Artikel Fünf oder "Oh Gottchen!" – Wie reagieren USA und NATO auf Verluste der Türkei in Idlib?
von Dmitry Gukov
Mindestens 33 türkische Soldaten wurden am Donnerstag bei einem Angriff der syrischen Luftwaffe auf Terroristen bei Behun, der letzten Terroristenhochburg in der Provinz Idlib, getötet. Es gab 32 Verwundete.
Nun werden nicht nur seitens der Türkei Rufe nach Artikel Fünf der NATO-Charta laut.
Doch es gibt zwei pikante Details: Die angegriffenen türkischen Truppen befanden sich nicht auf dem Staatsgebiet der Türkei, zudem hatte das türkische Militär die Koordinaten dieser Truppen nicht wie vereinbart Russland und Syrien mitgeteilt. Die syrischen Verbände waren sich also sicher, Banden der Terrormiliz Hai’at Tahrir al-Scham anzugreifen.
Sollte der Lärm um Artikel Fünf doch folgenlos ausklingen? Der Sprecher der türkischen Regierungspartei AKP, Omer Celik, verkündete am frühen Freitag vor Reportern in Ankara:
Ein Angriff auf die Türkei ist ein Angriff auf die NATO. Wir erwarten, dass bestimmte Schritte unternommen werden, um eine Flugverbotszone in Idlib einzurichten.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan berief am Donnerstagabend eine Dringlichkeitssitzung seiner Sicherheitsbeamten ein.
Auch im NATO-Hauptquartier, im Weißen Haus und im Pentagon klingelten die Telefone: Türkische Medien berichten über Kontakte mit dem Generalsekretär der Allianz, Jens Stoltenberg, dem nationalen Sicherheitsberater der USA, Robert O'Brien, und US-Verteidigungsminister Mark Esper.
Esper und sein türkischer Amtskollege Hulusi Akar "erkunden Wege, wie die Vereinigten Staaten mit der Türkei und der internationalen Gemeinschaft zusammenarbeiten können", gab die Pressesprecherin des Pentagon, Alyssa Farah, am Donnerstag an. Weitere Einzelheiten offenbarte sie nicht. Das US-Außenministerium verkündete:
Wir stehen zu unserem NATO-Verbündeten Türkei und fordern weiterhin ein sofortiges Ende dieser verabscheuungswürdigen Offensive des Assad-Regimes, Russlands und der vom Iran unterstützten Kräfte.
Des Weiteren werden Vertreter von NATO-Mitgliedern eine Dringlichkeitssitzung abhalten, so Bündnischef Jens Stoltenberg. Die Sitzung wurde gemäß Artikel 4 einberufen, der es jedem Mitglied erlaubt, Beratungsgespräche mit anderen Bündnispartnern zu beantragen, wenn es sich "in seiner territorialen Integrität, politischen Unabhängigkeit oder Sicherheit bedroht fühlt", besagte Stoltenbergs kurze Botschaft.
Türkisches Militär verletzte Vereinbarungen
Indes erklärt Russland, die türkischen Truppen seien nur deswegen unter Beschuss gekommen, weil sie sich während des Angriffs unter den "terroristischen Kräften" aufhielten. Das russische Verteidigungsministerium fügte hinzu, dass die Türkei, entgegen bestehender Vereinbarungen, nicht über die Präsenz ihrer Truppen im Angriffsgebiet informiert habe. Damaskus habe daher keinen Grund zur Besorgnis gehabt, sein Militär könnte auch Türken im Visier haben. Das russische Verteidigungsministerium gab diesbezüglich bekannt:
In den vergangenen 24 Stunden haben Vertreter des russischen Zentrums für Versöhnung der Konfliktparteien in Syrien von ihren türkischen Partnern ständig die Standortkoordinaten aller Einheiten der türkischen Streitkräfte im Kampfgebiet angefordert und bestätigen lassen, sofern sich diese in der Nähe der Operationsgebiete der Terroristen befinden.
Weder dem syrischen Militär noch Russland gibt es irgendetwas vorzuwerfen. Dies begründete das russische Verteidigungsministerium in der Erklärung am Freitag zusätzlich so:
Unmittelbar nach Erhalt der Informationen über die Opfer unter den türkischen Truppen hat die russische Seite umfassende Maßnahmen für eine vollständige Einstellung der Kampfhandlungen durch die syrischen Streitkräfte ergriffen.
"Oh Gottchen": Lärm in der NATO um Artikel Fünf...
"Oh Gottchen" lautete indes die Reaktion der US-Gesandten der NATO Kay Bailey Hutchinson, als Journalisten sie am Donnerstag auf den Luftangriff ansprachen. "Das ist eine neue Entwicklung. Das ist eine schwerwiegende Entwicklung", sagte sie und fügte hinzu, dass "natürlich alles auf dem Tisch liegt". Diese Bemerkungen führten zu Spekulationen, dass die NATO möglicherweise erwägt, sich auf Artikel 5 zu berufen, wonach ein Angriff auf ein Mitglied ein Angriff auf alle Mitglieder ist. Ein Beispiel aus Twitter:
Auch wenn alle Augen auf das Coronavirus gerichtet sind, schauen Sie doch nach Idlib hinüber, wo NATO-Macht Türkei und Russland gerade dabei sind, aneinanderzugeraten. Was passiert, wenn sich die Türkei auf Artikel 5 beruft? Was werden die USA tun?
.... Luftangriff auf die türkischen Streitkräfte in Syrien
While all eyes are on coronovirus, watch Idlib where NATO power Turkey is squaring off with Russia. What happens if Turkey invokes Article 5? What will US do? ....Airstrike Hits Turkish Forces in Syria https://t.co/0TCJ8dQVTc
— Jennifer Griffin (@JenGriffinFNC) February 27, 2020
...Und nichts dahinter
Das Problem mit Artikel 5 ist allerdings, dass er nicht für Kampfhandlungen von Bündnismitgliedern auf fremdem Territorium gilt. Idlib liegt aber nun einmal auf dem Staatsgebiet Syriens, nicht etwa der Türkei.
"In der NATO ist noch nichts wirklich zur Entscheidung gebracht worden", brachte US-Botschafterin in der NATO Hutchinson dementsprechend an. Sie führte das Gespräch mit den Journalisten denn auch schnell in eine andere Richtung: Hutchinson drückte ihre Hoffnung aus, dass Ankara nun verstehe, dass die USA und die NATO ihre wahren und wirklichen Verbündeten seien, und nicht Russland, mit dem Erdoğan in den letzten Jahren zunehmend zusammengearbeitet hat.
Realsatire: Stoltenberg fordert von Russland und Syrien, Völkerrecht zu respektieren
Unterdessen verurteilte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg "die anhaltenden willkürlichen Luftangriffe des syrischen Regimes und seines Hintermannes Russland in der Provinz Idlib", so der Pressedienst des Bündnisses. Er forderte Moskau und Damaskus ebenfalls auf, "ihre Offensive einzustellen, das Völkerrecht zu respektieren und die Bemühungen der UNO um eine friedliche Lösung zu unterstützen". Weiter forderte er "alle Parteien auf, diese gefährliche Situation zu deeskalieren". Gern wird er damit zitiert:
NATOs Jens Stoltenberg fordert Syrien und Russland auf, "ihre Offensive zu beenden, das internationale Recht zu respektieren und die Bemühungen der UN um eine friedliche Lösung zu unterstützen".
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg "forderte alle Parteien auf, diese gefährliche Situation zu deeskalieren und eine weitere Verschärfung der schrecklichen humanitären Lage in der Region zu vermeiden".
MORE: @NATO SecGen @jensstoltenberg "urged all parties to deescalate this dangerous situation & avoid further worsening of the horrendous humanitarian situation in the region" per @NATOpress re #Turkey#Syria#Russia#Idlib
— Jeff Seldin (@jseldin) February 27, 2020
Kriegstreiberei durch die üblichen Verdächtigen – Trump hält sich zurück
Falken unter den US-Senatoren, wie etwa Marco Rubio (Republikaner, Florida) und Lindsey Graham (Republikaner, South Carolina) riefen bereits zur Intervention auf. Graham veröffentlichte am Donnerstagabend Washingtoner Zeit eine Erklärung, in der er die USA auffordert, bei der Einrichtung einer Flugverbotszone über Syrien die Führung zu übernehmen. Graham wörtlich:
Die Welt sitzt Däumchen drehend da und schaut der Zerstörung von Idlib durch Assad, Iran und die Russen zu. Ich bin zuversichtlich, dass, wenn die Welt unter Führung der USA gegen den Iran, Russland und Assad Druck ausüben würde, diese sich zurückhalten und den Weg für politische Verhandlungen zur Beendigung dieses Krieges in Syrien ebnen würden.
Rubio bekräftigte seine Unterstützung für die Forderung nach einer US-Intervention in Syrien, die am Vortag im Editorial der Washington Post erschien. Erwartungsgemäß schob auch er Moskau und Damaskus die Schuld am Vorfall zu und erklärte, dass "Erdoğan hier auf der richtigen Seite steht".
Ich habe meinen Post von gestern wiederholt, weil die Türkei heute nach einem Luftangriff in Syrien massenhaft Verluste erlitten hat.
Ein @NATO-Partner steht am Rande bewaffneter Auseinandersetzungen mit Russland.
Allerdings befürworten Rubio und Graham schon seit Jahren eine US-geführte Intervention in Syrien – während US-Präsident Donald Trump bisher eher versuchte, nach der Niederlage der Terrormiliz Islamischer Staat die US-Truppen aus Syrien abzuziehen.
US-Präsident Donald Trump seinerseits hat sich bisher noch nicht zur aktuellen Situation in Idlib geäußert.
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