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Über die Russenpeitsche, die byzantinische Finsternis und das Rätsel der russischen Seele – Teil 2

Zwischen Russophilie und Russophobie. In einem vierteiligen Essay zeichnet RT Deutsch die Geschichte des Russlandbildes im Westen nach. Teil 2 beschreibt das Bild Russlands als einem Ort der Sehnsucht, Schwärmerei und Utopie – Russland als Alter-Ego des Westens.
Über die Russenpeitsche, die byzantinische Finsternis und das Rätsel der russischen Seele – Teil 2Quelle: www.globallookpress.com

von Günther Hirsch

Weitere Teile dieser Serie:

Teil I – Das neue Russland-Feinbild

Teil III – Russlands blutige Geschichte und das Erbe des Römischen Weltreichs

Teil IV – Moskau als "Drittes Rom" und Putin als Synonym für Russland

Teil II – Die Russophilen und Russland als Alter-Ego des Westens

Über das russische Wesen ist viel Verächtliches wie Bewunderndes geschrieben wurden.

Von Winston Churchill ist der Ausspruch überliefert, Russland sei ein Rätsel innerhalb eines Geheimnisses, umgeben von einem Mysterium. Auch Heinrich Böll beschwor die Existenz einer russischen Seele, die sich ihrer komplexen Natur wegen jedoch einer näheren Beschreibung entzöge. Der 1974 nach seiner Ausweisung bei ihm in seiner Sommerresidenz zeitweilig untergebrachte Alexander Solschenizyn galt übrigens auch als "Slawophiler", einem Zweig der russischen Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts mit Ablegern nach Deutschland, welche durchaus als Vorläufer der späteren, sogenannten "Russophilen" gelten können.

Die Slawophilen beharrten in einem Richtungsstreit mit den damals schon sogenannten "Westlern" und den "Nihilisten", die sie für ideologische Abkömmlinge des liberalen Denkens hielten, auf einem originären Weg Russlands, die "russische Idee" genannt, aufgrund seiner geschichtlichen und geografischen Sonderstellung.

Ihr Zentrum waren die Literatursalons Moskaus der Jelagins, der Swerbejews, der Pawlows. Der wahre, ursprüngliche Glaube, der in die Rus aus der Oströmischen Kirche gekommen sei, bedinge ihrer Meinung nach eine historische Sondermission des russischen Volkes. Das Prinzip der Konziliarität (freie Gemeinschaft, Kollektivität und Genossenschaftlichkeit), das für die Existenz der Östlichen Kirche charakteristisch sei, sahen die Slawophilen in der russischen Gesellschaft zutiefst verwurzelt und begründeten damit frühsozialistische Utopien eines gerechten Idealstaates. (Wobei wir hier die Religion in einem sehr weiten Verständnis begreifen sollten. Sie beriefen sich in ihren Ideen auch auf eine eher platonische Geistesgeschichte im Gegensatz zur aristotelischen, welche sie dem Westen zuordneten.)

Frühsozialistische Utopien

Die Slawophilen waren jedoch mitnichten nur politische Reaktionäre oder konservative Erneuerer mit religiösen Phantasien, sie waren durchaus auch revolutionäre Vorläufer und wurden erbarmungslos verfolgt für ihre Forderungen nach Aufhebung der Leibeigenschaft und wegen ihrer Ideen von Volksaufklärung und der Verteilung des Bodens an die Bauernschaft. So, wie sich stets auch die russischen Intellektuellen und Literaten mit den Ärmsten und Elendesten solidarisierten, und damit zu Revolutionären oder zumindest zu Sympathisanten dieser wurden und teils dafür auch bitter büßen mussten mit Exil, Verbannung oder Tod, erging es auch den meisten der Slawophilen.

Viele ihrer frühsozialistischen Utopien erwuchsen, wie etwa bei Ivan Kireewskij, einer schonungslosen Analyse des eigenen Staatswesens, aber auch dem Konflikt, in den der Mensch mit dem Anbruch der westlichen Moderne geriet. Sie kannten nicht nur die Schilderungen Dostojewskis, in denen er die Pariser und vor allem Londoner Massenverwahrlosung beschrieb und mit Abscheu vom Materialismus europäischer Großstädte sprach. Die Slawophilen der zweiten Generation, ab etwa 1850, hatten selbst lange Jahre ihres Lebens in den Hauptstädten Westeuropas zugebracht, waren bestens vertraut mit deren Sprachen, Literaturen und ihrer Lebens- und Geisteswelt. Was Dostojewski, Bakunin, Solowkow, Turgenew, Alexander Herzen, später auch Dimitri S. Mereschkowski und viele andere in ihren Schriften als ein Menetekel des säkularisierten, frühkapitalistischen Staatswesens zeichneten, begriffen die Slawophilen als Verfallssystem der westlichen Moderne schlechthin und machten es zu einer zentralen Konstante ihres frühsozialistischen Weltbildes.

Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein bleibt dieses Weltbild ein quasi religiöses – und selbst auf die Ideenwelt der Bolschewiki blieb es nicht ohne Einfluss. Ihre Utopie vom "Neuen Menschen" (immer auch eines anti-westlichen Menschen), die Hinwendung zu einem utopiebeladenen Jenseits, weist geradezu messianistische und chiliastische Elemente mit religiöser Emphase auf, bis hin zu den Ideen eines Orthodoxen Sozialismus der Menschewiki, welcher durchaus hätte Realität werden können, wäre nicht im Jahr 1903 beim Londoner Parteitag, auf dem sich die SDAPR spaltete, nicht die Leninsche Bolschewiki mit äußerst knapper Mehrheit als Sieger aus der Richtungsabstimmung hervorgegangen.

Laut deutscher Wikipedia wurde der Begriff "Slawophile" in Deutschland geprägt, "wo Johann Gottfried Herder und Friedrich Schelling sich für ein heldenhaftes Slawenideal begeisterten und wo auch viele der Slawophilen studiert hatten".

Die Denker Russlands und des Westens standen seit dem frühen 16. Jahrhundert in regem Austausch. Leibnitz, der Zar Peter I. mehrfach getroffen hatte, rühmte Russland als "Tabula Rasa", wo man unzählige Fehler Westeuropas vermeiden könne. Bereits um 1860 bereisten mehr als eine Viertelmillion Russen das westliche Ausland.

Es waren nicht zufällig vor allem die Vertreter des deutschen Idealismus, die Wahlverwandtschaften zu den russischen Intellektuellen ihrer Zeit pflegten und denen Russland als eine Art Gegenentwurf zum Westen galt. Es waren auch die Vertreter einer nachkantischen Bewegung, welche sich in Gegensatz zu Kants kritizistischem Ansatz stellten und religiöse Persönlichkeitskonzepte zwischen Gegenmoderne und Antimaterialismus verfochten.

Individualität vs. Kollektivität

Die Slawophilen, deshalb von einigen als Gegenaufklärer begriffen und missverstanden, setzten dem westlichen Individualitätsbegriff eine aus der Ortodoxie begründete, positiv besetzte Kollektivität entgegen, welche die Demut (smirenie) als höchste Tugend versteht. Die Gemeinschaftlichkeit (sobornost), stellen sie dem als Hybris begriffenen Individualtätsstreben entgegen und betrachteten sie als Russlands wesensgemäße Organisationsform. Die dem zugrunde liegende Versöhnung von Einzel- und Kollektivinteressen sei dem Westen, mit seinen dichotomischen Persönlichkeitskonzept unbekannt.

Während das westliche Persönlichkeitskonzept auf aristotelische Wurzeln zurückgehe, sich in oberflächlicher und abstrakter Vernunft sowie schrankenlosem Subjektivismus erschöpfe und zur Legitimation des Strebens nach Privatbesitz missbraucht werde, schöpfe die russische Persönlichkeit aus platonischen Quellen und stelle den Wert einer "inneren Entität" über den Wert einer letztlich zur Aufsplitterung führenden materiellen Emanzipation. Iwan Kireewski schrieb: "Der westliche Mensch zersplittert sein Leben in einzelne Bestrebungen und erscheint, auch wenn er sie verstandesgemäß in eine gemeinsame Gefangenschaft bündeln kann, doch in jeder Minute seines Lebens als ein anderer", er sei also in Wahrheit ein Dividuum und das so verstandene Individualitätskonzept ein betrügerisches.

Vereinfachend zusammengefasst lässt sich über den Kosmos ihrer Ideen sagen: Die Slawophilen, bestens vertraut mit dem westlichen Denken, hielten diesem das Prinzip des gemeinschaftlichen Besitzes entgegen – eine Idee, die sie erst viel später bei den Marxisten wiederfanden. Dieser von ihnen kultivierte Topos der Gemeinschaftlichkeit rührt über alle Zeiten und politischen Systeme hinweg tief an das russische Selbstverständnis. Zum anderen richtete sich ihre Kritik gegen eine oberflächliche, abstrakte, subjektivistische Vernunft, welche zur Anhäufung von privatem Besitz missbraucht werde. Und sie wehrten sich gegen jedes dichotomische Konzept der Aufspaltung und Gegeneinanderstellung von bloßen Interessen, wie es der historische Materialismus tat. Sie akzeptierten nicht die Dichotomien zwischen Individuum und Gesellschaft, die sie für ein Ergebnis eines falschen Identitätskonzeptes hielten, auch nicht die (nicht gerade originelle) Dichotomie von Geist und Körper, der sie eine Vergeistigung des Fleisches und eine Verleiblichung des Geistes (Mereschkowski und Nietzsche) vorwarfen, und letztlich auch nicht den Gegensatz zwischen Ost und West, welchen sie auf das Schisma zurückführten, durch die der Westen von seinen eigenen altchristlichen Wurzeln abgeschnitten sei.

Diese Auffassungen gingen in das russische Philosophische Denken ein: von Dostojewskis Überzeugung vom russischen Menschen als synthetischer, zur Weltvereinigung berufener Kraft in der Geschichte, bis zu Wladimir Solowjow, zuletzt gar im Sinne der "Theokratie eines metaphysischen Sozialismus". Die Slawophilen strebten, wie Thomas Mann anmerkte, stets zur Synthese, was auch nicht wunder nehme bei einem Land mit einem so weiten Kulturraum, der nicht nur die abrahamitischen Religionen, sondern auch noch die buddhistischen und konfuzianischen Traditionen vereint.

Was mit den Schriften Dostojewskis, Bakunins, Solowjows, Herzens oder Mereschkowskis aus dem Westen zurück nach Russland kam, was also von deren westlichen Eindrücken in Russland rezipiert wurde, war mit den Ideen der Aufklärung auch der Zweifel an dem Freiheitsversprechen der Moderne und ein tiefes Misstrauen gegenüber einer reinen kantischen Rationalität, wie der eines "Vernünftigen Egoismus", den Dostojewski in vielen Äußerungen, aber explizit auch in seiner Novelle "Aufzeichnungen aus dem Kellerloch", ad absurdum zu führen versuchte.

Gerade dieser "Vernünftige Egoismus", den der Philosoph Walter Kaufmann später als "die beste Ouvertüre zum Existenzialismus" bezeichnete, erschien den Slawophilen als kaltes, seelenloses und blutleeres Rationalitäskonzept. Man könnte ebenso sagen, sie nahmen auch die "Geschichte vom Glanz und Elend der Aufklärung" vorweg, in dem sie, ähnlich Adorno und Horckheimer, den instrumentalisierten Vernunftbegriff einer radikalen Kritik unterzogen. Im mythologisch verwobenen Herrschaftscharakter der Vernunft, seinem "Positivismus des Faktischen", erkannten sie eine Rückkehr zur Barbarei der Wirklichkeit westlicher Lebenswelten.

Die Russophilen

So wie die Westler, die Dekabristen, Nihilisten, oder auch die Bolschewiken westliche Ideen nach Russland brachten, welche das Land stark beeinflussten, so transportierten auch jene, in die Hauptstädte Westeuropas exilierten Slawophilen, Trotzkisten und Anarchisten immer auch russisches Denken nach Europa und prägten jene Apologeten, die man später als die "Russophilen"  bezeichnen sollte.

Was mit den Slawophilen von Russland nach Deutschland, Frankreich, Österreich oder Tschechien kam, war "positive Wissenschaft" (Solowjow) und eine tiefe Faszination von der Idee einer kollektiven Seele, eine Affinität zu Metaphysik und Transzendenz und künstlerisch nicht zuletzt der melancholische Impressionismus einer großen russischen Literatur von beeindruckender Intensität.

Die russische Ideenwelt inspirierte bei vielen ein Gegenbild zum technisiert-dekadenten und zivilisatorisch-erschöpften Westen. Die späte Romantik und der deutsche Idealismus unterstellten den Russen "noch eine unmittelbare Beziehung zu Gott und Natur". Nur Russen, so schien es, "konnten zur kulturellen, geistigen und religiösen Erneuerung Europas etwas Wesentliches beitragen", schreibt Thomas Schmidt, der Kurator einer Ausstellung "Rilke und Russland" in Marbach.

Einer der bekanntesten Russophilen war Rainer Maria Rilke. Auch er liebte Birken. Was Italien für Goethe war, sei Russland für Rilke gewesen, sagt der Kurator der oben erwähnten Ausstellung "Rilke und Russland" des Deutschen Literaturarchivs.

Sehnssuchtsort oder naive Russlandschwärmerei

Auch Rilke empfand eine starke Faszination für die rätselhafte Melancholie der Russen und zu Russland, das ihm zeitlebens ideelle Heimat und Sehnsuchtsort zugleich bleiben sollte. Andere aber nennen es schlicht eine naive Russlandschwärmerei.

So in einer Besprechung dieser Ausstellung von Marc Reichwein in der Welt. Hier nennt dieser Rilke den "ersten Russlandversteher" und schreibt etwas despektierlich: "Ähnlich wie mancher Putin-Freund heute färbte er sich sein Russland schön. (…) Halb Westeuropa hat diesen Traum, der in den populistischen Putin-Sympathien bei Le Pen bis zu deutschen Altlinken bis heute weiterspukt, damals geträumt – und der junge Rilke vielleicht nur am intensivsten." Am Ende des Textes lässt er sich noch hinreißen von "betulicher Völkerverständigung" einer "russophilen Ausstellung" zu sprechen. Hier blickt ein kaum kaschierter Chauvinismus und eine manifeste Russophobie durch die Sprache des Feuilletonredakteurs.

Doch zurück zu Rilke. 1899 und 1900 reiste er, jeweils für mehrere Monate, nach Russland. Es wird nicht allein seine mütterliche Geliebte und zeitweise Lebensgefährtin Lou Andreas-Salomé gewesen sein, die ihn dazu inspiriert hat, sondern auch die Werke Tugrenjews und Tolstois – er lernte russisch und las sie im Original. Er plante zeitweise auch ernsthaft eine Übersiedlung nach Russland.

Kiew mochte er nicht, weil es "viel zu europäisch" war. Sankt Petersburg schien ihm zu kitschig, Moskau war ihm lieber. Als am russischsten aber empfand er das Leben auf dem Land. Rilke zog es in eine russische Isba, die Holzhütte der einfachen Bauern. Und so sah man ihn noch Jahre später in Worpswede mit roten Bauernstiefeln herumlaufen im grünen Sarafan, dem russischen Bauernhemd und mit einem byzantinischen Kreuz um den Hals Birken pflanzen vor seinem Haus.

"Russland hat mich zu dem gemacht, was ich bin, von dort ging ich innerlich aus, alle Heimat meines Instinkts, all mein innerer Ursprung ist dort", sagt Rilke noch 1920. Und "Dass Russland meine Heimat ist, gehört zu jenen großen und geheimnisvollen Sicherheiten, aus denen ich lebe.", schreibt er an Lou Andreas-Salomé.

Am 29. Und 30. April 1900 erlebte er das Osterfest im Kreml. Lange lief er danach durch Moskaus Straßen und wenn man sein Stunden-Buch nachliest, bemerkt man, wie sehr ihn die Volksfrömmigkeit faszinierte. Es war also vor allem ein tiefes Erweckungserlebnis, ein Durchbruch zu sich selbst. Danach bezeichnet er Russland immer wieder als seine eigentliche Heimat. "Ich bin seit fünf Wochen in Russland und wie in der Heimat meiner leisesten Wünsche und meiner dunkelsten Gedanken. In Moskau merkte ich es zuerst: Dieses ist das Land des unvollendeten Gottes, und aus allen Gebärden des Volkes strömt die Wärme seines Werdens wie ein unendlicher Segen aus." (Wobei die religiöse Begrifflichkeit hier poetisch etwas gedehnt ist – Rilke war zeitlebens Agnostiker und scheute sich davor, religiös vereinnahmt zu werden. Ausdrücklich verbat er sich für seinen Tod priesterlichen Beistand.)

1900 unternimmt er mit Lou seine zweite Russland-Visite. Diesmal reisten sie auch in das Landesinnere, nach Kiew, dann nach Südrussland und machen eine Fahrt auf einem Wolgadampfer. Sie verbringen Tage in einer Bauernhütte, lernen Mönche und Bauerndichter kennen. Später beschreibt er Russland als "dunkel", und "Rauschend am Rande des Christentums, / du Land, nicht zu lichten", heißt es bei Rilke im Stunden-Buch.

Russland als Alter-Ego des Westens

Russland ist zwar anders, aber eben am Rande des Christentums, also am Rande unseres Selbst und damit des Westens schismatisches Alter-Ego. Es trägt noch das Erbe spätantiken Urglaubens in sich. Und er spricht damit aus, was bis heute einen Teil des Konflikts zwischen Russland und dem Westen ausmacht: die untergründigen Wurzeln westlicher Kultur, welche im Östlichen Reich als Ableger austrieben, ihr Eigenleben begannen und die westlichen Vorstellungen vom Ketzertum und schismatischer Häresie begründeten, aber damit auch die Ursprünge einer gemeinsamen Kultur bewahrten.

Während man bei Rilke von einer über viele Jahre andauernden russischen Periode sprechen kann, so dauerte bei Thomas Mann diese Beschäftigung mit dem Russischen und der russischen Literatur bis in sein spätes Leben hinein. Die Mehrzahl seiner Essays zur nicht-deutschen Literatur galten der "Heiligen russischen Literatur", wie Thomas Mann diese in seiner Novelle "Tonio Kröger" nennt.

Mit Thomas Mann hat Rilke nicht viel mehr als das Geburtsjahr 1875 und ein großes Interesse an russischer Literatur und an den "russischen Dingen" gemein. Sie mochten sich auch nicht sonderlich. Beide entstammen einer bürgerlich-liberalen und fortschrittsgläubigen Zeit des 19. Jahrhunderts und mussten in den 80er und 90 er Jahren des 19. Jahrhunderts eine sich mehr und mehr verstärkende Umbruchs und Krisensituation erleben, dessen Prophet nicht zuletzt Nietzsche war. Und die, obzwar Nitzsche so nicht verstanden werden wollte, auch in der Suche nach einer neuen Religiosität bestand, worin gerade Russland besonders inspirierend und anziehend wurde. In der Götterdämmerung schreibt Nietzsche 1889:

Russland sei "die einzige Macht, die heute Dauer im Leibe hat, die warten kann, die etwas noch versprechen kann - Russland der Gegensatz-Begriff zu der erbärmlichen europäischen Kleinstaaterei und Nervosität, die mit der Gründung des deutschen Reiches in einen kritischen Zustand eingetreten ist".

Die Epoche, beginnend etwa Mitte der 1890er Jahre bis 1917, die man als die Epoche der russischen religiösen, philosophischen und ästhetischen Renaissance, oder auch als das "Silberne Zeitalter" bezeichnet, ist auch eine Zeit geprägt von den Erwartungen eines neuen "geistigen Aufbruchs", von apokalyptischen Visionen und Prophezeiungen. "In der Tat", schreibt Thomas Mann rückblickend im Jahr 1921, "sind es zwei Erlebnisse, welche den Sohn des neunzehnten Jahrhunderts, der bürgerlichen Epoche, zur neuen Zeit in Beziehung setzen, ihn vor Erstarrung und geistigem Sterben schützen und ihm Brücken in die Zukunft bauen - nämlich das Erlebnis Nietzsches und das des russischen Wesens. Diese beiden".

Unter den schmerzlichen Gegensätzen von Kunst und Leben, Individuum und Gesellschaft, leidet auch der Held Tonio Kröger, in Thomas Manns gleichnamiger, autobiografischer Novelle. Die Mischung aus dem bürgerlichen und den künstlerischen Persönlichkeitsanteilen ergibt den berühmten "Bürger auf Irrwegen" in seiner unterdrückten Selbstakzeptanz, der von Lisaweta Iwanowna, einer russischen Freundin und Malerin, auch "Künstler mit schlechtem Gewissen" genannt, in seinem Selbstbetrug durchschaut wird, woraufhin der Held mit den Worten "Ich bin erledigt" das klärende Selbstfindungsgespräch in ihrem Atelier fliehend verlässt. 

Das Leben in seiner verführerischen Banalität, den "Wonnen des Gewöhnlichen", stehe als ewiger Gegensatz dem Geist der Kunst, mit dem in ihren "kalten Ekstasen" erschaffenem Werk gegenüber. Die gesamte Erzählung ist auf diesen Gegensatz aufgebaut: zwischen den "Wonnen der Mittelmäßigkeit" und dem einsamen Intellekt, und jene Gegensätze werden von der russischen Seele Liswetas, hier als Metapher für die "heilig gesprochene Russische Literatur" zerstört und eben auch wieder versöhnt.

Dmitri Mereschkowski, einer der in Deutschland populärsten russischen Autoren jener Zeit, hinterließ auf Thomas Mann einen unauslöschlichen Eindruck. Er sprach von ihm als dem "genialsten Kritiker und Weltpsycholog seit Nietzsche!, dessen Werk er überhaupt nicht wegstelle".

Was Thomas Mann an Mereschkowski so beeindruckte, war dessen Fähigkeit zur Synthese, die sowohl dem Fleisch, als auch dem Geist heiligte und diese versöhnte. Die Antithese zwischen Geist und Fleisch durchzieht die gesamte russische Literatur dieser Epoche und dieser Kampf werde nirgends kühner und inniger geführt als in der russischen Seele – denken wir an Tolstois Vater Sergej - als eine hübsche Frau den Priestermönch versuchen will, hackt er sich den Zeigefinger ab mit dem Beil.

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Fortsetzung: Teil III – Russlands blutige Geschichte und das Erbe des Römischen Weltreichs

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