Bitte Gürtel enger schnallen! – Bundespräsident Steinmeier stimmt Deutsche auf Entbehrungen ein
von Gert Ewen Ungar
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wendet sich regelmäßig mit Videoansprachen an die Bürger. Bereits zu den Osterfeiertagen hielt er eine Ansprache, die breites Echo in den Medien fand. Weniger Resonanz bekam die Videobotschaft vom 22. April, obgleich sie thematisch wesentlich brisanter ist. Während er in seiner Osteransprache in pastoralem Duktus um den Begriff der "Solidarität" kreist und wenig konkret wird, stimmt er eine Woche später die Deutschen auf abnehmenden Wohlstand ein. Für die Rückzahlung der Folgekosten der Coronakrise müssten alle auf Wohlstand verzichten, ist Steinmeiers zentrale Aussage.
Diese Haltung ist ökonomisch fragwürdig, und sie ist in dieser Form vorgetragen ausnehmend gefährlich. Dessen ungeachtet schließen sich der These immer mehr Ökonomen an. Zuletzt Bert Rürup im Handelsblatt, der wieder einmal den Rentnern ans Portemonnaie will. Aber auch in anderen Publikationen des Mainstreams findet man die Haltung, die Antwort auf die ökonomische Krise könne nur Sparen und damit eine Senkung der Nachfrage sein. So zum Beispiel hier in der Bild oder hier in Panik erzeugendem Stil im Focus.
Steinmeier und Ökonomen wie Rürup sowie weite Teile des Mainstreams wiederholen hier die Fehler, die sie als Architekten und Multiplikatoren der Agenda 2010 gemacht haben. Aus diesen Fehlern, die zur Verwerfung der Währungsunion ebenso beitrugen sowie sie die Spaltung der deutschen Gesellschaft vorantrieben, haben Steinmeier, die deutsche Ökonomenzunft und die Medien, die diese Maßnahmen vermitteln, offenkundig nichts gelernt. Anhand der Agenda 2010 kann für Deutschland ein systemisches Versagen des Zusammenspiels von Politik, Wissenschaft und Journalismus gezeigt werden, das bisher kaum ausreichend aufgearbeitet wurde, da es in seiner Problematik bisher nicht erkannt wurde. Das macht Deutschland anfällig.
So sind es verhängnisvolle Sätze, die der Bundespräsident äußert, die deutlich zeigen, dass sich hier grundlegende Denkfehler wiederholen. Es sind Sätze wie diese:
Und dieser kraftvolle Staat, das sind wir alle. Das Geld, das er nun verteilen kann, haben Sie gemeinsam erarbeitet. Und das Geld, das er sich jetzt leihen muss, wird später zurückzuzahlen sein.
Steinmeier sagt, dass all das, was jetzt zur Unterstützung staatlicherseits geleistet wird, von den Bürgern zurückzuzahlen sein wird. Das ist erstens in dieser Form falsch und zweitens als Aussage am Beginn einer einschneidenden Rezession kontraproduktiv und fahrlässig.
Natürlich stimmt es: Die ökonomischen Auswirkungen der Coronakrise sind massiv. Das Wachstum bricht weltweit ein. Schon jetzt ist absehbar, dass die eigentliche Krise erst nach dem Abklingen der medizinischen Krise sichtbar werden wird. Die Coronakrise wird durch den mit ihr verbundenen weltweiten Lockdown die Wirtschaft Deutschlands und der Währungsunion härter treffen als die Finanzkrise von 2008. Ja, die Coronakrise gefährdet Unternehmen und Existenzen. Die starke Exportorientierung bildet ein zusätzliches Risiko für die deutsche Wirtschaft, denn der Export kann nur dann wieder anziehen, wenn sich die Wirtschaft der Länder erholt hat, in die Deutschland exportiert. Das sind allen voran die Länder der EU und der Währungsunion.
Da Deutschland alles daransetzt, eine rasche Erholung bei seinen Partnerländern durch Sparvorschreibungen und Austeritätsdiktat zu unterbinden, bleibt eigentlich nur noch eine starke binnenwirtschaftliche Nachfrage, um der heraufziehenden Krise zu begegnen. Aber auch dies, so scheint es, hat Steinmeier vor, grundlegend abzuwürgen.
Steinmeier setzt alles daran die Nachfrage zu dämpfen, die es aber bräuchte, um möglichst schnell wieder auf Wachstumskurs zu kommen. Die Warnung nämlich, dass all das, was wir heute ausgeben zu vermehrten Sparanstrengungen später führen muss, lässt diejenigen, die aktuell noch über Mittel verfügen und Geld ausgeben könnten, ihre Sparanstrengungen vorziehen. Mit anderen Worten, das Geld, das dringend für Konsum und Investitionen gebraucht würde, um die Wirtschaft nach Abflauen der medizinischen Krise wieder anzuschieben, landet aus Angst vor künftigen Belastungen auf den Sparkonten. Dort trägt es jedoch nichts zu einer Gesundung der Wirtschaft, zur Senkung der Arbeitslosenzahlen, zur Auslastung der Kapazitäten bei. Es ist daher grob fahrlässig, was Steinmeier hier macht.
Seine Aufgabe wäre es, deutlich zu machen, dass der Staat jetzt alles unternimmt, um der medizinischen Krise keine lange andauernde wirtschaftliche Depression folgen zu lassen, dass es breit angelegte Maßnahmen gegeben wird, mit dem Ziel, dass der Wohlstand eben nicht abnimmt. Und das kann nur Ausweitung von Konsum und Investitionen bedeuten. Es wäre seine Aufgabe gewesen, anzukündigen, dass der Staat jetzt in ganz großem Stil Geld ausgeben wird, um alle mitzunehmen, dass auch die Partnerländer in der Euro-Zone angehalten sind, genau das zu tun, ohne sich über Rückzahlungsmodalitäten Sorgen machen zu müssen. Aber genau das schließt Steinmeier aus, wenn er sagt:
Wahr ist, die Zeit wird nicht spurlos an uns vorbeigehen. Wir werden einiges von dem gemeinsam erarbeiteten Wohlstand preisgeben.
Dieser Satz hat die Kraft einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Wahr ist zunächst, dass der Lockdown zu einem massiven Wachstumseinbruch führt, dessen Ausmaß sich erst nach Ende der Maßnahmen genauer ermitteln lässt. Wenn wir allerdings jetzt darauf vorbereitet werden, dass die Politik nicht gewillt ist, ausreichende Maßnahmen zu ergreifen, den Wohlstand zu erhalten, dann wird genau das passieren. Wir werden dauerhaft an Wohlstand verlieren.
Mit Steinmeier redet hier einer der Architekten der Agenda 2010. Anscheinend hat er aus seinen groben wirtschaftspolitischen Fehlleistungen nichts gelernt, denn die Agenda 2010 war ein Desaster sowohl für Deutschland als auch für die Währungsunion. Jetzt wiederholt Steinmeier seinen Fehler und wieder findet seine Position Applaus bei Ökonomen und im Mainstream. Welch Tragik!
Die Agenda 2010 bedeutete Lohnsenkungen auf breiter Front. Was unter einem ganzen Bündel von Begriffen daherkam, Lohnnebenkostensenkung, Verlängerung der Lebensarbeitszeit, Flexibilisierung der Arbeitsmärkte durch Zeitarbeit und Werksverträge, Einrichtung eines riesigen Niedriglohnsektors, all dies waren schlicht Lohnkürzungen, die die Kaufkraft und mit ihr die Nachfrage in Deutschland gesenkt haben.
Gleichzeitig war die Agenda 2010 mit den Währungspartnern nicht abgesprochen. Frankreich hielt sich an die vertraglich vorgegebene Vereinbarung und steuerte Jahr für Jahr eine Inflation von knapp unter zwei Prozent zielgenau an. Einige Länder wie Griechenland und Spanien lagen etwas darüber. Deutschland aber verstieß massiv dagegen und lag lange Zeit unter der Zielinflation, verschaffte sich mit dieser inneren Abwertung auf Kosten des Wohlstands seiner Bürger einen Wettbewerbsvorteil vor seinen Partnerländern, die mit ihm eine gemeinsame Währung hatten. Dieser Fehler wurde nie korrigiert, wurde von deutschen Ökonomen und Medien noch nicht einmal in seinen Auswirkungen analysiert.
Der deutsche Verstoß gegen die Verträge ist der eigentliche Motor der die EU und die Währungsunion auseinandertreibt. Da hilft alles Lob der Agenda 2010 nichts, da hilft die Behauptung nicht, das Senken von Kaufkraft und Wohlstand wäre damals notwendig und hilfreich gewesen. Die Sparanstrengung, die die Agenda 2010 bedeutete, führte zu den Verfallserscheinungen, unter denen die EU aktuell leidet.
Mit ihr brach in Deutschland die Kaufkraft weg. Durch die Agenda 2010 litt die Binnennachfrage. Es gab zwar in Deutschland Wachstum auf Kosten der anderen Euro-Länder, aber das Wachstum blieb weit hinter dem zurück, was möglich gewesen wäre, hätte man nicht breite Lohnsenkungen durchgesetzt. Die Währungsunion wurde so durch das katastrophal egoistische Handeln eines einzelnen Nationalstaates zu einer Region, die weit hinter den Möglichkeiten zurückbleibt. Der Wohlstand sank relativ zu anderen Regionen dieser Welt.
Aus diesem gewaltigen Fehler hat Steinmeier nichts gelernt. Man muss es wiederholen: Dieser gewaltige Fehler der Deutschen für den Zusammenhalt der EU ist noch nicht mal in Ansätzen analysiert. Im Gegenteil wird hier mantraartig wiederholt, die Agenda 2010 sei notwendig gewesen. Das kann nur dann wahr sein, wenn man meint, die Zerstörung der EU und das Absenken des Standards in Deutschland sei uneingeschränkt zu befürworten.
Mit seiner aktuellen Rede macht Steinmeier klar, dass er bereit ist und sogar befürwortet, diesen Fehler der Minderung der Kaufkraft und eines Absenkens des Standards zu wiederholen. Während in China das Wachstum bereits wieder anzieht, soll in Deutschland der Wohlstand weiter sinken.
Es ist ein grundlegender Denkfehler, dem Steinmeier und mit ihm diejenigen aufsitzen, die vom Bezahlen der Kosten für die Krise sprechen. Sie halten an einer neoliberalen Auslegung von Währung fest. Nach dieser kommt Geld durch in einem nicht näher beleuchteten Prozess von Arbeit in die Welt und der Staat greift ungerechterweise in Form von Steuern darauf zu. Das ist fundamental falsch.
Richtiger ist: Mit der Zentralbank emittiert ein staatlicher Akteur die Währung als Impuls für Wachstum in den Wirtschaftskreislauf und der Staat greift in Form von Steuern auf einen Teil davon zurück. Dadurch, dass der Staat seine Währung für Zahlungen an ihn akzeptiert, nur dadurch wird die Währung zu einem validen Zahlungsmittel. Der Staat schafft mit der Annahme der Währung bei Zahlungen an den Staat ihre Wertigkeit als Voraussetzung für ökonomisches Wachstum.
Steuern, dieser Einschub sei hier erlaubt, dienen nicht dem Bestrafen der Bürger und der Unternehmen oder sind gar ein illegaler Angriff auf deren Vermögen, sondern sie dienen im Idealfall genau dem, woher ihr Name kommt: Sie steuern Wirtschaftsprozesse und Kaufverhalten.
Folgt man der Auffassung, dass es die Zentralbank ist, die Geld schafft, dann ist es logisch, dass Staatsschulden die eine Nation in seiner eigenen Währung bei seiner eigenen Zentralbank macht, nicht zwingend zurückgezahlt werden müssen. Die EZB kann die im Rahmen der Coronakrise entstandenen Staatsschulden für die nächsten Jahre, Jahrzehnte oder Jahrhunderte in ihren Büchern behalten, ohne dass dadurch ein Schaden entstünde. Dadurch müssten noch nicht einmal die Renditen für Staatsanleihen steigen, wie die Beispiele USA und Japan deutlich machen.
Dass die unterschiedlichen Euro-Länder für ihre Anleihen unterschiedlich hohe Zinssätze zu zahlen haben, lässt auf einen Konstruktionsfehler der Währung schließen, der gerade angesichts der Auswirkungen der Corona-Krise dringend zu beheben ist.
Es wäre daher viel hilfreicher gewesen, Steinmeier hätte darauf hingewiesen, dass die durch die Corona-Krise entstehenden Schulden überhaupt kein Problem sind, da wir nicht unter Rückzahlungsdruck stehen. Stattdessen hat er in das Horn neoliberaler Apologeten geblasen, welche die Mär von der Staatsschuld erzählen, die wechselweise in den Staatsbankrott, zu Hyperinflation oder auch beidem führen kann.
Ein Schaden entsteht uns allen allerdings dann, wenn man jetzt weiter Kaufkraft und damit Nachfrage zurückfährt. Wenn man jetzt wie Steinmeier und zahlreiche Medien des Mainstreams die Angst schürt.
Die finanziellen Möglichkeiten der Bürger sind die Einnahmen der Unternehmen, die Investitionen der Unternehmen sind die Einnahmen von wieder anderen Unternehmen und schaffen die Arbeitsplätze der Bürger und damit deren Gehälter für deren Konsum. Wer jetzt von Sparen und sinkendem Wohlstand spricht, wer glaubt, man könnte und müsste angesichts der Krise "sparen" hat fundamentale ökonomische Zusammenhänge einer Volkswirtschaft nicht begriffen, die im Grunde mit den ökonomisch dämpfenden Auswirkungen der Agenda 2010 auf Deutschland und die Währungsunion offen zutage liegen.
Es scheint allerdings so zu sein, dass die Wiederholung der gemachten Fehler angesteuert wird. Dann allerdings wird die Euro-Zone noch weiter zurückfallen. Steinmeier und alle, die wie er Ausgabenkürzungen und Sparorgien fordern, machen dann die Währungsunion zur neuen dritten Welt. Steinmeier bleibt damit aber seiner ökonomischen Logik konsequent treu. Schon mit der Agenda 2010 hat er Deutschland und die Währungsunion von der weltweiten Entwicklung abgekoppelt. Sie bleibt mangels ausreichender Binnennachfrage seit Jahren immer hinter den weltweiten Dynamiken zurück.
Wenn sich Steinmeiers Weltsicht durchsetzen sollte, steht ein weiteres Abrutschen der EU und Deutschlands vor der Tür. Viel Hoffnung kann man an dieser Stelle leider nicht spenden, denn weder in Politik noch in den deutschen Wirtschaftswissenschaften, die aus gutem Grund kein internationales Renommee besitzen, noch in den relevanten Medien wird ein vernünftiger geldpolitischer Ansatz überhaupt auch nur zur Kenntnis genommen, geschweige denn diskutiert. Der Absturz der EU unter deutscher Führung ist damit vorprogrammiert.
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