Meinung

Bild-Zeitung vs. China: Chefredakteur Julian Reichelt schreibt sich faktenfrei in Rage

Schlagabtausch zwischen der Bild-Zeitung und der chinesischen Botschaft: Die Zeitung möchte Peking die Kosten für die Corona-Pandemie in Rechnung stellen, was die Botschaft nicht unkommentiert stehen lassen wollte. Nun kontert Bild-Chefredakteur Reichelt – mit hanebüchenen Vorwürfen.
Bild-Zeitung vs. China: Chefredakteur Julian Reichelt schreibt sich faktenfrei in Rage© Screenshot Bild-Zeitung

von Sebastian Range

Für gewöhnlich hält sich die chinesische Botschaft zurück, wenn es darum geht, innerdeutsche Debatten zu kommentieren. Doch mit der diplomatischen Zurückhaltung war es vorbei, nachdem die Bild-Zeitung am Mittwoch Peking eine "Corona-Rechnung" im dreistelligen Milliardenbereich unter der Losung "Was China uns jetzt schon schuldet" präsentierte.

"Es wird eine Zeit geben, in der die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden!", leitete die Bild ihren Artikel mit einem Zitat des US-Außenministers Mike Pompeo ein. Die US-Regierung ist schon seit Wochen bestrebt, China für ihr eigenes Versagen im Umgang mit der Corona-Pandemie verantwortlich zu machen. Noch Ende Februar hatte Präsident Donald Trump angedeutet, dass die Grippe gefährlicher als das Coronavirus sei. Dass Trump die Krise über lange Zeit beharrlich geleugnet und sich durch Nichtstun ausgezeichnet hat, wird von US-Medien immer lauter kritisiert.

Doch Bild macht nicht Washington oder andere westliche Regierungen, die sich erst spät zu einem entschlossenen Handeln bewegt hatten, für die schwerwiegenden Folgen der Corona-Pandemie haftbar, sondern die chinesische Führung, die "wichtige Informationen wochenlang unterdrückte".

Experten und Politiker weltweit fordern Konsequenzen für Peking – bis hin zu Schadensersatz-Klagen!", so das Springer-Blatt.

Die chinesische Botschaft wies die Vorwürfe in einem offenen Brief zurück. Ohne auf die darin genannten Fakten einzugehen, verfasste Bild-Chefredakteuer Julian Reichelt daraufhin einen "Brief" an den chinesischen Präsidenten Xi Jinping.

In fünf Punkten äußert sich Reichelt zu den Vorwürfen der Botschaft, die den Bild-Bericht als "infam" bezeichnet hatte, der "nicht nur ganz wesentlicher Fakten und genauer Zeitabläufe, sondern auch einem Mindestmaß an journalistischer Sorgfaltspflicht und Fairness" entbehre.

Bild-Chef fabuliert von Fledermaus-Suppen

Seine Replik leitet Reichelt mit folgendem Punkt 1 ein:

Sie regieren durch Überwachung. Ohne Überwachung wären Sie nicht Präsident. Sie können alles überwachen, jeden Ihrer Bürger, aber Sie weigern sich, die hoch seuchenriskanten Tiermärkte in Ihrem Land zu überwachen. Jede kritische Zeitung oder Internetseite machen Sie dicht, aber nicht die Buden, an denen Fledermaussuppe verkauft wird. Sie überwachen Ihr Volk nicht nur, Sie gefährden es auch – und damit die ganze Welt.

Der Bild-Chef spielt hier auf eine Legende an, die von der britischen Daily Mail in die Welt gesetzt wurde und an deren Fortbestehen sein Blatt infolge mit Aussagen wie "Futtert uns China in die nächste Pandemie" fleißig mitgestrickt hat. Demnach nahm das Virus durch den Verzehr von Wildtieren wie Fledermäusen auf einem sogenannten "Wet Market" ("Nassmarkt") in Wuhan seinen Lauf in die Welt.

Die Daily Mail hatte ein Video veröffentlicht, das laut Beschreibung eine "Fledermaus-Suppe auf dem Markt in Wuhan zeigt, der in Verbindung zum Corona-Ausbruch steht". Stutzig macht bereits die Überschrift, laut der es sich um eine Fledermaus-Suppe handelt, von der "angenommen wird, dass sie in Hongkong verkauft wurde".

"Es gab nur ein Problem", berichtete Foreign Policy daraufhin:

Das Video wurde überhaupt nicht in Wuhan gedreht, wo Fledermäuse keine Delikatesse sind. Es kam nicht einmal aus China. Stattdessen zeigte es Wang Mengyun, Moderatorin einer Online-Reiseshow, wie sie in Palau ein solches Gericht isst.

Die Moderatorin entschuldigte sich anschließend. Palau ist laut dem Travel Food Atlas übrigens Ursprungsort von Fledermaus-Suppen. Auch in Mikronesien, Guam und Afrika habe sich die Suppe zu einer Delikatesse entwickelt. Von China ist dort nicht die Rede. Auch andere aus Palau stammende Videos sind im Umlauf, die fälschlicherweise China zugeordnet werden.

Correctiv hatte die Aussagen der Daily Mail und der Bild zum Markt in Wuhan einem Faktencheck unterzogen. Fazit: Dass der Markt Ausgangspunkt der Verbreitung des Coronavirus ist, ist nicht belegt. Ob Fledermäuse das Virus ursprünglich ausgebrütet haben, ist eine (noch) nicht bestätigte Theorie. Belege dafür, dass die Säugetiere in Wuhan im Suppenformat angeboten wurden, gibt es demnach nicht. Und selbst wenn: "Menschen infizieren sich nicht, indem sie gekochtes Fleisch essen", zitiert Correctiv den WHO-Experten David Heymann.

Der US-Sender CNN räumte jüngst auch mit einem weit verbreiteten Missverständnis zu den "Wet Markets" auf, die nun in aller Munde sind:

Wenn Sie schon einmal in einer Einkaufszone waren, in der Metzgereien und Lebensmittelgeschäfte frische Produkte direkt vom Bauernhof verkaufen, dann waren Sie schon einmal auf einem Markt, der in manchen Teilen der Welt als Nassmarkt bezeichnet wird. Das mag überraschen – denn in letzter Zeit ist der Begriff Nassmarkt für einige Leute im Westen fast zum Synonym für COVID-19 geworden. (...)

Aber nasse Märkte sind im Gegensatz zu trockenen Märkten, auf denen nicht verderbliche Waren wie Getreide oder Haushaltsprodukte verkauft werden, einfach Orte, die eine große Auswahl an frischen Produkten anbieten. Einige, aber nicht alle, verkaufen auch lebende Tiere.

Der Bericht weist auch darauf hin, dass solche Märkte kein chinesisches, sondern ein in Asien generell weit verbreitetes Phänomen sind. Doch mit solchen Details hält sich ein Bild-Chefredakteur nicht auf.

China – ein Land bestiehlt die Welt

In seinem zweiten Punkt erklärt er China zu einem Land der Räuber:

Überwachung führt zu Unfreiheit. Wer nicht frei ist, ist nicht kreativ. Wer nicht innovativ ist, erfindet nichts. Deswegen haben Sie Ihr Land zum Weltmeister im Diebstahl von geistigem Eigentum gemacht. China bereichert sich an den Erfindungen anderer, statt selber zu erfinden. (...) Der größte chinesische Exportschlager, den keiner haben wollte, aber der trotzdem um die Welt gegangen ist, ist Corona.

Man fragt sich, hinter welchem Mond der Verfasser dieser Zeilen wohnt. Kein Land hat im vergangenen Jahr so viele Patente angemeldet wie China. Was Hochtechnologien wie 5G oder künstliche Intelligenz betrifft, hat der asiatische Staat den Rest der Welt schon längst abgehängt. Aber solche Tatsachen sind zu Reichelt offensichtlich noch nicht durchgedrungen, die Filterblase lässt grüßen!

Im Einklang mit Donald Trump

An dritter Stelle erneuert der Chefredakteur den Vorwurf des Bild-Artikels vom Mittwoch, China habe die Welt absichtlich im Dunkeln gelassen, "wichtige Informationen wochenlang unterdrückt" und "seine Informationspflichten gegenüber der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verletzt".

In ihrer Erwiderung verwies die Botschaft auf die von der WHO bestätigte Zeitabfolge, laut der chinesische Behörden bereits am 31. Dezember 2019 die WHO "über Fälle von Lungenentzündung unbekannter Ursache in Wuhan informiert" haben. Und mit welchen belastbaren Fakten versucht nun Reichelt, die Chinesen zu widerlegen? Er behauptet einfach:

Ihre Top-Experten sind nicht ans Telefon gegangen, haben keine Mail beantwortet, als westliche Forscher wissen wollten, was da bei Ihnen in Wuhan los ist.

Was dort los war, war der Welt spätestens seit dem 23. Januar bekannt, als die Großstadt abgeriegelt und für ihre Bewohner eine Ausgangssperre verhängt wurde. In Deutschland oder auch Großbritannien wurden Ausgangsbeschränkungen erst am 23. März verhängt, also geschlagene zwei Monate später.

Sogar Christian Stenzel, Mitverfasser des diplomatische Wellen schlagenden Bild-Artikels, musste in seinem vor Demagogie nur so strotzenden Machwerk vom 12. März, in dem er China unterstellt, seit 2.500 Jahren den Rest der Welt zu belügen, eingestehen, dass Deutschland "wochenlang" zugeschaut und "Chinesen munter und ungehindert" einreisen ließ. Also doch nicht alles Chinas Schuld?

Selbst laut einer Recherche von Associated Press (AP), die chinesischen Behörden vorwirft, die heimische Öffentlichkeit nicht rechtzeitig informiert zu haben, ist keine Rede von einer "wochenlangen" Informationsunterdrückung, sondern von einem Zeitraum von sechs Tagen. AP zitiert in diesem Zusammenhang den US-Epidemiologen Zuo-Feng Zhang:

Hätten sie sechs Tage früher gehandelt, hätte es viel weniger Patienten gegeben und die medizinischen Einrichtungen wären ausreichend gewesen. Wir hätten den Zusammenbruch des medizinischen Systems von Wuhan vermeiden können.

Es geht hier wohlgemerkt um etwaige Konsequenzen auf lokaler Ebene, nicht auf globaler. Und auch was die Situation in Wuhan betrifft, teilen nicht alle Experten die Ansicht von Zhang. So heißt es in dem AP-Bericht:

Andere Gesundheitsexperten sagten jedoch, dass die Regierung angesichts der ihnen zur Verfügung stehenden Informationen fernab der Öffentlichkeit entschlossen gehandelt habe. 'Sie hat vielleicht nicht das Richtige [gegenüber der Öffentlichkeit] gesagt, aber sie tat das Richtige', sagte Ray Yip, pensionierter Gründungsleiter des Büros der U.S. Centers for Disease Control in China. 'Am 20. [Januar] hat sie Alarm für das ganze Land geschlagen, was keine unangemessene Verzögerung ist.'

Wenn nun jemand wie Donald Trump China und der WHO vorwirft, nicht rechtzeitig genug über die Corona-Gefahr informiert zu haben, dann handelt es sich um ein durchschaubares Manöver, mit dem der US-Präsident von seiner langandauernden Untätigkeit ablenken will. Ein Manöver, an dem sich der Chef des transatlantisch eingefärbten Springer-Blattes nur zu gern beteiligt.

Coronavirus aus einem Labor entwischt?

Als nächstes, in Punkt 4, kommt Reichelt noch einmal auf die Fledermaus zurück und zieht in seiner ihm so eigenen sachlichen Art eine Verbindung zwischen dem Corona-Ausbruch und einer virologischen Forschungseinrichtung in Wuhan:

Die 'Washington Post' berichtet, dass Labore in Wuhan an Corona-Viren in Fledermäusen geforscht haben, ohne höchste Sicherheitsstandards einzuhalten. Warum sind Ihre toxischen Labore nicht so abgesichert wie Ihre Gefängnisse für politische Gefangene? Wollen Sie das den trauernden Witwen, Töchtern, Söhnen, Ehemännern, Eltern der Corona-Opfer in aller Welt vielleicht einmal erklären?

Tatsächlich hatte die Washington Post am Dienstag berichtet, dass in zwei Depeschen der US-Botschaft in China aus dem Jahre 2018 davor gewarnt wurde, dass die Sicherheitsvorkehrungen im Wuhan-Institut für Virologie (WIV), das eng mit US-Forschern kooperiert, nicht ausreichend seien. Die Zeitung schreibt:

Die chinesischen Forscher am WIV erhielten Unterstützung vom Galveston National Laboratory der Medizinabteilung der University of Texas und anderen US-Organisationen, aber die Chinesen baten um zusätzliche Hilfe. Die Depeschen empfahlen, dass die Vereinigten Staaten das Labor in Wuhan weiter unterstützen sollten.

Ob sich die Sicherheitsvorkehrungen im Laufe dieser zwei Jahre verbessert haben, darüber verliert die US-Zeitung kein Wort. Dass Mitarbeiter der US-Botschaft die Forschungseinrichtung regelmäßig besuchen konnten, spricht aber für Transparenz seitens Chinas.

Was Reichelt zudem nicht erwähnt: Die Washington Post widmete sich dem Thema zwei Tage später erneut in einem Artikel. Darin heißt es, dass die Forschung an Fledermäusen am WIV "nicht beweist, dass an dem neuartigen Coronavirus jemals in Wuhan geforscht wurde oder dass es [aus dem Labor] entwichen ist".

Und laut der New York Times konnten US-Geheimdienste "keine Alarmzeichen innerhalb der chinesischen Regierung registrieren, die laut Analysten mit dem versehentlichen Austreten eines tödlichen Virus aus einem Regierungslabor einhergehen würden".

Was Reichelt hier insinuiert, dass nämlich Fledermäuse mit dem neuartigen Coronavirus aus einem Labor in Wuhan ausgebrochen sind, um anschließend als Suppe auf einem örtlichen Nassmarkt verspeist zu werden, was dann zur globalen Pandemie geführt habe, weshalb man deren Folgekosten Peking in Rechnung stellen müsse, entbehrt jedweder Belege.

Es geht dem Bild-Chefredakteur aber nicht um Fakten, sondern um eine Botschaft an die deutsche Bevölkerung: China soll die Suppe gefälligst selbst auslöffeln, die es uns – vermeintlich – serviert hat.

Was im Reich der Mitte so alles getuschelt wird

Im seinem letzten Punkt des Briefes an den chinesischen Präsidenten unterstreicht Reichelt sein äußerst eigenwilliges Verhältnis zur Realität:

In Ihrem Land tuschelt man bereits über Sie. Ihre Macht bröckelt. Sie haben ein undurchschaubares, intransparentes China geschaffen, das erst für einen unmenschlichen Überwachungsstaat stand und nun für die Verbreitung einer tödlichen Seuche steht.

Was auch immer in China nach Ansicht des Chefredakteurs getuschelt wird, der große Rest der Welt sieht in China ein Land, das die tödliche Seuche erfolgreich eingedämmt hat. Und die allermeisten Chinesen dürften froh sein, dass ihre Regierung so resolut gehandelt hat, sodass das Land nun wieder zu einer gewissen Normalität übergehen kann.

Dass China nun in der Lage ist, die halbe Welt mit medizinischer Schutzausrüstung zu versorgen, nachdem es im Januar noch selbst auf dem Weltmarkt diese Güter im großen Stil aufgekauft hat, dem kann Reichelt nichts Positives abgewinnen. Im Gegenteil:

Ich nehme an, Sie betrachten es als große 'Freundschaft', wenn Sie jetzt großzügig Masken um die Welt schicken. Ich nenne das nicht Freundschaft, sondern lächelnden Imperialismus.

"Sie wollen", unterstellt Reichelt abschließend Xi Jinping, "China stärken durch eine Seuche, die von China ausging".

China nutzt das Coronavirus also als Waffe, um den Rest der Welt in die Knie zu zwingen! Was soll man zu solch verschwörungsideologischem Unsinn noch sagen? Im Grunde hat die chinesische Botschaft es in ihrem offenen Brief bereits gesagt:

Wer so aufrechnet, schürt Nationalismus, Vorurteile sowie Fremden- und Chinafeindlichkeit.

Dem gibt es nichts mehr hinzuzufügen.

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Hinweis der Redaktion: Inzwischen hat die chinesische Botschaft zu Reichelts Brief Stellung bezogen.

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