbeitete, ließ seine Körpertemperatur messen. Und wir hatten damit begonnen, positive Fälle zurückzuverfolgen und die betroffenen Bereiche zu isolieren. Medizinisches Personal erhielt speziellen COVID-19-Krankenurlaub, damit Menschen, die sich krank fühlten, keinen Druck verspürten, zur Arbeit zurückzukehren, sodass sie ihren Krankenstand nicht aufbrauchten. Am Eingang war jeder Metalldetektor mit einer Infrarotkamera ausgestattet, um die Körpertemperatur festzustellen.
Wie ist es während dieser Zeit, abseits der Vorsichtsmaßnahmen, in einer US-amerikanischen Justizvollzugsanstalt zu arbeiten?
Ich weiß, es klingt seltsam, aber alle schienen netter und hilfsbereiter zu sein. Die Beamten, die Insassen, das medizinische Personal. Wir wussten, wir sitzen alle im gleichen Boot. (...) Ich bin kein Epidiomologe, aber ich denke, dass Rikers ein Modell dafür ist, wie man die Epidemie in der Anstalt unter Kontrolle bringt. Als Erstes wurde angeordnet, dass alle Insassen, die ohne Gefahr freigelassen werden konnten, die Anstalt verlassen durften. Die Zahl der Insassen zu reduzieren, war die wichtigste Aufgabe. Dann wurde eine weitere Einrichtung eröffnet, in der Patienten, die asymptomatisch auf das Coronavirus reagierten, aber positiv getestet wurden, unter Quarantäne gestellt werden konnten. Letztlich wurden alle Insassen bei der Einlieferung getestet und gesondert untergebracht, bis man ein Ergebnis hatte. Jeder, der Symptome aufwies, jedoch ein negatives Testergebnis hatte, wurde wiederum getestet und dann, gleich wie das Ergebnis ausfiel, anschließend für 14 Tage unter Quarantäne gestellt.
Wie viele positiv getestete Personen gab es in Rikers?
Im März waren wir die einzige Justizvollzugsanstalt, die vor Ort Tests durchführte. Wir identifizierten über 200 Fälle, im April über 300. Letzten Monat (Juli) hatten wir zwei bei der Einlieferung und haben auch jetzt Antikörpertests eingeführt.
Wurde es den Insassen verboten, Besucher zu empfangen? Welche weiteren Maßnahmen wurden ergriffen?
Zu Beginn wurden Besuche verboten, ja. Und alle nicht dringlichen zusätzlichen Leistungen, wie zahnärztliche Behandlungen und physische Therapien etc., wurden eingestellt. Termine mit Spezialisten wurden mithilfe von "Telehealth" (Einsatz von Telekommunikation im Gesundheitswesen) durchgeführt.
Wie war die Auswirkung auf die mentale Gesundheit der Insassen? Gab es vermehrt Ausbrüche von Gewalt?
Die Routinevisiten für psychische Gesundheit fanden nur noch mit größerem Abstand statt. Ich weiß nicht, ob es zu mehr Gewalt kam, allerdings hatte ich nicht den Eindruck. Die Insassen wurden jedoch wütend, weil sie isoliert oder in Quarantäne gesteckt wurden – besonders wenn sie nur leichtes Fieber, sonst aber keine Symptome hatten.
Es ist beängstigend, in einer Situation zu sein, die so außer Kontrolle gerät. Das Beste, was sie machen konnten, war, die Inhaftierten freizulassen. Ich kenne die genaue Zahl nicht, doch sie ging dramatisch zurück.
In ihrem persönlichen Blog führt die Ärztin Tagebuch. Am 21. April schrieb sie:
Eine Pandemie ist wie ein Horrorfilm in Slow Motion. NYC (New York City) ist seit Wochen im Lockdown. In Williamsburg, wo ich lebe, höre ich kaum noch Menschen außerhalb meines Fensters. Meist höre ich Vögel und Sirenen der Ambulanzen. (...) Ich habe in Rikers als Ärztin in den letzten dreieinhalb Jahren gearbeitet. Ich bin keine verklärte Träumerin mit der Erwartung, dass ich die Welt verändern werde. Trotzdem bin ich gestern mit dem magischen Gedanken nach Rikers gefahren, dass die Dringlichkeit der Zeit die Institution irgendwie in etwas verwandelt hätte, was es nie war – vernünftig. Aber (...) die Dicke der Mauern, der Stacheldraht wirken wie ein Talisman gegen das Chaos, die grausame Gleichgültigkeit und nicht sanktionierte Gewalt (...).
Wir bedanken uns für das Interview und wünschen Ihnen alles Gute.
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