Deutschland in der neuen Weltordnung: Außenpolitische Elite debattiert zukünftigen Weg
von Dennis Simon
Ekkehard Brose, seit Oktober dieses Jahres Präsident der Bundesakademie, begrüßte die im Presse- und Informationsamt der Bundesregierung versammelten in- und ausländischen Diplomaten, Experten, Akademiker und Journalisten. Er griff kurz einige wesentliche internationale Themen auf. Im Zentrum des Forums stehe die Handlungsfähigkeit Deutschlands. Er wies darauf hin, dass China im Osten seine Kräfte sammle und in die Welt hinaus greife. Der russische Präsident Wladimir Putin und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan seien die neuen starken Männer Europas. Auf diese, aus bundesdeutscher Sicht, bedrohlichen Entwicklungen sei die Antwort der deutschen Politik "Europa", womit in diesen Kreisen fast immer eigentlich die Europäische Union (EU) gemeint ist. Die Frage sei, so Brose, ob es dazu tatsächlich eine überzeugende Strategie gebe. Danach stellte er den Hauptredner des Vormittags vor, den luxemburgischen Außenminister Jean Asselborn.
Asselborn begann damit, zu erklären, dass Prinzipien, die lange als sicher galten, infrage gestellt würden, "vor allem von autokratischen Akteuren", wobei er geschickt umging, zu erwähnen, dass in den 1990er-Jahren es die westlichen Staaten waren, die etwa in Jugoslawien mehrfach die Prinzipien des Völkerrechts mit Füßen traten und etwa im Jahr 2011 in Libyen erneut diese Prinzipien missachteten. Schuld sind natürlich immer nur die anderen – kennt man aus dem Kindergarten.
Trotz seiner ziemlich einseitigen Betrachtung der Ereignisse nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion plädierte er für einen "Multilateralismus". Auch in der EU sei man auf "kollektive Lösungen" für "globale Probleme" angewiesen. Nach diesem Moment der geistigen Klarheit präsentierte sich der gute Mann jedoch gleich als Ritter des Wertewestens: Das "europäische Modell des internationalen Rechtsstaats" strahle in die ganze Welt aus. Abgesehen davon, dass es keine Entsprechung des merkwürdigen Konstrukts eines "internationalen Rechtsstaats" im Völkerrecht gibt, offenbaren solche pathetischen Äußerungen nur, wie realitätsfremd manche Vertreter des Westens mittlerweile sind. Das Ansehen der westlichen Staaten sinkt nach Jahrhunderten der kolonialen Ausbeutung und westlichen Besserwisserei in den Staaten Asiens, Afrikas, Lateinamerikas und auch in Süd- sowie Osteuropa zunehmend. Dagegen interessieren sich diese Länder zunehmend für alternative Entwicklungsmodelle, etwa wie sie von der Volksrepublik China praktiziert werden. Die Welt wird auch in dieser Hinsicht multipolar.
Asselborn stellte auch sofort klar, wozu das Ideal des "internationalen Rechtsstaats", den die EU hochhalte (dazu könnten vielleicht die Gelbwesten ein Liedchen singen), dient: Man dürfe nicht erlauben, dass dieses Image aus dem Inneren der EU heraus angekratzt werde, womit er indirekt etwa die Regierungen Ungarns und Polens meinte. Sonst würde die EU ihre "Seele" verlieren. Angesichts der Bedrohung von "Autokraten" gebe es in der EU keinen Raum für eine "Flexibilisierung des Rechtsstaates". Er differenzierte noch mal zwischen "Autokraten", die die UN-Ordnung direkt hinterfragen würden, und jenen, die ihm zufolge nicht direkt gegen die UN auftreten, sondern die "fortschrittlichsten" internationalen Bestrebungen blockieren – der kritische Leser wird wissen, aus welchem Erdteil diese wohl in den Augen des Herrn Asselborn kommen.
Der luxemburgische Außenminister erklärte, dass weder die uni- noch die bipolare Welt die Versprechungen der UN-Charta erfüllen konnten. Zudem sagte er, in Anspielung auf die Klimaproteste, dass ein grenzenloses Wachstum auf einem Planeten mit begrenzten Ressourcen nicht möglich sei. Auch warnte er vor "populistischen" Reaktionen angesichts der jüngsten Migrationswellen. Auch gebe es zwischen beiden Phänomenen eine Wechselwirkung: Die Klimaveränderung werde zu neuen Migrationswellen führen, die wiederum zu sicherheitspolitischen Problemen führen würden.
Asselborn kritisierte das Zusammenbrechen des INF-Vertrages und warnte vor einer Nichtverlängerung des New-START-Vertrages. Die Sicherheit von Europa sei in Gefahr. Der hochrangige luxemburgische Politiker ging jedoch mit der Wahrheit ein wenig zu liberal um, als er behauptete, dass sowohl Russland als auch die USA den INF-Vertrag gekündigt hätten. Fakt ist nämlich, dass die Bestrebungen, den INF-Vertrag abzubrechen, ganz klar von den USA ausgingen. Im Oktober letzten Jahres hatte US-Präsident Donald Trump angekündigt, sich aus dem Vertrag zurückzuziehen, was Anfang Februar dieses Jahres dann auch geschah. Auf verschiedene Vorschläge Russlands, technische Inspektionen durchzuführen, um die Bedenken von der US-Seite gegen einige russische Waffensysteme anzusprechen, ging Washington nicht ein. Während die USA zielstrebig auf die Kündigung des INF-Vertrages hinarbeiteten, versuchten die Russen, ihn zu retten. Das sind die Fakten.
Angesichts der Tatsache, dass sich die Partner der EU zunehmend vom Multilateralismus abwenden würden, müssten die "Europäer" ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen. Die EU müsse ihre außenpolitischen Aktivitäten erhöhen. Auch müsse die "Solidarität und Loyalität (!)" von EU-Mitgliedsstaaten gewährleistet sein. Dies brachte ins Spiel, außenpolitische Entscheidungen zukünftig nicht mehr wie bisher einstimmig, sondern mit qualifizierter Mehrheit durchzuführen. Dies sei nötig, um angesichts der zunehmenden Aktivitäten von "Drittländern" in der EU deren Einfluss zu verringern. Damit ist vor allem China gemeint, das eine Reihe von Großinvestitionen in süd- und osteuropäischen Staaten tätigt.
Der luxemburgische Außenminister verurteilte deutlich die türkische Militäroperation in Nordsyrien als Verstoß gegen das Völkerrecht. Der türkische Einmarsch sei eine "Vergewaltigung des internationalen Rechts", er schwieg jedoch dazu, dass die EU-Staaten Frankreich und Großbritannien ebenfalls völkerrechtswidrig in Syrien militärisch aktiv sind, ebenso wie der NATO-Partner USA.
Auf Asselborns Rede folgte das erste Podium. Als Erstes sprach die Direktorin der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Daniela Schwarzer. Ihr zufolge wurden der wirtschaftliche und politische Aufstieg Asiens in den internationalen Institutionen nicht angemessen widergespiegelt. Jetzt würden daher neue, alternative Institutionen entstehen, wie die von China angetriebene Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB), und alte Institutionen infrage gestellt. Der wesentliche Unterschied zwischen den alten, überwiegend vom Westen geprägten Institutionen des Bretton-Woods-Systems (hauptsächlich die Weltbank und der Weltwährungsfonds) zu den neuen, chinesisch geprägten sei, dass diese neuen Institutionen bei der Kreditvergabe nicht auf Konditionalität bestehen würden.
China, so die DGAP-Direktorin, stehe in einem "offenen Systemkonflikt" mit dem westlichen Modell. Peking habe eine starke Präsenz in Afrika und übe Einfluss auf einzelne EU-Staaten aus. Trotzdem bestünden mit China gegenseitige Abhängigkeiten, und es gebe teilweise übereinstimmende Interessen. Auf der Oberfläche sehe die parallele Betonung von Multilateralismus seitens der EU und Chinas positiv aus, jedoch habe China grundsätzlich andere Wertmaßstäbe als die EU. Die Lage werde weiter dadurch kompliziert, dass die USA für die EU in vielen Fragen wegfalle.
Später fügte Schwarzer hinzu, dass Macrons (von den westlichen Eliten so empfundene) prorussische Rhetorik problematisch sei. Es müsse zwischen Frankreich und Deutschland eine Verständigung zur Russlandpolitik geben. Man könne nicht zwei Linien haben. Die DGAP-Direktorin erklärte zudem, dass eine Abkoppelung der EU von den USA unrealistisch sei. Eine EU-Autonomie sei höchstens als Fernziel vorstellbar.
Fritz Felgentreu, außen- und sicherheitspolitischer Sprecher der SPD, griff viele der Themen, die Schwarzer benannt hatte, auf. Die Macht der EU müsse ausgebaut werden. Man könne sich, so Felgentreu, allein auf die US-Amerikaner nicht mehr stützen, aber die EU habe keine eigenen Machtmittel. Zudem sei sich die EU nicht einig. Er erwähnte, dass in den 70er- und 80er-Jahren eine Aufweichung des Kalten Krieges erreicht werden konnte. Dies sei jedoch nur möglich gewesen, indem der Westen entschlossen auftrat und die machtpolitische Basis dafür zuvor sicherte. In der Diskussion fügte Felgentreu hinzu, dass die EU zwar theoretisch einen Pol in einer multipolaren Welt bilden könnte, sie sei aber dafür zu schwach und dezentralisiert. Die EU werde nicht in der Lage sein, ein eigenes Profil in der Weltpolitik zu bilden, sondern stattdessen eher zu den USA neigen.
Markus Kerber, Staatssekretär im Innenministerium, sprach von dem Ende der "Fukuyama-Welt". Die Rolle der USA ändere sich. Doch der "Rückzug" Washingtons aus seiner internationalen Führungsrolle sei ein Trend seit dem sogenannten Nixon-Schock des Jahres 1971, als US-Präsident Richard Nixon plötzlich einen Teil des seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bestehenden Bretton-Woods-Systems aufkündigte, nämlich die direkte internationale Konvertibilität des US-Dollars zu Gold.
Allerdings entging dem Spitzenbeamten, dass das, was er als "Rückzug" der USA von ihrer Rolle als angeblich wohlwollendem Hegemon bezeichnet, tatsächlich nur der wiederholte Versuch der US-Eliten ist, die dominante Rolle der USA unter veränderten Umständen aufrechtzuerhalten. Tatsächlich gibt es seit vielen Jahren unter US-Strategen eine Debatte, wie man verhindern kann, dass ein anderer Staat die USA als mächtigste Nation ablöst. Der Anteil jener, die einen wirklichen Rückzug aus der internationalen Politik befürworten, ist gering. Auch Donald Trump setzt – trotz seiner Rhetorik – ja nicht wirklich darauf, die US-Hegemonie abzubauen. Das zeigt die Bereitschaft, Wirtschaftskriege und Sanktionen einzusetzen, um missliebige Staaten zu bestrafen. Vor allem sein Versuch, China zu erpressen und zu schaden, spricht Bände. Trump setzt nur andere Mittel ein, um zu versuchen, die US-Hegemonie zu erhalten. Angesichts der Tatsache, dass sich das reale Kräfteverhältnis in der internationalen Politik in den letzten Jahrzehnten wesentlich verändert hat, müssen die USA natürlich immer öfter Niederlagen einstecken und Kompromisse eingehen.
Seit der großen Wirtschaftskrise ab 2007 habe, so Kerber, ein Umdenken in der westlichen Politik stattgefunden. Märkte, so der neue Konsens, müssten reguliert werden, sonst drohe eine Selbstdestruktion. Die EU, um tatkräftig zu sein, müsse sich auf die Führung durch zwei bis drei wohlwollende Hegemone orientieren. Es liege im Interesse der EU, den Raum von Marokko bis zum Iran zu "stabilisieren".
Als es um Russland ging, waren die meisten Panelisten sich einig, getreu dem westlichen Leitnarrativ, dass es hybride Kriegsführung betreibe und politische Morde in westlichen Staaten in Auftrag gebe. Zu einer selbstkritischen Infragestellung des westlich-liberalen Mantras sind die außenpolitischen Eliten der EU anscheinend noch nicht fähig. Dieses Defizit, Vorgänge objektiv zu betrachten, Selbstkritik zu üben und die Sichtweise des anderen ernsthaft in Betracht zu ziehen, wird den EU-Eliten einen realistischen Umgang mit der neuen Situation in der internationalen Politik, in der nicht-westliche Akteure eine immer wichtigere Rolle spielen, erschweren. Es ist ein selbstgemachtes Defizit. Die Hybris des Westens wurde in einem Kommentar Schwarzers deutlich, in der sie davon sprach, dass Russland Grenzen verändere, womit es die Nachkriegsordnung infrage stelle. Sie verschwieg jedoch, dass es die westlichen Staaten waren, die mit der völkerrechtswidrigen Zerstückelung Jugoslawiens, mit ihren völkerrechtswidrigen Einsätzen in Libyen und später in Syrien selbst zuerst die Nachkriegsordnung infrage stellten.
Armin Laschet, CDU-Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens, eröffnete die Sitzung am Nachmittag. Er sprach Deutschlands Exportabhängigkeit und die Abhängigkeit von Rohstoffen an, denn es seien vor allem die exportorientierten Industriezweige, die den Wohlstand hierzulande sichern. Deswegen müsse sich Berlin für sichere Handelswege einsetzen. Entwicklungen wie die Errichtung von "Einflusssphären" im Südchinesischen Meer und Piraterie seien daher für Deutschland besonders gefährlich.
Laschet verwies darauf, dass nach 1990 das grundsätzliche Vertrauen der Westeuropäer in die USA allmählich gesunken sei. Die USA werden aber, so der CDU-Politiker, weiterhin die stärkste Macht in der NATO bleiben und wirtschaftlich wie militärisch langfristig die Nummer eins bleiben.
Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident brachte auch selbstkritische Gedanken zum Ausdruck. Er sagte, dass es von Anfang an in Syrien neben einer zivilen Opposition auch dschihadistische Gruppen gegeben habe. Die Russen hätten davor gewarnt, dass ihnen bekannte Kämpfer aus Tschetschenien dorthin gesiedelt seien. Die Erfahrung der letzten fünfzehn Jahre zeige, dass die Politik des Regime Change erfolglos geblieben sei und dass man von ihr abkommen müsse. Die EU solle stattdessen darauf orientieren, wie es die Region stabilisieren könnte. Denn das durch den Regime Change verursachte Chaos hätte zur Massenmigration in die EU-Staaten geführt.
Hinsichtlich China plädierte er dafür, gemeinsame Anliegen wie freien Handel und multilaterale Lösungen für internationale Probleme hochzuhalten. Er äußerte jedoch Bedenken gegen eine angebliche chinesische Einflussnahme in anderen Staaten. Mit Russland solle die EU bei gemeinsamen Themen zusammenarbeiten, etwa bei der CO2-Reduzierung, man solle jedoch die "Grenzverschiebung" nicht anerkennen. Eine Lösung in Syrien sei nur mit Russland möglich.
Laschet zufolge soll man den "Draht zu den Vereinigten Staaten nicht verlieren". Man dürfe die NATO nicht leichtfertig aufgeben. Bei einem späteren Panel griffen weitere Redner dieses Anliegen auf.
Insgesamt prägte die Ratlosigkeit der westeuropäischen Eliten zur zukünftigen Rolle Deutschlands das Diskussionsforum. Definitive Antworten konnten auf die am Anfang benannten Leitfragen nicht gefunden werden. Die Debatte über Berlins zukünftige Ausrichtung angesichts der neuen geopolitischen Prioritäten der USA und der zunehmenden Rolle von nicht-westlichen Staaten in der internationalen Politik wird weitergehen.
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