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Zehn Wochen nach Salisbury: Was ist der Status quo im Fall Skripal?

Zehn Wochen nach dem Anschlag auf Julia und Sergej Skripal, der sich zu einer internationalen Krise ausweitete, ist es in den Medien still geworden um den Fall. Eine gute Gelegenheit, um die bisherige Entwicklung und den aktuellen Stand der Dinge festzuhalten.
Zehn Wochen nach Salisbury: Was ist der Status quo im Fall Skripal?Quelle: Reuters

Die Medien verlieren allmählich das Interesse an Sergej Skripal. Ungewöhnlich für einen Fall, der die größte diplomatische Krise seit den Abspaltungsprozessen in der Ukraine ausgelöst hat. Dabei sind längst noch nicht alle Fragen beantwortet. Wir fassen die wichtigsten Entwicklungen zusammen.

Die verschwundenen Opfer

Wie die New York Times berichtete, soll Skripal in den vergangenen Jahren tschechische und estnische Geheimdienstmitarbeiter über die Strukturen der russischen Geheimdienste unterrichtet haben. Inwiefern diese Tätigkeit mit dem Fall in Verbindung steht, könnte Skripal beantworten, wenn nur bekannt wäre, wo er sich aufhält.

Bis heute fehlt von Sergej Skripal jede Spur. Nach letzten Informationen der Ärzte habe der 66-Jährige, der sich immer noch im Krankenhaus in Salisbury aufhalten soll, das Bewusstsein wiedererlangt und sei auf dem Weg der Besserung. Der Bericht eines Reporters des russischen Senders REN TV Anfang April schürt allerdings Zweifel, dass das Krankenhaus der tatsächliche Aufenthaltsort ist. Der Bericht zeigt den Reporter Witali Chanin, der nachts durch das Gebäude schlendert und Ärzte und Schwestern nach dem Verbleib der Skripals befragt. Sicherheitsvorkehrungen? Fehlanzeige. Erst auf dem Rückweg trifft er auf Wachmänner, die die Polizei verständigen.

Das letzte Zeichen von Tochter Julia Skripal kam in Form einer Presseverlautbarung der Polizei. Sie habe am 9. April das Krankenhaus verlassen und sei jetzt an einem sicheren Ort. Ihr stünden speziell ausgebildete Beamte zur Verfügung, die sie betreuten und die laufenden Ermittlungen erklärten. Am seltsamsten war jedoch die deutliche Distanz, die sie zu ihrer Cousine Wiktoria einnahm. Sie wünsche keinen Kontakt und machte deutlich, dass die Cousine nur für sich spräche und nicht für sie oder ihren Vater. Auch zur Presse wünsche sie keinen Kontakt. Dies steht in Widerspruch zu einem Telefongespräch mit Wiktoria, das einige Tage zuvor stattfand. Darin bat Julia ihre Cousine, zu ihr nach Großbritannien zu kommen.

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Gleichzeitig sprach sie davon, in Kontakt mit Freunden und Familienangehörigen zu stehen. Die Frage steht im Raume, welche Angehörigen sie damit meinen könne, da sie doch keine engeren Verwandten habe außer Wiktoria und ihrer Großmutter Elena.

Neben inhaltlichen Ungereimtheiten kamen auch Zweifel an Duktus und Wortwahl der Erklärung auf. Der ehemalige britische Botschafter Craig Murray bezweifelt, dass es sich tatsächlich um die Worte der 33-Jährigen handelt.

Julias Cousine Wiktoria wandte sich am 1. Mai in einem öffentlichen Facebook-Post an ihre Julia. Sie erhielt keine Antwort. Zwei Einreiseanträge Wiktorias nach Großbritannien wurden vom britischen Innenministerium mit einem Verweis auf Nichterfüllung der Migrationsauflagen abgelehnt.

Deutsche Übersetzung:

Meine liebe Schwester! Julia! Du kommunizierst nicht mit uns, und wir wissen nichts über dich und Sergej Wiktoriwitsch. Ich weiß, dass ich kein Recht habe, mich in deine Angelegenheiten einzumischen, ohne deine Erlaubnis einzuholen, aber ich mache mir zu viele Sorgen. Ich mache mir Sorgen um dich und deinen Vater. Ich mache mir auch Sorgen um Nuar. [Nuar ist Julia Skripals Hund, den sie in einem Tierheim zurückließ, während sie nach England reiste.] Er ist jetzt im Hundehotel, und sie wollen bezahlt werden. Wir müssen uns entscheiden, was wir mit ihm machen. Ich bin bereit, ihn zu nehmen und mich um ihn zu kümmern, bis du nach Hause kommst. Außer Nuar mache ich mir Sorgen um deine Wohnung und dein Auto. Über ihre Sicherheit und Wartung wurde nichts entschieden. Wir können bei all dem helfen, aber ich brauche deine Vollmacht im Namen meiner oder meiner Schwester Lena. Wenn du denkst, dass all dies wichtig ist, erstelle ein Vollmachtsformular in einem russischen Konsulat in einem beliebigen Land. Wenn du das nicht tust, werden wir es verstehen und uns nicht in deine Angelegenheiten einmischen. Wika

Bis heute verweigert die britische Regierung der russischen Botschaft den Zugang zu Julia Skripal, die russische Staatsbürgerin ist.

Internationale Diplomatie in der Krise

Der Fall Skripal war von Beginn an von einer Umkehrung der Beweislast geprägt. Moskau solle seine Unschuld beweisen. Allein die Vergangenheit Skripals als russischer Ex-Agent legte die Spur nach Osten, und viele Politiker, allen voran Boris Johnson, legten sich früh auf Russland als alleinigen Täter fest. Moderate Stimmen hatten in der aufkommenden Anti-Russland-Hysterie das Nachsehen. Auf ein "24-Stunden-Ultimatum" der britischen Regierung, das mehr der Forderung eines Schuldeingeständnisses gleichkam, reagierte Moskau kühl.

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Ohne eine offizielle Untersuchung abzuwarten, erfolgte die "angemessene und robuste Reaktion", die Außenminister Boris Johnson androhte. Insgesamt 160 russische Diplomaten wurden aus 28 Ländern verwiesen. Die USA wiesen 60 Diplomaten aus und schlossen das russische Konsulat in Seattle. Moskau antwortete mit der Ausweisung der gleichen Zahl an Diplomaten und der Schließung des US-Konsulats in Sankt Petersburg. Auch Deutschland schwenkte auf die britische Linie ein und wies vier Diplomaten aus.

Innenpolitisch wurde der Fall Skripal instrumentalisiert, um die Reihen zu schließen und Disziplin herzustellen. Abgeordnete des britischen Unterhauses forderten die Aufstockung des Wehretats. Wolfgang Schäuble deutete an, der Fall Skripal zeige den Briten die Bedeutung eines Verbleibs in der EU und könnte eine Wende in den Brexit-Verhandlungen einleiten.

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Ohne Frage werden die Beziehungen zwischen westlichen Ländern und Russland auf lange Zeit unter der Skripal-Affäre leiden. Heather Nauert, die Sprecherin des US-Ausßenministeriums, bezeichnete Russland als Riesenkraken. Heiko Maas äußerte bei einem kürzlich erfolgten Besuch bei seinem Amtskollegen Sergei Lawrow scharfe Kritik an der angeblich unkonstruktiven Haltung Russlands in der Affäre.

Die Rolle der Medien

Zeigten britische Zeitungen zunächst wenig Zurückhaltung und beteiligten sich rege an Spekulationen um den Tathergang und der Vorverurteilung Russlands, so ruhig ist es jetzt um die Affäre. Die letzten Einträge auf bbc.co.uk datieren vom 25. April 2018 und beschäftigen sich mit dem Aufräumarbeiten in Salisbury. Auffällig ist, dass in all der Zeit seit der Vergiftung der Skripals nie die Frage nach dem Verbleib von Vater und Tochter in den britischen Medien diskutiert wurde.

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Gegen RT International und Sputnik wurden Ermittlungen bei der britischen Medienaufsichtsbehörde OFCOM eingeleitet. Unter anderem werden die Sendungen "Crosstalk" und "Worlds Apart" mit Oksana Boyko wegen unsachlicher Berichterstattung untersucht. In einer Parlamentsdebatte forderten Abgeordnete die Abschaltung des Senders.

Wie jetzt bekannt wurde, erließ das britische "Defence and Security Media Advisory Committee" zweimal eine Verschwiegenheitsempfehlung an die Presse. Das Komitee besteht aus staatlichen Vertetern und Mitgliedern aller großen Pressehäuser und tritt immer dann in Erscheinung, wenn Fragen der nationalen Sicherheit durch Veröffentlichungen gefährdet scheinen. Auch für deutsche Medien schien die Sache entschieden. So betitelte der Spiegel seine Ausgabe Nr. 12 mit "Todesgrüße aus Moskau. Der Giftanschlag und der neue Kalte Krieg".

Eine unrühmliche Episode in der deutschen Berichterstattung stellt der Umgang mit dem OPCW-Bericht zum Vorfall in Salisbury dar. Mit Spannung wurde der Report erwartet und enttäuschte all jene, die auf den endgültigen Beweis gehofft hatten. Der Text erwähnt an keiner Stelle die Herkunft des Gifts oder die chemische Zusammensetzung. Dennoch vermeldeten die deutschen Leitmedien unisono die "russische Herkunft" des Giftes als bewiesen, um nur kurz danach Korrekturen nachzuschieben und Titel zu ändern.

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Das Gift

Das bizarrste Element in der Geschichte stellt ohne Zweifel die Art der Vergiftung dar. Zuerst war noch von Fentanyl die Rede. Bald aber legte sich die britische Regierung auf ein Nervengift aus der sogenannten Nowitschok-Klasse fest, das zweifelsfrei die Verbindung nach Russland aufzeige. Denn, so die Argumentation, nur Russland verfüge über die Kapazitäten und das Know-how der Herstellung.

Der vermeintlich schwerwiegende Beweis verlor im Laufe der Ermittlungen immer mehr an Gewicht. So wurde unter anderem bekannt, dass Tschechien ebenfalls kleine Mengen des Kampfstoffes produziert hatte und die Verbindung in den USA mit zahlreichen Patenten längst bekannt war. Vieles spricht sogar dafür, dass das Bekanntwerden des Nervengifts in der breiten Öffentlichkeit nicht im Interesse der US-amerikanischen Regierung war.

Eine interessante Rolle spielt nicht zuletzt auch das Chemiewaffenlabor Porton Down, der sich zufällig nur rund 13 Kilometer vom Tatort entfernt befindet. Außenminister Boris Johnson selber verplapperte sich in einem Interview und bestätigte, dass Porton Down über den Kampfstoff verfüge, obwohl dies vorher abgestritten worden war.

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Auch über den vermeintlichen Tathergang ranken sich einige fantasievolle Theorien, die von Buchweizen, Gas, Blumen, einem Koffer und der Klimaanlage im Auto letztendlich zur Vergiftung über die Türklinke von Skripals Haus kamen. Russland soll sogar eigens ein Programm aufgelegt haben, um eine möglichst effektive Vergiftung über Türklinken sicherzustellen. Es sei ein "Boutique"-Nowitschok (!) verwendet worden, eine weniger starke Version des bekannten Nervengases, das in flüssiger Form über die Haut aufgenommen werden kann und erst verzögert zum Tod führt. Zufällig waren in dem Krankenhaus, das die Skripals aufnahm, Mediziner anwesend, die Erfahrung mit den Folgen von Nervengift hatten, da sie vorher in Porton Down geschult worden waren. Nur durch das schnelle Eingreifen der Ärzte konnte das Leben der Skripals gerettet werden.

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Es scheint nach den bisherigen Entwicklungen unwahrscheinlich, dass die Geschichte um die Vergiftung der Skripals in naher Zukunft restlos aufgeklärt wird. Ebenso unwahrscheinlich ist, dass dies von Beginn an im Interesse der beteiligten Akteure lag. Gerade die Aufklärung des Verbrechens würde zunichtemachen, was von der Affäre in der westlichen Öffentlichkeit hängen bleibt: das dumpfe, diffuse Gefühl, dass Russland alles zuzutrauen ist.

Der Fall Skripal reiht sich nahtlos ein in die Liste der Verbrechen, halbbewiesenen und vermuteten Schandtaten des Putin-Regimes, seien es Attentate, Hackerangriffe, Überfälle auf Nachbarländer und Wahlmanipulationen. Sie nähren das Mistrauen und treiben einen Keil in die Beziehungen zwischen dem Westen und Russland.

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