Der EU-Gipfel in Zeiten der Corona-Pandemie: Keinen Fingerbreit Solidarität
von Gert Ewen Ungar
Solidarität bleibt in der EU ein metaphysischer Begriff. Das heißt, es hat – wie auch bei den Begriffen "das Wahre, Schöne, Gute" – jeder so seine eigene Vorstellung davon, was das konkret bedeuten könnte. Jedes Land, jeder Bürger in der EU hat eigene Vorstellungen davon, was Solidarität meinen könnte. Die jeweiligen nationalen Ideen klaffen jedoch weit auseinander. In der realen Welt dieser EU bleibt der Begriff leblos, sinnentleert.
Insbesondere Deutschland und seine politischen Vertreter üben sich in der Beschwörung des Begriffs, verweigern sich jedoch gleichzeitig hartnäckig, das mit konkretem Handeln zu verbinden. Das ist bedauerlich, denn genau an dieser Vernebelungstaktik droht die EU zu scheitern. Jedem müsste klar sein, dass im Moment nicht die Zeit für wohlfeile Sonntagsreden ist, wie etwa die vom Bundespräsidenten Steinmeier oder die protestantisch daherkommenden Ermahnungen von der hohen Kanzel, wie sie "unsere" Kommissionspräsidentin von der Leyen gerade zum Besten gegeben hat. Das ist deplatziert und unpassend.
Es ist ein durchweg peinliches Schauspiel, was hier aufgeführt wird, denn es fehlt an konkreten Handlungen – gerade und insbesondere von Seiten Deutschlands. Wie kein anderes Land im Staatenbund EU verweigert es seit Jahren jede Solidarität, wälzt Lasten auf seine Partner ab, profitiert dabei und davon wie kein anderes Land in der EU. Mit dieser unverhohlenen Selbstsucht ist Deutschland die treibende Kraft, welche die EU und insbesondere die Euro-Währungsunion auseinander treibt.
Dass es bei den deutschen Solidaritätsbekundungen ausschließlich um leere Worthülsen geht, wurde am vergangenen Donnerstag wieder überdeutlich. Dort fand der Frühlingsgipfel des Europäischen Rates statt. Der Europäische Rat ist – neben der Kommission und dem EU-Parlament – eines der zentralen Organe der EU. Hier treffen sich die Regierungschefs der EU-Länder und legen in der Regel zweimal jährlich das weitere Vorgehen fest, was die Kommission dann umzusetzen hat.
Die deutschen Medien hatten von diesem aktuellen Gipfel wenig zu vermelden. Und das aus gutem Grund, denn er wäre beinahe gescheitert. Es wurde sichtbar, wie dünn das Eis inzwischen ist, welches die EU gerade noch so trägt. Und mit jedem Tag der Corona-Krise wird dieses Eis ein bisschen dünner und schwächer.
Deutschland hätte auf diesem Gipfel Solidarität zeigen können. Deutschland hätte einen wesentlichen Beitrag zur Stabilität des Euro und der EU leisten können. Es hätte einfach nur rechtzeitig seinen volkswirtschaftlichen Analphabetismus begreifen und überwinden und dann einer Vergemeinschaftung der europäischen Schulden zustimmen müssen. Aber nein: Deutschland besteht auch in der Krise darauf, dass hier jeder für sich zu kämpfen habe – und schlägt von der Epidemie schwer betroffenen Ländern wie Italien allen Ernstes vor, man möge doch auf den ESM, den Europäischen Stabilitätsmechanismus zurückgreifen.
Der italienische Ministerpräsident Conte hat dankend abgelehnt. Aus gutem Grund. Denn der Vorschlag, der hier von Deutschland unterstützt wurde, ist bestenfalls zynisch. Die Mittel aus dem ESM sind an Reformauflagen gebunden. Die Mängel, die jetzt auch im italienischen Gesundheitssystem deutlich sichtbar werden, sind aber genau solchen Reformauflagen geschuldet.
Die Rolle, die Deutschland in der EU und vor allem in der Währungsunion übernommen hat – das wird leider immer deutlicher – ist nicht nur die des Bremsklotzes, sondern vor allem die Rolle volkswirtschaftlicher Unvernunft und des Mangels an Sachverstand. Es ist bitter, mitansehen zu müssen, wie Deutschland in seiner tief verwurzelten Ignoranz und Blindheit das "Projekt EU" immer weiter gefährdet und auch bei Strafe seines Untergangs keinerlei Einsicht oder Willen zur Vernunft zeigt.
Die Forderung nach Solidarität kann im Moment nur in einer Weise sinnvoll mit Inhalt gefüllt werden: Solidarität bedeutet, dass die Währungsunion gemeinsame Schuldentitel ausgibt, um die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise aufzufangen und nach einem Abflauen der Epidemie allen Ländern der Währungsunion einen gute Grundlage für ein schnelles Herauswachsen aus der Krise zu ermöglichen.
Der Preis, den Deutschland für diese Solidarität zahlen müsste, wäre, dass es sich zu minimal schlechteren Bedingungen verschulden könnte. Deutschland müsste wieder niedrige Zinsen zahlen. Doch schon an dieser kleinen Hürde straucheln die deutschen Solidaritätsbekundungen und entlarven sich als das, was sie sind: leere Phrasen.
Grundsätzlich sind die entsprechenden Verträge der EU auf den Prüfstand zu stellen. Das Verbot der direkten Staatsfinanzierung der EZB hat sich in der Vergangenheit als wenig hilfreich in der Krisenbewältigung erwiesen. Es dient lediglich den Banken als lukrative Einnahmequelle, da diese zunächst die Anleihen der Staaten aufkaufen, um sie dann mit unbeschränkter Abnahmegarantie versehen an die EZB weiterzureichen. Es bleibt rätselhaft, warum eine Zentralbank nicht ihre zentrale Aufgabe übernehmen darf, den Staat respektive die Staaten der Währungsunion zu finanzieren. Dafür gibt es keine rationalen Gründe, sondern nur ideologische.
Die Bank of England, die US-amerikanische FED, die Bank of Japan, sie alle finanzieren direkt den Staat, für den sie geschaffen wurden und zu arbeiten haben. Ein offensichtlicher Nachteil entsteht daraus nicht. Das Argument, die Staaten würden dann über ihre Verhältnisse leben, ist vorgeschoben. Ein anderes Argument, das in diesem Zusammenhang selten genannt wird, ist allerdings von großer Bedeutung: Man erschwert mit der direkten Finanzierung grundsätzlich die Möglichkeit, gegen einzelne Länder spekulieren zu können. Genau das aber ist in der Griechenlandkrise passiert, das hat sie angetrieben und befeuert.
Daraus gelernt hat lediglich die EZB, die deutsche Politik hat sich der daraus eigentlich klar erwachsenden Erkenntnis verweigert. Sie pocht im Gegenteil weiter auf die Möglichkeit von Staatsbankrotten in der Währungsunion und möchte deren Eintreten sogar noch erleichtern. Unsolidarischer und noch asozialer – man mag dieses grobe Wort verzeihen – geht es eigentlich gar nicht.
Die in den Verträgen festgehaltenen Vereinbarungen haben sich nicht bewährt – warum also sollten sie aufrechterhalten bleiben? Die deutsche Antwort darauf ist: Weil sie in den Verträgen stehen. Wenn es einer Illustration des Wortes Starrsinn bedarf – hier ist sie.
Dabei ist jetzt die Notwendigkeit noch einmal um Einiges dringender, die Verträge und die finanzpolitische Praxis der Realität anzupassen. Es darf nicht passieren, dass die ökonomische Krise, die von der Corona-Epidemie ausgeht, zu neuen Sparorgien führt. Diese führen dann weiter in die Krise hinein, anstatt aus ihr heraus. Die Währungsunion kann sich nicht aus der Krise heraussparen, denn die Einkünfte der einen sind die Ausgaben der anderen. Oberste Maxime muss daher sein: Die Einkommen dürfen nicht sinken. Sinken sie auf breiter Front, wird die Wirtschaft nachhaltig Schaden nehmen, denn es würde sonst nach Abflauen der Epidemie durch den Rückgang bei Löhnen, Gehältern und Transferleistungen die Nachfrage weiter einbrechen.
Das würde dazu führen, dass die Kapazitäten in der Produktion nicht ausgelastet werden und weiter lohnabhängig Beschäftigte entlassen werden. Darüber hinaus werden sicherlich auch Investitionen unterlassen. Das wäre der gleiche Fehler, den man bereits nach der Eurokrise begangen hatte und der dafür sorgte, dass die Währungsunion weit hinter der weltweiten Entwicklung zurück blieb.
Aber auch in der Krise brauchen die Länder finanzielle Spielräume, ohne dass der Reformhammer über ihren Volkswirtschaften schwebt. Solidarität bedeutet, die Währungsunion auf solide Füße zu stellen, aus ihr tatsächlich eine Union zu machen, in der die einzelnen Ländern nicht miteinander in Konkurrenz gebracht werden und auf den Finanzmärkten gegeneinander um die niedrigen Zinsen konkurrieren müssen. Deutschland – so hat der Gipfel vom Donnerstag gezeigt – verschließt sich dieser Solidarität. An den wohlfeilen Sonntagsreden deutscher Politiker wird diese Tatsache allerdings nichts ändern.
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