"Er ist sein Vorbild": Wie westliche Medien Putin zum neuen Stalin stilisieren
von Wladislaw Sankin
Ein wichtiges Prinzip guten Journalismus lautet: Liefere für jede Behauptung einen Beleg. Zu Zeiten des omnipräsenten Faktencheckens sollte diese Devise an Bedeutung eigentlich nur gewinnen. Sollte, ja – aber nicht bei jedem Thema. Geht es um "Putins Russland", kann getrost darauf verzichtet werden. Manch eine Unterstellung wird da gerne augenzwinkernd als vermeintliches Allgemeinwissen untergeschoben und deshalb nicht mit Fakten belegt. Zu diesem "Allgemeinwissen" soll neuerdings der Vergleich des russischen Präsidenten mit Stalin zählen.
Wladimir Putin verschob nach den ersten Lockerungen der Corona-Beschränkungen die feierliche Siegesparade anlässlich des 75. Jahrestages des Sieges über den Hitler-Faschismus auf den 24. Juni. An diesem Tag jährt sich die legendäre historische Parade auf dem Roten Platz, bei der 200 Soldaten der siegreichen Roten Armee Hunderte Fahnen und Standarten der geschlagenen Wehrmacht zu Füßen des Lenin-Mausoleums warfen.
Das Springer-Blatt Die Welt will darüber berichten, und am Tag nach der Bekanntgabe erscheint ein Artikel des Chefhistorikers Sven Felix Kellerhoff. Gleich im ersten Satz zieht er erstmals den Stalin-Vergleich:
Russlands Präsident Wladimir Putin nimmt sich ein Beispiel an Josef Stalin. Der Herrscher im Kreml hat jetzt angeordnet, die diesjährige Militärparade anlässlich des Sieges der Roten Armee über Hitlerdeutschland, die am 9. Mai wegen der Corona-Krise ausfallen musste, an einem anderen historischen Datum stattfinden zu lassen.
Der russische Präsident wird dabei gleich im zweiten Satz als "Herrscher im Kreml" abgestempelt. So wurde und werden auch Stalin oder die anderen "kommunistischen Diktatoren" des Öfteren genannt – wie hier, auch bei der Welt (auch der letzte Zar Nikolaus II. taucht in der Liste "der Kreml-Herrscher" auf, obwohl er nie im Kreml oder überhaupt in Moskau gewohnt hat – aber wem fallen solche Feinheiten schon auf?). Oder als Machthaber. Wiederum wie Putin. Aber auch wie Maduro, Assad oder Kim Jong-un. Wahlen, ein Parlament, Umfragewerte oder die Existenz kritischer Medien in Russland, die der Machthaber-These widersprechen? Gar nicht so wichtig. Uns scheint es so – und das zählt.
Aber allein das Framing reicht nicht für eine Botschaft. Der Welt-Autor erzählt die historische Anekdote, wie Stalin versuchte, einen Schimmel zu reiten, jedoch herunterfiel und die effektvolle Pose des Parade-Abnehmers auf dem Pferd Marschall Georgi Schukow überließ. Zuvor sagt er, dass es Stalins Idee war, die Siegesparade in Moskau wenige Wochen nach der Unterzeichnung der Kapitulation Hitlerdeutschlands am 8. bzw. 9. Mai stattfinden zu lassen. Den Artikel schließt der Historiker mit dem Satz:
Ob Wladimir Putin überlegt hat, die Parade zum 75. Jahrestag des Sieges zu Pferde abzunehmen, ist unbekannt. Im Gegensatz zu seinem Vorbild Stalin kann er offenbar reiten. Zumindest hat er sich wiederholt hoch zu Ross ablichten lassen.
Man könnte denken, der leitende Redakteur hat einen satirischen Artikel geschrieben, wenn man sich die Kommentare der Leser anschaut. Sie amüsieren sich:
Die Bilder, die ich mir auf die Schnelle von Putin a d Pferd ergooglen konnte, legen nahe, dass er evt. auf einem gehenden Pferd sitzen kann.
Also was ich auf dem gezeigten Bild sehe (Putin), würde ich nicht als "reiten können" bezeichnen.
Auf dem verschlafenen Putin-Pferd hätte auch Stalin gefahrlos Platz nehmen können.
Nur einer der Leser hinterfragt die wichtigste Aussage des Artikels:
Das mit dem Vorbild ist aber nur in Bezug auf die Siegesfeier bzw. deren Wiederholung gemeint, oder? Oder sollte es tatsächlich so sein, dass Putin in Stalin ein Vorbild sieht?
Darauf liefert der leitende Welt-Geschichtsredakteur keine Antwort. Denn es kann nicht sein Ernst sein, dass ihn allein die Tatsache, dass die Parade an einem anderen Datum als dem 9. Mai stattfindet, zur zweimal wiederholten Behauptung verleitet, Putin sehe in Stalin ein Vorbild. Es war doch schlichtweg unmöglich, die Siegesparade am Tag des Sieges zu veranstalten. Man müsste doch im schwersten Krieg aller Zeiten erst mal siegen, um dann über die Parade nachzudenken und sich dabei für die Vorbereitung Zeit zu lassen. Um diese einzig vernünftige Entscheidung zu treffen, muss man kein Stalin sein.
Aber selbst diese absurde Logik hinkt. Viel eher sollte sich Putin nach dieser Logik KPdSU-Generalsekretär Leonid Breschnew zum Vorbild nehmen, denn ausgerechnet dieser ließ am 20. Jahrestag des Sieges im Jahre 1965 zum ersten Mal eine große Militärparade stattfinden, und zwar in einem Stil, der immer noch klare Kontinuität zu den heutigen Paraden in Moskau aufweist.
Sollte Putin deshalb ein neuer Breschnew sein? Nein, dieser Vergleich ist nicht schaurig genug. Breschnew, der übrigens in der Welt-Rangliste der "Kreml-Herrscher" nach Beliebtheit bei den Russen auf dem ersten Platz rangiert, gilt in der deutschen Presse nicht als Bösewicht und schon gar nicht als Massenmörder. Der Autor versucht, wohl um dem eigenen anfangs gesetzten Framing gerecht zu werden, den Stalin-Vergleich gewissermaßen einzuschmuggeln – ohne jegliche geistige Anstrengung zu unternehmen, wenigstens nach Argumenten zu suchen.
Dass auch andere deutschsprachige Medien dem Impuls folgen, Putin auf Biegen und Brechen quasi zum neuen Stalin zu stilisieren, zeigt ein anderes Beispiel. Im März titelte das österreichische Massenblatt Kurier "Was Putin mit Stalin verbindet" und argumentierte mit einer theoretisch möglichen gesamten Amtszeit Putins als Staatschef, die mit den "monarchistischen" 36 Jahren sogar Stalins Amtszeit von 29 Jahren übersteigen würde. Nur Iwan der Schreckliche habe länger regiert – 37 Jahre, schreibt das Blatt.
Die Autoren unterschlagen im Artikel aber andere vergleichbar lange Regierungszeiten – etwa Peters des Großen mit 32, Katharinas der Großen mit 34 und Nikolaus I. mit 29 Jahren –, um nicht vom beabsichtigten Stalin-Vergleich abzulenken.
No-Go-Area
Das verrät nicht nur den Wunsch nach Rufmord um jeden Preis, sondern zeigt vor allem, dass man sich bei der gewünschten Dämonisierung mit echten Argumenten schwertut. Die zeitgenössische russische Geschichtspolitik versucht, in einem Balanceakt die Kontinuität der russischen Geschichte zu wahren – zum Unbehagen vieler Stimmen vom linken und rechten, aber auch vom liberalen Rand, die ihr entweder eine prosowjetische oder eine antisowjetische Tendenz vorwerfen. Dabei gilt: Irgendwelche Sympathie für Stalin zu bekunden, ist für die obersten russischen Amtsträger ein absolutes No-Go.
Das Gegenteil ist der Fall. Am 1. November 2017 weihte Putin in Moskau ein großes Denkmal für die Opfer politischer Repressionen in der Sowjetunion namens "Mauer der Trauer" ein und verurteilte die damaligen Praktiken in seiner Rede aufs Schärfste. Fast alle politischen Repressionen in der Sowjetunion mit tödlichem Ausgang fanden in der Stalin-Ära statt.
Fakt ist aber auch, dass es in Russland nicht verboten ist, Stalin zu würdigen, was gar nicht so wenige Menschen und sogar politische Parteien wie die in der Duma vertretene Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) auch tun. Auf analytischer Ebene wird versucht, sowohl die Verbrechen als auch die Errungenschaften der Sowjetunion zur Zeit Stalins im innen- und außenpolitischen Kontext der damaligen Zeit zu sehen.
In der Zeit zwischen den Weltkriegen war es die militärische Bedrohung, die zum entscheidenden Anstoß für eine groß angelegte Modernisierung wurde. Die UdSSR, die die Rückständigkeit in einer Reihe von Bereichen in atemberaubender Geschwindigkeit überwunden hat, erzielte beeindruckende Ergebnisse.
Die Macht selbst erhielt eine neue Qualität, im Vergleich zu der das "despotische Zarenregime" nahezu milde aussah. Nachdem die Bolschewiki den harten Bürgerkrieg gewonnen hatten, konnten sie ihre realen und imaginären Ängste vor einer Konterrevolution nicht loswerden. Hinzu kam das klassische Phänomen, dass "die Revolution ihre Kinder frisst" – innerparteiliche Konflikte, Konzentration und dann Personalisierung der Macht. Die Macht wurde recht erfolgreich modernisiert. Ihre Modernität wurde jedoch durch die Perfektion der Kontroll- und Mobilisierungsinstrumente bestimmt, durch ihre Fähigkeit, in einem noch nie dagewesenen Ausmaß "zu überwachen und zu bestrafen".
Man kann lange darüber streiten, ob das zaristische oder das demokratische Russland den Krieg gegen den Nazismus hätte gewinnen können, wenn die radikalen Transformationen, die die Kommunisten durchgeführt hatten, nicht stattgefunden hätten. Wir wissen nur eines – die Sowjetunion hat den Krieg überstanden.
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Das schreibt das angesehene Journal für internationale Politik Russia in Global Affairs im Artikel "Bedrohungen für Russland: Aus der Vergangenheit in die Zukunft". Es ist schwer, in dieser Beschreibung Putin oder das heutige Russland wiederzuerkennen. Sowohl Stalin als Staatschef und Herrscher als auch seine Sowjetunion sind einmalig in der russischen Geschichte.
Derlei Vergleiche, wie sie zuletzt immer häufiger festzustellen sind, sind Propaganda und damit auch ein Armutszeugnis für jene Medien, die von sich behaupten, seriös zu sein. Trotzdem wird es kaum überraschen, wenn bei der Berichterstattung über die kommende Jubiläumsparade in Moskau die Botschaft aufgetischt wird, Putins Vorbild sei eigentlich Stalin.
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