Meinung

NATO sucht Feind – Das transatlantische Militärbündnis in erneuter Sinnkrise

Seit der Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer Pakts kämpft die NATO um ihre Daseinsberechtigung. Nun ist es ausgerechnet US-Präsident Donald Trump, der diese Ängste des Bündnisses weiter schürt. Er könnte sie damit auf einen Weg führen, von dem es dann kein Zurück mehr gibt.
NATO sucht Feind – Das transatlantische Militärbündnis in erneuter SinnkriseQuelle: AFP © Nicholas Kamm

von Zlatko Percinic

Solange der Warschauer Pakt existierte, das östliche Gegenstück zum transatlantischen Militärbündnis im Kalten Krieg, war die Welt für den NATO-Generalsekretär in Paris und später dann Brüssel in Ordnung. Zwar gab es auch damals schon interne Streitigkeiten, die dazu führten, dass Frankreichs Präsident Charles de Gaulle die NATO 1966 aus dem Land warf und aus der integrierten Kommandostruktur austrat.

Die Generalsekretäre wussten aber bis 1991 ganz genau, wer ihr Widersacher und was ihre Kernaufgabe war. Mit Ausnahme Frankreichs stellte niemand das "amerikanische Protektorat" infrage, wie es de Gaulle immer wieder bezeichnete. Forderungen, dass ein Land seinen finanziellen Verpflichtungen nachkommen solle, waren unvorstellbar.

Vieles hat sich seitdem geändert. Der Kalte Krieg ist vorbei, das Feindbild der sowjetischen Bedrohung verschwunden und der Kommunismus aus Europa zurückgedrängt. Die NATO selbst weitete sich trotz gegenteiliger Versprechen immer weiter nach Osten aus und steht heute vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer an der russischen Grenze. Die Allianz führte einen Aggressionskrieg gegen Restjugoslawien im Jahr 1999 und besetzte das Kosovo, trat 2001 aufgrund des Beistandspakts nach Artikel 5 in den "Krieg gegen den Terror" in Afghanistan ein und führte 2011 erneut einen Krieg gegen Libyen. Was aber nach wie vor fehlte, war ein greifbares Feindbild, das der Sinnkrise ein Ende bereiten sollte. 

Der Putsch in der Ukraine im Februar 2014 und der darauffolgende Bürgerkrieg in der Ostukraine, sowie die Abspaltung der Krim nach einem Referendum, brachte dem Bündnis nach jahrelanger Abwesenheit endlich wieder diesen Feind zurück, den man insgeheim so schmerzlich vermisst hatte. Die alte Rhetorik konnte wieder aus der Schublade gezogen werden und bereits am 1. Mai 2014 erklärte der Vize-Generalsekretär Alexander Vershbow Russland offiziell zum "Gegner". Am 18. Oktober 2015 antwortete er auf die Frage, was denn die Aufgabe der Allianz sei, mit folgenden Worten:

Nun, die grundsätzliche Mission der NATO ist konstant geblieben. Das ist die kollektive Verteidigung von unseren Mitgliedern. Ein Angriff auf einen ist ein Angriff auf alle. Aber wir haben zusätzliche Missionen über die Jahre übernommen. In den '90er (Jahren) haben wir entschieden, Krisenmanagement mit Interventionen in Bosnien und später im Kosovo zu betreiben. Wir haben auch dieses globale Netzwerk von Partnern erstellt, wo wir versuchen, so etwas wie Sicherheit und Stabilität zu exportieren, indem wir anderen Ländern helfen, ihre Kapazitäten zu stärken, so dass sie ihren Teil zum internationalen System beitragen können. Diese ganzen Missionen bleiben weiterhin bestehen, doch die kollektive Verteidigung wurde erneut zum Job Nummer Eins, dank der russischen Aggression gegenüber der Ukraine. 

Bei unzähligen Anlässen wird seitdem das Mantra von einer "russischen Bedrohung" wiederholt, um die seit den frühen 1990er-Jahren sinkenden Rüstungsausgaben und dadurch zum Teil gefährlich kaputtgesparten Nationalarmeen der Mitgliedsstaaten zu rechtfertigen. Mit ihrer Hysterie über Russland, insbesondere der über Wladimir Putin, und durch die Verharmlosung und Unterschlagung der in der Ukraine entfesselten ultrarechtsextremistischen Kräfte, trugen die Medien dazu bei, dass das gewünschte Feindbild nach Jahren der Abstinenz wieder seinen Platz einnahm. Fast schien es so, als ob die NATO nach 23 Jahren ihre Sinnkrise endlich hätte beenden können.

Dann kam Donald Trump, der im US-Präsidentschaftswahlkampf 2016 das transatlantische Militärbündnis als "obsolet" bezeichnete und löste damit auf einen Schlag die Ängste aus, die man doch gerade erst besiegt zu haben glaubte. Zwar ruderte er dann als Präsident zurück und meinte, dass die NATO doch nicht obsolet sei, aber der Schaden war angerichtet. Im November 2019 bescheinigte dann der französische Präsident Emmanuel Macron der Allianz, dass sie "Hirntod" sei und in einer existenziellen Krise stecke. 

Die nicht abgesprochene Ankündigung des Weißen Hauses, mindestens 9.500 US-Soldaten aus Deutschland abzuziehen, rüttelt genauso an den Grundfesten des erst 2017 eröffneten Prestige-Hauptsitzes der Allianz in Brüssel. Denn sie bedeutet am Ende des Tages, dass die nun seit sechs Jahren zigfach heraufbeschworene "russische Bedrohung" doch nicht so schlimm sein kann, wie sie dargestellt wird. Gäbe es sie tatsächlich, würden die USA nicht eine Truppenreduktion vornehmen wollen, sondern eine Aufstockung.

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sah sich sogar genötigt, kurz vor der Verteidigungsministerkonferenz am 17. Juni die USA daran zu erinnern, dass doch die Standorte in Deutschland für die globalen US-Kriege wichtig seien. Damit die Organisation aber nicht erneut orientierungslos wirkt und eine Debatte über die Daseinsberechtigung ausbricht, hat Stoltenberg bereits erkannt, in welche Richtung der Wind aus Washington weht: China.

Trump sieht in Russland keinen Gegner und schon gar nicht einen Feind, wie es selbst einige Kabinettsmitglieder tun. Für ihn ist China der große systemische Herausforderer mit dem Potenzial, die USA vom Thron des globalen Hegemons zu stoßen. Wenn es nach der renommierten britischen Wochenzeitschrift The Economist geht, dann sollte die NATO "für Amerika gegenüber China nützlich sein", wenn das Bündnis "relevant" bleiben möchte, heißt es in dem Podcast "The Intelligence".

Für Amerika nützlich sein. So offen hat es bis jetzt kaum ein westliches Medium gewagt – auszusprechen, was man der NATO schon lange vorwirft. Stoltenberg hat aber verstanden, was von ihm erwartet wird. Man "sieht China nicht als neuen Feind", sagte er beschwichtigend am 8. Juni bei der Präsentation von "NATO 2030", der strategischen Ausrichtung des Bündnisses für die kommenden zehn Jahre. 

Sie kommen näher an uns ran im Cyberraum, wir sehen sie in der Arktis, in Afrika, wir sehen sie in unsere kritische Infrastruktur investieren. Und sie arbeiten mehr und mehr gemeinsam mit Russland. All das hat eine Sicherheitskonsequenz für NATO-Alliierte.

Bei der Abschlusserklärung des Jubiläumstreffens zum 70. Geburtstag der Allianz, Anfang Dezember in London, wurde China zum ersten Mal als mögliche neue Bedrohung erwähnt.

Weiteres Ungemach droht auch aus Europa. Frankreichs Präsident Macron stellte nach seiner "Hirntod"-Diagnose für die NATO klar, dass die Verteidigung "das Herzstück unserer Souveränität" sei und er deshalb auch "echte französische Souveränität" fordere. Es ist auch Macron, der eine europäische Armee fordert, die "autonom" agiert und in Berlin zumindest nicht auf Ablehnung stößt.

Für die NATO ist das allerdings ein Schreckensszenario. Ebenso wie die potenzielle Gefahr, dass sich die Vereinigten Staaten von Amerika als stärkster Bündnispartner eines Tages zurückziehen könnten, sollte man in Washington zur Überzeugung gelangen, dass das Kosten-Nutzen-Verhältnis nicht mehr übereinstimmt.

Um nicht in der vollkommenen Bedeutungslosigkeit zu versinken, müsse man die NATO auch politisch nutzen, und dafür bedürfe es "politischen Willen, um zu entscheiden, und wenn nötig, für unsere gemeinsame Sicherheit zu handeln", so Stoltenberg. Danach strebt die Führung der transatlantischen Allianz schon seit Längerem, sich auch als politischer Akteur auf der Weltbühne zu präsentieren, obwohl es als reines Verteidigungsbündnis mit klarer geografischer Eingrenzung gegründet wurde – Ein gemeinsames Feindbild wird die Organisation aber auch dann noch brauchen.

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