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Alexander Neu: Die NATO steckt seit Jahrzehnten in der Krise – da hilft keine Frischzellenkur

Der nun 70-jährigen NATO will der Bundesaußenminister eine Art "Frischzellenkur" verordnen. Verteidigungsexperte Alexander Neu sieht das als weiteren hilflosen Versuch, das Militärbündnis aufrecht zu erhalten. Mit RT Deutsch sprach er über Alternativen für die europäische Sicherheit.
Alexander Neu: Die NATO steckt seit Jahrzehnten in der Krise – da hilft keine FrischzellenkurQuelle: www.globallookpress.com

Nachdem der französische Präsident die Gemüter auch hierzulande erregte, indem er die NATO als hirntot bezeichnet hat, hielt die Bundeskanzlerin prompt dagegen, und Heiko Maas warb beim NATO-Außenministertreffen am Mittwoch in Brüssel für eine Art "Frischzellenkur". Gemäß der Initiative, welche Maas für das nunmehr bald 70-jährige Militärbündnis vorsieht, soll eine Expertenkommission Reformvorschläge erarbeiten. Die NATO müsse konzeptionell und politisch weiterentwickelt werden, sagte Maas. "Dazu brauchen wir politische Frischzellen – in einem Prozess, der zentrale transatlantische Fragen in den Blick nimmt." Den Vorsitz der Reformkommission soll dem Plan zufolge der amtierende Generalsekretär der transatlantischen Allianz, Jens Stoltenberg, innehaben.

Darüber, inwieweit das knapp 70-jährige Militärbündnis regeneriert werden kann und muss sprechen wir mit dem Verteidigungspolitiker Alexander Neu (Die Linke).

Bundesaußenminister Heiko Maas schlägt vor, die NATO konzeptionell und politisch weiter zu entwickeln – kann eine von Berlin initiierte "Frischzellenkur" das laut Paris vermeintlich "hirntote" Bündnis wiederbeleben?

Es gibt viele Vorschläge – ob die Partner darauf eingehen, ist die andere Frage. Letztendlich wirkt das eher wie ein hilfloser Versuch, das Militärbündnis aufrecht zu erhalten. Dabei hat es zu dem Ziel bereits zwei Metamorphosen der NATO gegeben, zuletzt hin zu einem weltweiten Interventionsbündnis. Das Problem ist, dass die NATO hinsichtlich der Anzahl seiner Mitglieder völlig überdimensioniert und entsprechend eine verstärkte Interessensdivergenz zu verzeichnen ist.

Dies zeigt sich bei der Türkei, die zunehmend eine eigenständige nationale Sicherheits- und Außenpolitik betreibt, was an sich nicht verkehrt ist, nur ist die Richtung dabei falsch. Aber daran sieht man, dass zentrifugale Kräfte in der NATO wirken, und ich glaube nicht, dass eine Frischzellenkur daran etwas ändern wird. Eher scheinen dies kosmetische Korrekturen zu sein, um sich selbst zu vergewissern, dass man etwas tut – ich glaube nicht, dass dies wirklich einen Effekt haben wird.

Nach dem NATO-Außenministertreffen zeigt sich aber Maas sehr zufrieden mit den Reaktionen der Bündnis-Partner auf seine Initiative. Spiegelt die Initiative ihrer Ansicht nach also einen Riss im transatlantischen Verhältnis wider, den Berlin nun zu kitten versucht?

Das transatlantische Bündnis ist seit dem Ende des Kalten Krieges in einer Krise. Ich erinnere mich, als ich noch Student an der Uni Bonn war, hieß es schon, dass es ein Legitimationsproblem gibt, seitdem der Ostblock weggefallen ist. Daraufhin musste man eine neue Aufgabe finden, um die NATO am Leben zu erhalten. Die NATO ist gewissermaßen wie ein Fahrrad, sie braucht Aufgaben, sie braucht Herausforderungen – ein Fahrrad muss fahren, sonst fällt es um und so ist es auch mit der NATO. Sie braucht also Gegner, an denen sie sich irgendwie abarbeiten kann. Seit einiger Zeit ist wieder Russland der Gegner, an dem man sich abarbeitet, aber natürlich insgesamt die Welt als Herausforderung. Dabei glaubt man aber intern gar nicht selbst daran, dass Russland ein Gegner ist.

Gleichzeitig muss man sagen, dass es fraglich ist, ob die existierenden Herausforderungen die NATO zu gemeinsamen Handeln bewegt. Daran habe ich meine Zweifel. Der Westen, den die NATO auch repräsentiert, ist in sich völlig heterogen und die Interessen gehen auseinander. Wir sehen also China aufkommen, als einen neuen Kraftakteur, wir sehen Russland zurück auf der Weltbühne, Indien formiert sich, Brasilien wird stärker, während der Westen sich zerlegt.

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Einmal zwischen den USA und Europa und dann zum anderen innerhalb Europas und sogar innerhalb der Europäischen Union. Man befindet sich somit in einer Phase, in der man gar nicht weiß, in welche Richtung es gehen wird. Und da möchte man natürlich an der NATO festhalten, aber ich glaube, dass die Geschäftsgrundlage für die NATO erodiert und das ist auch gut so.

Dabei werden doch genau die von Ihnen erwähnten Faktoren (China, Russland) derzeit wiederholt zur Existenzberechtigung der NATO herangezogen. Wenn Sie aber sagen, es sei gut, dass diese nicht mehr gegeben ist, welche Alternativen sehen Sie stattdessen zur Gewährleistung der Sicherheit?

Die Alternative ist das, was eigentlich Ende der 1980er Jahre unter Gorbatschow vorgeschlagen wurde, nämlich das "Gemeinsame Europäische Haus". Das Gemeinsame Europäische Haus sieht keine militärische Konfrontation von zwei Blöcken vor, es sieht keine Sicherheit auf Kosten der anderen vor, sondern es sieht gemeinsame Sicherheit vor. Das "Gemeinsame Europäische Haus" sah dies gewissermaßen vor, mit einem gemeinsamen sicherheits- und wirtschaftspolitischen Raum. Das fand der Westen solange interessant, bis der Ostblock kollabiert und die Sowjetunion zerfallen ist, danach wollte man davon nichts mehr wissen. Man war der Sieger, und hat die NATO weiter am Leben erhalten – künstlich.

Und ich glaube, dass es sinnvoll wäre, zu der gemeinsamen Sicherheit, also eines gemeinsamen europäischen Hauses unter Einschluss aller europäischer Staaten zurückzukehren, und wenn man sich die Geographie anschaut, ist Russland ein Teil Europas, zumindest bis zum Ural. Da macht es Sinn, dass man Sicherheit neu definiert, und zwar gemeinsame Sicherheit, nicht geteilte Sicherheit, also Sicherheit gegen andere. Und ich denke, das ist eine alternativlose Perspektive, alles andere schafft weitere Konflikte. Der Krieg in der Ukraine, die Zerschlagung Jugoslawiens waren Resultate der Fortexistenz der NATO. Das wäre wohl nicht passiert, hätte es seinerzeit eben dieses gemeinsame Sicherheitskollektiv für Europa gegeben.

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Als aktuelle Herausforderung fasst die NATO nun den Weltraum als Operationsbereich ins Auge – was halten Sie davon?

Man sieht ja, dass die NATO händeringend nach neuen Aufgaben sucht. Die USA haben ja bereits den Weltraum erobert und entsprechende Kommandozentralen, auch das Space und das Cybercommand, und das möchte man auch in der NATO verfolgen, Das heißt, eine Militarisierung des Weltraums unter Beteiligung nicht nur der USA, die darin schon aktiv sind, sondern auch unter Beteiligung der NATO.

Damit sollen weitere Gelder für die Rüstungsindustrie locker gemacht werden, damit möchte man eine neue Aufgabe perspektivisch zeigen wohin die NATO gehen soll – das sind verzweifelte Versuche Kitt zu schaffen, um die NATO zusammenzuhalten. Ich habe meine Zweifel, dass dies langfristig zum Erfolg führen wird. 

Apropos Geld locker machen – wie soll denn eine solche Weltrauminitiative finanziert werden?

Bislang ist das nicht im Verteidigungshaushalt niedergeschlagen. Das wird ja sicherlich demnächst geändert. Unsere Verteidigungs- beziehungsweise Militärministerin ist ja immer sehr eifrig, wenn es darum geht, Steuergelder fürs Militär rauszuschmeißen. Daher bin ich sicher, dass bereits im nächsten Haushalt 2021 in dieser Richtung etwas vorliegen wird, Satelliten oder anderes, das man weiter ausbauen möchte. Da mache ich mir, in Anführungszeichen, keine Sorgen.

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