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Interview mit Dirk Pohlmann: "Die Stunde der Entscheidung"

"Wir können nicht beides retten: das Ökosystem und unser dysfunktionales Wirtschaftssystem – von einem von beiden müssen wir uns verabschieden". Das sagt der Journalist und Dokumentarfilmer Dirk Pohlmann im Interview über das Buch "Die Öko-Katastrophe".
Interview mit Dirk Pohlmann: "Die Stunde der Entscheidung"Quelle: www.globallookpress.com

Es wäre Wahnsinn, diese Welt mit denselben Mitteln heilen zu wollen, die ihrer tiefgreifenden Krise zugrunde liegen. Ebenso verfehlt ist es, jenen Eliten die Lizenz zum Retten zu erteilen, die den Karren in der vorangegangenen Epoche in den Dreck gefahren haben. Das grün-liberale Mantra, man müsse "Ökologie und Ökonomie versöhnen", ist nur Zeugnis einer in der gegenwärtigen Weltlage brandgefährlichen Scheu, sich mit den Machtkartellen anzulegen. Selbstzweifel sind grundsätzlich ehrenhaft, aber nicht zielführend, weil es ja gerade im Interesse der Profiteure der Klima-Katastrophe liegt, Verwirrung unter den Aktivisten zu säen. Es wurde Zeit, dass eine neue Buchveröffentlichung die existenzielle Alternative, vor der wir stehen, klar auf den Punkt bringt. Der Journalist und Dokumentarfilmer Dirk Pohlmann ist Mitherausgeber des Buches "Die Öko-Katastrophe", das am 23. November erschien. Roland Rottenfußer sprach mit ihm.

Roland Rottenfußer: Soeben erschien mit "Die Öko-Katastrophe" das erste Buch im neu gegründeten Verlag des Internet-Magazins Rubikon, in dessen Beirat unter anderem Friedensforscher Daniele Ganser und Kognitionsforscher Rainer Mausfeld sitzen. Sie sind mit Jens Wernicke Herausgeber. Was ist die wichtigste Botschaft, die Sie mit diesem Buch aussenden wollen?

Dirk Pohlmann: Es geht nicht allein um meine Botschaft. Das Buch hat mehr als 20 Autoren, darunter sehr bekannte wie Noam Chomsky, Karin Leukefeld, Charles Eisenstein, Chris Hedges und Rainer Mausfeld. Alle Autoren beleuchten das wohl brisanteste Thema dieser Zeit von verschiedenen Seiten: die fortschreitende Zerstörung unserer Lebensgrundlage. Es geht um mehrere Fragen: Warum passiert so gut wie nichts, obwohl die Probleme seit Jahrzehnten bekannt sind? Ich denke, wir müssen grundlegende Mechanismen des marktradikalen Wirtschaftssystems und der damit verbundenen Herrschaftsformen verstehen, um handeln zu können.

Die wichtigste Botschaft des Buches lautet: Ohne einen Systemwechsel werden wir die Ökokatastrophe nicht in den Griff bekommen. Ganz einfach ausgedrückt: An oberster Stelle der Wertehierarchie muss stehen, ob Entscheidungen und Regeln die Lebensgrundlagen schützen. Jede neue Entscheidung muss auf "Enkelkompatibilität" untersucht werden. Der Preis darf nicht mehr die oberste Entscheidungsgrundlage sein. Das Wirtschaftssystem muss sich an den Planeten anpassen, nicht umgekehrt. Leider sind wir davon weiter entfernt als in den 1970er-Jahren, als die Wissenschaft die Klimaerwärmung und ihre Folgen verstanden hatte.

Ihre Ansichten zum Klimawandel sind nicht unumstritten. Klimaskeptiker finden sich nicht nur bei der AfD und in den etablierten Parteien, sondern auch in Ihrer ureigenen "Szene", also in manchen alternativen Medien. Was erwidern Sie Ihren Kritikern?

Dass ein historisch einmaliger, weil extrem rasanter Klimawandel im Gange ist, der mit dem Verbrennen der fossilen Energieträger seit der Industrialisierung zu tun hat, weiß die Wissenschaft seit 50 Jahren. Solange warnen Wissenschaftler aus aller Welt auch bereits davor. Die Sachlage ist klar, das Wissen darüber wird immer genauer.

Die Warnungen der Wissenschaftler werden aber seit dem Jahrtausendwechsel massiv und organisiert in Zweifel gezogen, je mehr die Wissenschaftler versuchen, gehört zu werden, umso lauter werden die PR-Aktivitäten jener Akteure, die am meisten von den notwendigen Änderungen betroffen sind. Das sind vor allem Konzerne, deren Geschäftsgrundlage fossile Energieträger sind. Dazu gehören natürlich die Mineralölfirmen, auch superreiche Industrielle wie die Koch-Brüder, die hauptsächlich in Öl investiert haben, aber zum Beispiel auch die Düngemittel- und Pflanzenschutzmittelindustrie.

Die heutige Landwirtschaft ist erdölbasiert, und das nicht wegen der Traktoren. Die heutigen Kriege und Regime Changes haben auch solche Ursachen, siehe Libyen, Syrien und zukünftig der Iran; den Begriff "Pipelinestan" für den Mittleren Osten gibt es nicht ohne Grund, Venezuela ist das ölreichste Land der Erde. Die Verbindung von ölbasierter Wirtschaft, Rüstungsindustrie und Kriegen ist klar. Mehr als eine halbe Milliarde US-Dollar sind deshalb nach Angaben von Scientific American in PR-Kampagnen zur Desinformation über den Klimawandel gesteckt worden. Thinktanks und Lobbygruppen wurden finanziert, um Zweifel zu säen und den Eindruck zu erwecken, als würden wissenschaftliche Erkenntnisse unterdrückt, als streite sich die Wissenschaft noch.

Die PR-Strategie und Textbausteine dazu hat der PR-Berater der Republikaner Frank Luntz im Jahr 2002 in seinem berüchtigten Memo in der Politik und Wirtschaftselite verschickt. An seine Vorgaben halten sich in Deutschland übrigens EIKE und die AfD, die engstens verbandelt sind.

Was geradezu unglaublich ist: Frank Luntz hat im Jahr 2019 die Seiten gewechselt. Er sagte am 25. Juli 2019 vor einem US-Parlamentsausschuss, er habe damals unrecht gehabt und jetzt seine Ansichten geändert. Er werde sich ab sofort im Kampf gegen den Klimawandel engagieren, wenn das nicht von den US-Demokraten parteipolitisch ausgeschlachtet werde. Wenn es um eine neue Klimapolitik im Konsens gehe, sei er dabei.

Ist es das, was Sie mit ihrem Überkapitel "Verwirrung" im Buch meinten? Versuchen bestimmte Kreise, die Menschen vorsätzlich zu verwirren?

Natürlich, das war genau die Strategie, die Luntz vorschlug und die umgesetzt wurde: zu behaupten, dass die Sachlage unklar sei, die Wissenschaftler uneins seien und man keinesfalls voreilige Maßnahmen auf unsicherer Grundlage fordern dürfe. Das sei unverantwortlich. Es gehe ja um die Wirtschaftsordnung als Grundlage des Reichtums der USA, die auf dem Spiel stünde. Oder, wie EIKE das behauptet: "Nicht das Klima, die Freiheit ist in Gefahr."

In der Diskussion wurden deshalb falsche Fakten oder getunte Viertelwahrheiten mit dem Argument der "Meinungsfreiheit" veröffentlicht, plakativ gesagt, Lügen wurden zu Tatsachen – oft wider besseres Wissen. Es gibt Söldner-Wissenschaftler, die sich als Allzweckwaffe für die Republikaner bereitstellen. Zum Beispiel Fred Singer, ein Atmosphärenphysiker, der jahrelang öffentlich als Experte abstritt, dass Rauchen etwas mit Krebs zu tun habe, das Ozonloch leugnete, Giftmüll für überbewertet hält und jetzt behauptet, dass der Klimawandel eine Lüge sei.

Es gibt Unternehmen wie ExxonMobil. Der Konzern hat 1982 eigene Forschung betrieben, er hat seine Tankerflotte dazu genutzt, Messwerte auf den Weltmeeren zu erheben. Daten aus den Ozeanen sind in der Klimaforschung extrem wichtig, waren damals aber rar. Exxon hatte sie. Sie haben 1982 auf Grundlage der damaligen wissenschaftlichen Kenntnisse und mit ihren Messdaten den Anstieg des CO2-Gehaltes der Atmosphäre und den daraus resultierenden Temperaturanstieg exakt vorhergesagt, die Prognosekurve von 1982 für 2019 stimmt exakt. Und als Ergebnis ihrer Erkenntnis haben sie die Daten geheim gehalten und begonnen, Zweifel an der Klimaerwärmung zu säen.

Dieses Verhalten wird jetzt zu einer Gefahr für den Konzern in den USA. Es stehen jetzt mindestens zehn Schadensersatzverfahren in Sachen Klimawandel an. Die Tatsache, dass ExxonMobil über die drohende Klimakatastrophe seit über 40 Jahren Bescheid weiß, aber gezielt desinformiert hat, wird durch extrem hohe Schadenssummen jetzt zum finanziell unkontrollierbaren Risiko. Ein Prozess gegen Exxon hat gerade begonnen. Die Staatsanwaltschaft New York wirft dem Konzern vor, Kunden und Anleger über finanzielle Risiken der Klimakatastrophe getäuscht zu haben. ExxonMobil bietet deshalb jetzt an, in Zukunft massiv in den Klimaschutz zu investieren – aber der Konzern will als Gegenleistung von der Politik Straffreiheit per Gesetz.

Es war und ist ein nüchternes Kalkül. Erst war Leugnen gewinnträchtig, jetzt sind ExxonMobil kalkulierbare Kosten besser als unkalkulierbare.

Die Logik des Kapitalismus besagt, dass man mit allem Geld machen kann. Das gilt wohl auch für CO2-Zertifikate!?

Ja, sicher. Das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem wird versuchen, dem Klimawandel mit marktradikalen Instrumenten zu begegnen und auch dabei Gewinn zu machen. Man sollte sich fragen, ob es eine kluge Idee ist, darauf zu vertrauen, ob ein System, das uns wider besseres Wissen in eine existenzbedrohende Notlage gebracht hat, uns auch wieder daraus herausführen wird.

Ich glaube, es gibt keine Lösung im gegenwärtigen System. Wie gesagt, die Entscheidungsgrundlagen müssen verändert werden, fundamental. Ein Beispiel: Auch wenn Wasserstoff als Energieträger im Autoverkehr teurer ist als Elektroantrieb mit Batterien, sollte er genutzt werden, weil er aus Vernunftgründen die beste Lösung ist. Er ist aus Wasser mit erneuerbaren Energien herstellbar, man kann damit unter anderem Windenergie speichern, er ist im Luftverkehr einsetzbar, für Schiffe und so weiter. Das ist eine Zukunftstechnologie, auf die nicht ohne Grund auch Japan und Südkorea zentral setzen. Aber wer kann das bei uns entscheiden?

Die Abschaffung internationaler und nationaler Organisationen und Strukturen ist in allen westlichen Staaten im Rahmen der marktradikalen Privatisierung vorangetrieben worden, weil der Markt angeblich alles besser regelt. Diese Theorie ist an der Wirklichkeit gescheitert. Sie gehört auf den Müllhaufen der Geschichte. Wir haben das alle vor Augen: Die private Wasserversorgung ist eine Katastrophe und Einladung zur Erpressung, die deutsche Eisenbahn funktioniert mehr schlecht als recht, die Infrastruktur der USA verrostet und zerbröselt, weil zum Neoliberalismus auch Steuersenkungen gehören. In Chile hat der Staat die von ihm finanzierten Wasserwerke, Straßen und Krankenhäuser privatisiert. Dort bezahlt man jetzt mehr für Krankenversicherung, wenn man arm ist. Private Krankenversicherungen sind gut für Yuppies ohne Kinder. Aber Yuppies ohne Kinder sind nicht gut für die Rentenversicherung. Die Agenda 2010 hat keine Jobs geschaffen, von denen man leben kann. Und so weiter und so weiter.

Probleme wie den Klimawandel, die nur international gelöst werden können, werden von den marktradikalen Kräften mit PR-Maßnahmen bearbeitet. Der Marktradikalismus ist nicht in der Lage, sinnvolle Lösungen für das Überleben des Planeten zu schaffen. Er agiert nach dem Motto: nach mir die Sintflut – im Wortsinn. Er schafft kein planetares Bewusstsein und keine Strukturen, die uns überleben lassen könnten. Mit CO2-Zertifikaten oder einer CO2-Steuer werden wieder einmal die Kosten sozialisiert, nachdem die Gewinne privatisiert wurden. Das Problem müsste aber nach dem Verursacherprinzip behandelt werden. Wer am meisten von der Ölnutzung profitiert hat, sollte auch die meisten Kosten tragen.

Was passiert, wenn sich die Marktradikalen mit ihrer Verschleierungstaktik durchsetzen und wenn wir nicht sehr bald radikal umsteuern?

Das kann man sehr deutlich in den Analysen der NATO, der US-Militärs und seiner Thinktanks nachlesen. Ich habe einen Artikel in dem Buch dazu geschrieben, auch, weil man den US-Militärs ja schlecht unterstellen kann, Klimalügen zu verbreiten; weil die Klimaforschung durch den IPCC die knappen Budgets der Streitkräfte sichert, wie EIKE das bei den Wissenschaftlern behauptet.

Die US-Militärs wollen sich auf die Folgen der Klimaerwärmung vorbereiten, weil sie katastrophal sein werden, sie betrachten den "Klimawandel" als Thema der "Nationalen Sicherheit". Es geht um die Fluchtbewegungen vor dem Anstieg des Meeresspiegels, Dürre und Hitzezonen, Kriege um Wasser und Nahrungsmittel, Flüchtlingsströme von ungeahnten Ausmaßen. Die derzeitigen Anbauzonen der Nahrungsmittel werden verdorren, die nutzbaren Klimazonen verlagern sich in Richtung der Pole – also im Norden gen Norden, im Süden gen Süden. Dort sind aber keine Anbauflächen. Also werden Nahrungsmittel knapp. Das bedeutet Krieg ums Überleben. Darauf bereiten sich die Militärs vor. Durch ähnliche Kausalitätsketten, durch eine ökologische Krise, versiegende Ernten und die dadurch ausgelösten Kriege ist die Maya-Kultur innerhalb von 100 Jahren untergegangen. Die Mayas verstanden nicht, warum die Katastrophe kam.

Bei uns wird gelogen, um Zweifel am vorhandenen Wissen zu schüren.

Der Untertitel Ihres Buches lautet: "Den Planeten zu retten, heißt die herrschenden Eliten zu stürzen". Ist diese Botschaft nicht zu radikal? Treibt Sie nicht die Sorge um, dass viele gemäßigt denkende Menschen Ihnen darin nicht mehr folgen können?

Die Eliten haben bisher versagt, sie haben uns in die Situation gebracht, in der wir sind. Gibt es eine schlimmere Beurteilung als: Ihr habt unsere Lebensgrundlagen in Gefahr gebracht? Mehr Nachweis der Unfähigkeit ist nicht möglich. Dahinter steckt ja keine Unkenntnis, sondern Unwillen. Ich bin sicher, dass dieses Wirtschaftssystem am Ende ist. Die Frage ist, ob zuerst das Wirtschaftssystem oder die menschliche Zivilisation zusammenbrechen. Wir sollten darüber diskutieren, wie ein Wirtschaftssystem aussieht, das enkelkompatibel ist. Das Wirtschaftssystem darf sich selbst auf keinen Fall der höchste Zweck sein.

Die Wirtschaft soll die Lebensgrundlagen für die Menschen erzeugen, sie hat eine dienende Funktion. Wie kommen wir da wieder hin? Das sollten wir erproben. Man könnte in verschiedenen Bundesländern mit verschiedenen Varianten experimentieren, um zu sehen, was wirklich funktioniert, vom bedingungslosen Grundeinkommen mit landwirtschaftlichen Kooperativen über Stadtgärten, dezentrale Energieversorgung, Wasserstoff und Elektromobilität, Ausbau des öffentlichen Verkehrs, Holzbauten statt Beton – Zement ist ein Riesen-CO2-Produzent – und so weiter. Von mir aus können auch die Libertären experimentieren, die an den totalen Kapitalismus glauben, die behaupten, wir haben zu wenig Kapitalismus und immer noch zu viel Staat.

Das alles wäre auch ein Thema für die öffentlich-rechtlichen Medien, es entspräche ihrem Auftrag, das anzugehen: die Aufklärung über die Klimaerwärmung, auch Diskussionen über die wissenschaftlichen Grundlagen, über mögliche Maßnahmen zu informieren, Beispiele zu suchen, wer erfolgreich damit umgeht, und welche Vorschläge es gibt. Warum findet das nicht statt? Das ist doch unglaublich.

In den etablierten Medien findet man häufig den Vorschlag, Ökonomie und Ökologie zu versöhnen. Das Stichwort heißt "Grüner Kapitalismus". Mehrere Autoren in Ihrem Buch sind da skeptisch. Warum eigentlich? Wäre das nicht ein plausibler Vorschlag?

Ich habe Ende der 1970er-Jahre geglaubt, dass der ökologische Landbau sich durchsetzen wird, weil er lebende Böden produziert, weil er einfach besser ist, für die Menschen und die Natur, dass er sich in der Marktwirtschaft durchsetzen würde, weil er besser ist. Damals habe ich geglaubt, dass sich das Bessere in der Marktwirtschaft durchsetzt. Sancta simplicitas.

Aber nicht der Ökolandbau hat den Kapitalismus besiegt, sondern der Kapitalismus den Ökolandbau. Und in der Bio Company, die zum Beispiel hier in Berlin rasant expandiert, versuchen die Kassierer, einen Job bei Aldi zu bekommen, weil man dort besser verdient. Die Kunden sind Bildungsbürger mit großen Autos, die Produkte sind grün und die Ausbeutung flächendeckend. Das grüne Modell hat die Gesellschaft nicht wirklich reformiert, wenn man von Individualrechten für LGBT absieht, oder? Bei allen Fragen, die für das Klima relevant sind, ist sehr wenig bis nichts passiert.

Warum muss es eigentlich gegen den Kapitalismus gehen? Wenn man die Umweltbilanz der ehemaligen Ostblockstaaten anschaut – war dort nicht alles noch viel schlimmer?

Ich habe in den 1980er-Jahren gedacht, dass der Kapitalismus deutlich wandlungsfähiger ist als der Sozialismus. Die Lage in den kommunistischen Staaten war ja unter Umweltgesichtspunkten wirklich übel. Wenn es ein System schafft, so dachten viele, die ökologischen Probleme in den Griff zu bekommen, dann eher der Kapitalismus. Aber jetzt muss ich feststellen, dass die höchstentwickelte Form des Kapitalismus, der marktradikale Neoliberalismus, keine systemischen Lösungen für die Klimaerwärmung produziert, sondern in einen Informationskrieg gegen die Wissenschaft investiert, um noch ein paar Jahre so weitermachen zu können wie bisher.

Das einzige Land, bei dem ich erkennen kann, dass es in der Lage ist, das Problem substanziell anzugehen, ist China. China schafft es als einziges Land, seine vereinbarten Klimaziele zu erreichen, ohne großes Getöse, und es wird seine Ziele wohl deutlich übertreffen. Das hat mit der staatlichen Lenkung zu tun. China setzt auf erneuerbare Energien. Man kann sagen, dass China in dieser Hinsicht ein wirklich sozialdemokratischer Staat ist, während die europäischen Sozialdemokraten den Neoliberalismus übernommen haben. Man könnte auch sagen, ein reformierter Sozialismus hat sehr wohl eine Perspektive für die Zukunft, der Neoliberalismus aber nicht.

Was wäre also das Mittel der Wahl – eine veritable Revolution?

Ein neues Wirtschafts- und Gesellschaftssystem ist überlebenswichtig. Wir haben sehr wenig Zeit, das macht das Problem nicht geringer. Ich habe mit Professor Michael Mann, einem der wichtigsten Klimaforscher der Welt, darüber korrespondiert. Er meint, man könne wegen der Dringlichkeit nicht erst einen Systemwechsel propagieren, sondern müsse mit allen Kräften zusammenarbeiten, die bereits vorhanden sind, das Klimaproblem jetzt, sofort anzugehen. Das erinnert mich an die Fundi-Realo-Diskussion bei den Grünen. Tatsächlich haben die Realos das System nicht verbessert, sie sind vom System assimiliert worden.

Ich möchte Deng Xiaoping zitieren. "Es ist egal, ob eine Katze schwarz oder weiß ist. Hauptsache, sie fängt Mäuse." Und noch ein Zitat: "Suche die Wahrheit in den Fakten." Bisher hat der Neoliberalismus blühende Landschaften versprochen, aber nur zu einer Nagerplage geführt. Und er versucht, die Fakten zu verschleiern.

Greta Thunberg hat es ganz richtig gesagt: "Unser Haus brennt." Unsere Handlungen müssen adäquat zur Bedrohung sein.

Also: Wer das Klima rettet, hat recht. Aber bitte fangen wir endlich damit an, es zu retten.

Legen die Erkenntnisse aus Ihrem Buch nicht eine Ökodiktatur nahe? Muss die Freiheit dem Überleben unseres Ökosystems weichen?

Ich empfehle das Buch von Dirk C. Fleck: "GO! Die Ökodiktatur". Das ist eine Dystopie wie "1984", kein Handbuch. Aber wie "1984" zunehmend zu der Realität geworden ist, vor der George Orwell warnen wollte, wird auch Flecks Buch immer realistischer. Je weniger Zeit wir haben, die Dinge in den Griff zu bekommen, umso radikaler werden die Maßnahmen werden. Unsere Regierungen haben 30 Jahre verplempert. Ich will keine Diktatur. Ich will überleben. Ich will, dass meine Kinder eine Zukunft haben. Zwischen diesen Wünschen sollte, verdammt noch mal, kein Widerspruch entstehen.

Und ich behaupte: Die Öko-Diktatur werden die Neoliberalen einführen, nicht die Ökos. Dass jene vor den bösen Ökos warnen, ist lächerlich. Welche Macht haben sie denn? Wie viele Divisionen gehorchen ihrem Kommando? Welche Finanzinstitutionen dominieren sie?

Revolution? Blutvergießen? Das können die Neoliberalen. Die Neoliberalen werden die Katastrophe, die sie selbst zu verantworten haben, nutzen, um die Macht ein für alle Mal zu zementieren.

Wenn wir sie nicht daran hindern, wird unsere Zukunft dem Film "Elysium" ähneln.

Warum gehen viele Menschen den Wandel noch immer so schläfrig und halbherzig an? Stellen sie sich auf den Standpunkt "Besser in bekannten Höllen als in unbekannten Himmeln"?

Ja. Ich glaube, wir reagieren auf die Anforderung eines radikalen Wandels mit Angst vor der Veränderung. Es geht letztlich nicht ein bisschen vegan, weniger Fleisch, Elektroautos und CO2-Steuer.

Es geht darum, dass wir einsehen müssen, dass ein Zeitalter vorbei ist und ein neues beginnt, von dem wir noch nicht wissen, wie es aussehen wird. Nur: So geht es nicht weiter. Als klar war, dass die Erde nicht die Sonne umkreist, war das eine fundamentale Änderung des Weltbildes mit weitreichenden Wirkungen. Als klar wurde, dass wir ein Ergebnis der Evolution sind – ebenso. Wir ahnen, dass wir höchstwahrscheinlich nicht die einzige Intelligenz im Universum sind, auch wenn es dafür nüchtern betrachtet keinen Beleg gibt, sondern nur Wahrscheinlichkeiten. Falls sich dabei die Tatsachenlage ändert, wird auch das fundamental sein.

Der Klimawandel ist auch ein weiterer fundamentaler Wandel, im allerhöchsten Maße. Der Mensch ist in der Lage, seinen Lebensraum zu zerstören. Seine Herrschaftsformen spielen mit der nuklearen Vernichtung. Seine Wirtschafts- und Herrschaftsorganisationen zerstören den Lebensraum.

Wir müssen vernünftig werden. Das heißt: moderne Lakota. Wir müssen uns als eine Lebensform begreifen, die ihr Habitat schützen muss. Vor dieser massiven Veränderung haben viele Menschen wohl instinktiv Angst. Sie wollen, dass die Dinge so bleiben, wie sie sind. Wenn die Klimakatastrophe eine große Verschwörung ist, dann muss man keine Angst haben. Man muss nur die Feinde auf den Scheiterhaufen zerren, ganz fest die Augen schließen und hoffen, dass die Realität verschwindet.

Aber das wird nicht funktionieren. Und wer sagt eigentlich, dass die Zukunft, die uns bevorsteht, eine Verschlechterung für unser Leben sein muss? Jede Krise ist eine Chance. Wir können und müssen uns Gedanken über eine bessere, vernünftigere Welt machen. Das Nachdenken über Utopien – wörtlich: "Nicht-Orte" – ist auf einmal überlebensnotwendig und sehr vernünftig.

Diese Diskussion wollen Jens Wernicke und ich mit unserem Buch anschieben. Wir hoffen darauf, dass sich viele Menschen Gedanken machen – neue, verschiedene, eigene – und dann handeln. Zügig, aber nicht überstürzt. Es geht ums Ganze. Wir haben noch etwa 20 Jahre. Es gibt viel zu tun – packen wir's an. Weil: Esso hat versagt!

Haben Sie vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview erschien zuerst auf Rubikon.

https://www.rubikon.news/artikel/die-stunde-der-entscheidung

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