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Militäranalyst: Wahrheit über angebliche russische INF-Abkommensverstöße interessiert USA nicht

Die USA haben laut einem russischen Raketen-Experten im Gespräch mit RT Deutsch kein Interesse am Dialog mit Russland. Der Rückzug aus dem INF-Vertrag wird das russische Militär zur Entwicklung neuer und äquivalenter Raketensysteme zwingen, obwohl Moskau am Vertrag festhalten möchte.
Militäranalyst: Wahrheit über angebliche russische INF-Abkommensverstöße interessiert USA nichtQuelle: AFP

von Ali Özkök

RT Deutsch hat mit dem Militäranalysten Alexander Ermakov gesprochen, der sich auf militärische und geopolitische Auswirkungen von Raketensystemen spezialisiert hat. Er ist als Experte beim 'Russischen Rat für Internationale Angelegenheiten' tätig.

Die USA behaupteten, dass die Rakete 9M729 für die russische Verletzung des INF-Vertrags verantwortlich wäre. Russland bot den USA an, diese Rakete zu untersuchen. Warum lehnen die USA das Angebot ab?

Das offensichtliche und bewusste Desinteresse der US-Seite an einem Dialog macht deutlich: Die Wahrheit über die angeblichen Abkommensverstöße durch Russland interessiert die USA nicht. Die angeblichen Verstöße dienen lediglich als Vorwand für den Rücktritt vom INF-Vertrag, der von der US-Seite als Hindernis für die Stärkung der militärischen Macht angesehen wird.

Russland präsentierte diese Rakete sogar der Öffentlichkeit. US-Vertreter distanzierten sich schnell und informierten im Voraus, dass bei der russischen Veröffentlichung nichts bewiesen wurde, weil die russische Seite a priori lügen würde, und dass sie die angeblichen Verstöße für eine erwiesene, nicht diskutierbare Tatsache halten. Die Expertengemeinde kritisierte auch, dass der Marschflugkörper in einem Transport- und Startbehälter "verpackt" gezeigt wurde, aber das ist nicht von kritischer Bedeutung. Denn wäre die Rakete in ihrer Gesamtheit gezeigt worden, würde man ja auch immer noch behaupten können, dass es eine "falsche" Rakete war. Das russische Militär zeigte den Marschflugkörper wahrscheinlich darum nur im Container, weil es seine Kopfsegmente verstecken wollte. Sie weisen möglicherweise externe Merkmale auf, die die zusätzlichen Fähigkeiten der Rakete preisgeben würden.

Andrea Thompson, die US-Unterstaatssekretärin für Rüstungskontrolle, behauptete in einem Interview, dass "Russland ein neues Wettrüsten begonnen hat". Wie beurteilen Sie diese Aussagen und inwieweit kann es sein, dass gerade die USA ein Interesse daran haben könnten, Russland in ein Wettrüsten hineinzuziehen wie im Kalten Krieg?

Ich werte das als einen Versuch, die Schuld am Zusammenbruch des Vertrages und am entstehenden Raketenrüsten auf Russland abzuwälzen. Hier sei daran erinnert, dass die USA den Zerfall des INF-Vertrages eingeleitet haben: Sie haben unmögliche Forderungen in destruktiver Form gestellt. Darunter fallen Ultimaten, die demonstrative Verweigerung des Dialogs und ein Mangel an öffentlichen Beweisen gegen Russland. Gleichzeitig: Nehmen wir einmal an, die Position der USA sei korrekt. Dann würde das doch heißen, dass Washington die angeblichen russischen Abkommensverletzungen schon sehr lange kennen müsste. Warum reagierte die Regierung aber erst nach dem Regierungswechsel von Obama zu Trump? Das sind Fragen, die skeptisch stimmen.

Russland kritisiert seinerseits, dass die Vereinigten Staaten ein Raketensystem in Rumänien stationierten, das nicht mit dem INF-Vertrag vereinbar ist. Können Sie erläutern, was das Problem ist?

Zu den sogenannten Aegis-Ashore-Raketenabwehrsystemen, von denen eines bereits in Rumänien im Einsatz ist und ein anderes in Polen fertiggestellt wird, gehören Universalabschussrampen des Typs MK-41, mit denen Langstrecken-Marschflugkörper des Typs Tomahawk gestartet werden können. Die russische Seite ist der Meinung, dass die USA dadurch gegen den INF-Vertrag verstoßen. Die US-Seite bestreitet dies und erklärt, dass diese in Containern montierten Onshore-Startrampen noch nie in dieser Eigenschaft getestet worden seien, und dass die Raketenabwehrsysteme als solche nicht über die entsprechende Software und Ausrüstung verfügen.

Es sollte zu Recht darauf hingewiesen werden, dass es wirklich keinen praktischen Sinn macht, Aegis Ashore mit Marschflugkörpern auszustatten. Jeder der vielen US-Zerstörer oder Kreuzer hat mehrere Startrampen und bietet gleichzeitig ein ungleich schwereres Ziel, aber aus formaler Sicht ist die russische Position hier ziemlich stark.

Unter anderen Bedingungen hätte dieses Problem im Laufe eines Dialogs gelöst werden können. Möglicherweise durch eine gegenseitige Demonstration der Systeme, wie Moskau sie kürzlich vorgeschlagen hat. Aber jetzt braucht das offenbar niemand mehr.

Existieren aus russischer Perspektive Gründe, warum man überhaupt den INF-Vertrag hätte brechen wollen, der ein Raketengleichgewicht zwischen den beiden größten Atommächten der Welt garantiert?

Nein, wir können ganz sicher sagen, dass das langfristige Entwicklungsprogramm der russischen Streitkräfte auf der Annahme beruhte, dass der INF-Vertrag fortbestehen würde – und genau deshalb wäre man selbst mehr als naiv, mit der Massenproduktion von Waffensystemen zu beginnen, die das Abkommen verletzen. Doch ironischerweise werfen die USA genau das Russland vor.

Es gibt noch andere wichtige Rüstungsabkommen wie den START-Vertrag (Strategic Arms Reduction Treaty). Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass die USA auch dieses Abkommen kündigen werden?

Die Vereinigten Staaten werden das New-START-Abkommen mit ziemlicher Sicherheit nicht beenden. Aber andererseits sieht es auch nicht so aus, als würden sie es nach seinem Ablauf im Jahr 2021 verlängern.

Welche militärischen Schritte wird Russland nach Aufkündigung des INF-Vertrages erwägen?

Es ist wahrscheinlich, dass Russland mit der Einführung von Raketensystemen beginnen wird, die ähnliche Fähigkeiten wie die entsprechenden Systeme der Vereinigten Staaten aufweisen. Eine der einfachsten Maßnahmen ist die Entwicklung eines bodengestützten Systems mit Kalibr-Marschflugkörpern. Das ermöglicht es, kostengünstig und effektiv sozusagen die Masse der Raketensalven zu erhöhen, ohne auf Probleme im Schiffbau Rücksicht zu nehmen. Ironischerweise werfen die USA Russland bereits genau das vor.

Längerfristig wird es eine ernstere Aufgabe sein, ein Waffensystem mit einer ballistischen Mittelstreckenrakete zu entwickeln, möglicherweise mit einem gelenkten Wiedereintrittskörper, also mit einem Hyperschall-Gleitflugkörper, wenn man so will.

Was wäre Ihrer Meinung nach eine geeignete russische militärische Reaktion auf einen möglichen US-Einsatz von neuen landgestützten Marschflugkörpern in Europa?

Voraussichtlich wird die Entwicklung und Produktion neuer Raketensysteme unabhängig davon erfolgen, ob es offizielle Pläne für den Einsatz von US-Systemen in Europa gibt oder nicht. Russland sollte davon ausgehen, dass diese Pläne jederzeit in Kraft treten können. Diesen Standpunkt hat bereits Sergei Rjabkow geäußert, der im Außenministerium diese Angelegenheit überwacht.

Auf der anderen Seite kann die Entwicklung neuer Systeme auch dazu verwendet werden, den Einsatz von US-Raketen in Europa zu rechtfertigen – leider ist dies ein gegenseitig stimulierender Prozess.

Falls neue US-Raketensysteme nun doch nicht in Europa stationiert werden, wird möglicherweise auch Russland seine neuen Systeme demonstrativ fernab seiner Westgrenzen im Osten des Landes stationiert halten und entsprechend erst im Falle eines Einsatzes in den europäischen Teil seines Landes überführen. Dies sind jedoch bereits politische Schritte – und die NATO-Seite kann zu Recht feststellen, dass der Stationierungsort von geringer Bedeutung ist, da es möglich ist, die Systeme sehr schnell zu verlagern.

Einige Länder in Europa, darunter Frankreich und Deutschland, stehen der Ankündigung der USA, den INF-Vertrag aufzuheben, skeptisch gegenüber. Inwieweit können sie eine US-Raketenausbreitung in Europa behindern und welche Auswirkungen könnte das auf den Zusammenhalt der NATO haben?

Das werden sie nicht können. Ich bin überzeugt, dass die USA, wenn sie Raketen in Europa einsetzen, nicht nach einer konsolidierten Lösung für die gesamte NATO suchen werden, sondern sich auf bilateraler Basis mit einzelnen Ländern einigen werden. Zum Beispiel mit den schon genannten Ländern Polen und Rumänien. Frankreich und Deutschland, wenn sie wirklich strikt dagegen sind, werden hier höchstens über die EU Druck ausüben können. Und die Wirksamkeit des Drucks der EU auf Polen ist, gelinde gesagt, schwach. Das sehen wir auch in kleineren Belangen, wo Warschau keine Unterstützung aus Washington erhält.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

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