Meinung

Arktische Muskelspiele der USA beschwören weitere Eskalation im neuen Kalten Krieg herauf

Die US-Marine steht kurz davor, in der Arktis provokative "Einsätze zur Stärkung der freien Schifffahrt" durchzuführen, die neben wirtschaftlichen Interessen Russlands auch seine nationale Sicherheit bedrohen. Kommt eine Arktisfront im neuen Kalten Krieg auf uns zu?
Arktische Muskelspiele der USA beschwören weitere Eskalation im neuen Kalten Krieg herauf© U.S. 6th Fleet Public Affairs, Foto: Dan Rosenbaum

von Scott Ritter

Die kürzliche Wiederaufnahme von Patrouillenfahrten der US-Marine in der Barentssee ist ein Muskelspiel Washingtons und seiner NATO-Verbündeten, wie wir es seit Ende des Kalten Krieges so nicht mehr gesehen haben.

Drei US-Zerstörer und eine britische Fregatte wagten sich, begleitet von einem Trossschiff, in der vergangenen Woche in arktische Gewässer. Die Wiederaufnahme der Patrouillen gehört zu einer weiter gefassten Neufokussierung von USA und NATO auf die Arktis: Dort schaffen Gewässererwärmung und schmelzendes Polareis Möglichkeiten für schnellere Seetransporte zwischen Europa und Asien – sowie einen Zugang zu natürlichen Ressourcen. Die Nutzung von beidem wurde zuvor aufgrund der schweren Eisverhältnisse als zu teuer angesehen.

Auftrag abgeschlossen: Zerstörer der US Navy und Fregatte der British Royal Navy verließen die Barentssee am 8. Mai nach einem siebentägigen Arktiseinsatz.

Die Überwasserkampfgruppe wird die Einsätze oberhalb des Nordpolarkreises fortsetzen.

Russland, das den größten Teil der Barentssee als Teil seiner Hoheitsgewässer betrachtet, machte in Vergangenheit gegenüber den USA und der internationalen Gemeinschaft wiederholt deutlich, dass es seine zentralen nationalen Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen mit allen verfügbaren Mitteln schützen wird. Angesichts dessen, was für Russland auf dem Spiel steht, besteht ein sehr greifbares Konfliktrisiko, falls die USA versuchen, ihre militärische Präsenz in der Arktis aggressiv auszuweiten.

Genau dafür jedoch plädieren Teile des militärischen Establishments der USA. Um zu verhindern, dass Russland einen möglichen, von US-Falken sogenannten "maritimen Eisernen Vorhang" um die Arktis spannt, fordern sie laut eine aggressivere Haltung der US-Marine in der Region. Dies soll auf dem Wege der Ausweitung der Barentssee-Patrouille geschehen, in deren Rahmen nun auch sogenannte FONOPs (Freedom of Navigation Operations, dt.: Einsätze zur Sicherung der Schifffahrtsfreiheit) als Standardpraxis für Seeeinsätze von USA und NATO im arktischen Norden etabliert werden sollen.

Die USA machen ihr Recht, internationale Gewässer im Einklang mit dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (UNCLOS) zu befahren, regelmäßig geltend – und das, obwohl sie das Abkommen nicht unterzeichnet hatten. Die USA umgehen diese unbequeme Tatsache, indem sie die Bestimmungen des UNCLOS, die sie selbst im jeweiligen Moment für akzeptabel halten, als internationales Gewohnheitsrecht betrachten. Seit 1983 hat die US-Marine mehr als 400 FONOPs durchgeführt – mit dem Ziel, die ihrer Ansicht nach übermäßigen maritimen Territorialansprüche von Drittstaaten anzufechten. Die Befürworter erweiterter FONOPs in der Arktis betrachten solche Übungen als eine Voraussetzung, um der so wahrgenommenen Dominanz Russlands in der arktischen Region entgegenzuwirken.

Eines der Leitprinzipien aller FONOPs der USA oder der NATO-Staaten, die im Arktischen Meer durchgeführt werden, wird daher sein, den Geltungsbereich der nationalen Gesetzgebung Russlands zurückzudrängen, die diese Staaten als übermäßig restriktiv ansehen. Sie gründet in Bezug auf die Arktis auf Artikel 234 des UNCLOS, der die Schifffahrt in arktischen Gewässern regelt. Nach derzeitigem Stand der Dinge betrachtet Russland die Nordostpassage (in Russland als Nördlicher Seeweg bezeichnet) als komplett innerhalb der russischen Hoheitsgewässer gelegen. Daher gilt dort das herkömmliche, allgemeine Recht auf freie Schifffahrt als solches nicht. Stattdessen erließ Russland eine Reihe von Gesetzen, die die Freiheit der Schifffahrt praktisch ausschließen, indem sie Beschränkungen für die Errichtung von Gebäuden und anderen Strukturen sowie die Navigationsmöglichkeiten für ausländische Schiffe auferlegen sowie zwingend Genehmigungsanforderungen vorsehen. Es sei darauf hingewiesen, dass die russischen Gesetze in vielerlei Hinsicht den kanadischen Gesetzen ähneln: Kanada verwendet – wie auch Russland – den UNCLOS-Artikel 234 als Grundlage für seine ähnlich restriktive innerstaatliche Gesetzgebung für den Transit von Schiffen durch seine arktischen Hoheitsgewässern.

Russlands und Kanadas Auslegung der ihnen nach Artikel 234 gewährten Rechte wird von Staaten wie den USA rechtlich angefochten, die Zugang zum wirtschaftlichen Potenzial der Arktis anstreben, das sich mit dem Rückgang der Eisdecke durch die Auswirkungen der globalen Erwärmung abzeichnet.

Der Schutz der russischen Wirtschaftsinteressen in der Arktis (Präsident Wladimir Putin schätzte den Wert der Mineralvorkommen in Russlands arktischen Gebieten auf knapp 28 Billionen Euro), die bei Verringerung ihrer Eisdecken zunehmend leichter wirtschaftlich erschlossen werden kann, ist einer der Hauptgründe für Russlands entschlossene Haltung dort.

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Aber es gibt noch einen weiteren Faktor, der sich auf die Dynamik jeder Art von FONOPs kritisch auswirkt. Das "Recht der friedlichen Durchfahrt" ist ein für jede FONOP absolut unabdingbares Konzept: Militärschiffe, die durch Hoheitsgewässer von Drittstaaten durchfahren sollen, müssen sich auf friedlicher Durchfahrt befinden. Schiffe von USA und NATO, die künftige FONOPs im Arktischen Meer durchführen würden, sind jedoch mit dem Aegis-System ausgestattet. Dieses System zum Schutz der Schiffe vor Raketenangriffen ermöglicht jedoch nicht nur den Start von Boden-Luft-Raketen, sondern dank der Mk 41-Senkrechtstartanlage auch den Start schiffgestützter Marschflugkörpern der Baureihe BGM-109 Tomahawk.

Mit ihrer Reichweite von über 1650 Kilometern würde ein Aegis-Schiff, das Tomahawks geladen hat, die in Sibirien stationierten russischen strategischen Raketenstreitkräfte und einige weitere Ziele mehr bedrohen können – im Moment nur mit konventionellen Sprengköpfen.

Doch da ist noch mehr. Die USA sind dabei, fortschrittliche Boden-Luft-Raketen des Typs SM-3 Block IIA zur Serienreife zu entwickeln, die ebenfalls vom Vertikalstartsystem Mark 41 (VLS) gestartet werden können, das auf allen Aegis-tauglichen Schiffen verbaut wird. Diese neuen Abfangflugkörper sind dazu konzipiert, Interkontinentalraketen (ICBMs) abzufangen. Es ist geplant, sie im dritten Quartal 2020 in dieser Qualität zu testen. Nun sind die überwiegende Mehrheit der strategischen Nuklearstreitkräfte Russlands – und insbesondere diejenigen, deren Elemente in Sibirien stationiert sind – so konfiguriert, dass sie die Arktisregion überfliegen müssen, bevor sie ihre Ziele in den Vereinigten Staaten erreichen. Damit kann kein Einsatz von Schiffen mit Aegis-System im Arktischen Meer – ungeachtet ihrer Zugehörigkeit und deklarierter Flugkörperbeladung – je wieder als friedliche Durchfahrt gewertet werden. (Ab dem genannten Zeitraum muss einem jeden Kriegsschiff mit Aegis-System, das in arktischen Gebieten unterwegs ist, grundsätzlich Bereitschaftseinsatz im Rahmen eines möglichen nuklearen Erstschlages unterstellt werden, auf den Russland gar nicht oder nur mit stark verringerter Schlagkraft antworten können soll. Anm. d. Red.)

Die Mark 41 VLS ist ferner darauf ausgelegt, die SLCM-N abzufeuern, eine neue Reihe seegestützter Marschflugkörper mit der Fähigkeit zum Tragen von Nuklearsprengköpfen – neben den Tomahawks, deren Nuklearausführung offiziell seit 2010 ausgemustert ist. Im Rahmen der US-Doktrin für Nuklearwaffeneinsatz in Revision von 2018 wird im Auftrag der US-Marine ein solcher Marschflugkörper entwickelt, der aktuell nur unter der Abkürzung SLCM-N (Sea-Launched Cruise Missile, Nuclear-capable) bekannt ist. Für diese Flugkörper ist der Einsatz thermonuklearer Sprengköpfe des Typs W-80-4 mit einer variablen Sprengkraft von fünf bis 150 Kilotonnen vorgesehen. Jedes mit SLCM-N bewaffnetes Schiff, das in der Arktisregion operiert, wird gegen Russlands strategische Nuklearstreitkräfte über eine inhärente  Abfangfähigkeit durch Erstschlag verfügen – eine Fähigkeit, die die Durchfahrt solcher Schiffe ebenfalls alles andere als friedlich macht.

Russland verfügt derzeit über sechs Militärstützpunkte im Norden, daneben über zehn Flugplätze, zahlreiche Feuerstellungen für Flugabwehrraketensysteme sowie über Militärhäfen, die unter dem Dach des Vereinigten Strategischen Kommandos Nord operieren, besser bekannt als arktische Streitkräfte. Zu den Flugabwehrsystemen gehören das Tor-M2DT, eine modernisierte Variante des SA-15-Systems aus der Sowjet-Ära, und das neuere Panzir-SA-System, die beide für den Einsatz in der rauen Umgebung des arktischen Nordens angepasst wurden. Diese Systeme sind auf die Abwehr von Angriffen mit Marschflugkörpern ausgelegt und rund um die Uhr an 365 Tagen im Jahr einsatzbereit.

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So gesehen ist die russische Militarisierung der Arktis eher defensiv als offensiv und soll die lebenswichtigen nationalen Sicherheitsinteressen Moskaus vor Bedrohungen schützen, wie sie durch jegliche aggressive US-/NATO-FONOPs im Arktischen Meer entstehen würden.

Darüber hinaus haben Russland und davor schon die Sowjetunion seine nationalen Sicherheitsinteressen aggressiv gegen alle Vorkommnisse verteidigt, die sie für Übergriffe auf Hoheitsgewässer hielten – zum Beispiel FONOPs, bei denen gegen Auflagen der friedlichen Durchfahrt verstoßen wurde. Das vielleicht auffälligste und relevanteste Beispiel dafür ist der Vorfall vom 12. Februar 1988 vor der Küste der Halbinsel Krim: Die US-Marine hatte eine aus dem Kreuzer USS Yorktown und dem Zerstörer USS Caron, bestehende Task Force entsandt, um FONOPs außerhalb der üblichen Seewege durchzuführen.

Die USA behaupteten, sie hätten jedes Recht, außerhalb dieser Seewege zu operieren, und beriefen sich dabei auf das Recht auf friedliche Durchfahrt. Die Sowjets betrachteten jedoch die Anwesenheit zweier moderner Kriegsschiffe, die mit angeschalteten Radarsystemen und anderen elektronischen Aufklärungssystemen fuhren und dazu schwerer bewaffnet waren als Schiffe bei jeder früheren FONOP-Übung, als alles, nur nicht als friedliche Durchfahrt.

Die sowjetische Schwarzmeerflotte schickte ihrerseits zwei Fregatten, um die unbotmäßige Präsenz der US-Marine zu kontern. Sowohl die Yorktown als auch die Caron wurden gewarnt, ignorierten aber die Warnungen. Daraufhin näherten sich die sowjetischen Schiffe jenen der US-Marine – und rammten sie, um ihnen sanft, aber bestimmt eine baldige Abreise nahezulegen. Es kann kaum Zweifel daran bestehen, dass die russische Marine ähnliche – oder darüber hinausgehende – Taktiken anwenden würde, um ihre Interessen auch im Arktischen Meer zu schützen, falls sie diese durch Verstöße gegen Auflagen der friedlichen Durchfahrt bei US-/NATO-FONOPs bedroht sieht.

Wenn die USA beschließen, ihre Marinepräsenz in der arktischen Region zu verstärken, indem sie ihre Patrouillen in der Barentssee um aggressivere FONOPs entlang Russlands nördlichem Seeweg ausweiten, kann man davon ausgehen, dass Russland in schon bekannter Weise reagieren wird. Das schafft das Potenzial für eine Wiederholung des Zwischenfalls von 1988 – aber diesmal in den eisigen, ungastlichen Gewässern des arktischen Nordens. Doch in der heutigen Zeit erneuter, an den Kalten Krieg erinnernder Spannungen zwischen USA/NATO und Russland ist ein neuer potenzieller Konfliktpunkt zwischen ihren Streitkräften das Letzte, was beide Seiten brauchen.

Übersetzt aus dem Englischen

Scott Ritter ist ein ehemaliger Offizier für Aufklärung bei der US-Marineinfanterie. Er diente in der Sowjetunion als Inspekteur für die Umsetzung des INF-Vertrags, im Stab von General Schwarzkopf während des Golfkriegs und in den Jahren von 1991 bis 1998 als UN-Waffeninspekteur. Er kann auf Twitter abonniert werden unter @RealScottRitter

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