Die nächste "missile gap" – Warum die USA ein neues Wettrüsten betreiben
Vor 60 Jahren warnte der junge Politiker John F. Kennedy im US-Senat vor der "missile gap" zur Sowjetunion. Man müsse der sowjetischen Übermacht an Interkontinentalraketen entgegentreten und massiv investieren, um vor einem drohenden Angriff abzuschrecken. Damals beruhten die Warnungen auf grotesk übertriebenen Geheimdienstberichten, die ein ruinöses Wettrüsten in Gang setzten und die Welt an den Rand der Zerstörung brachten.
Jetzt seien die USA nach Aussagen von Militärs und Beratern erneut in Rückstand geraten, diesmal auf dem Gebiet der Hyperschallwaffen.
Vorteil Russland und China
Die neuartigen Raketen erreichen mehr als das Fünffache der Schallgeschwindigkeit. Die Forschung konzentriert sich dabei auf zwei Systeme. Hyperschallmarschflugkörper bewegen sich durch die Erdatmosphäre und können manövrieren. Hyperschallträgersysteme werden an ballistischen Raketen angebracht und bringen sie außerhalb der Atmosphäre über das Ziel, wo das ballistische Geschoß abgeworfen wird. Die enorme Geschwindigkeit und Manövrierfähigkeit verschafft dem System den Vorteil, dass es für herkömmliche Verteidigungssysteme nicht zu erreichen ist.
Russland hat unlängst die Systeme "Kinschal", "Zirkon" und "Avangard" vorgestellt, die sowohl luft- als auch seegestützt operieren. Chinas Tests an einer DF-17 genannten Rakete mit ähnlicher Technologie sind im fortgeschrittenen Stadium.
Luftwaffengeneral John Hyten, Kommandeur des US Strategic Command, gibt zu: "Wir haben keine Verteidigung gegen den Einsatz solcher Waffen gegen uns."
USA: "Wir müssen dasselbe tun."
Seit der einseitigen Aufkündigung des ABM-Vertrags durch die USA nach dem 11. September und dem Aufbau eines Luftabwehrschildes bis vor die Grenzen Russlands sucht Moskau nach einer Antwort. "In all den Jahren […] haben wir intensiv an fortschrittlichen Ausrüstungen und Waffen gearbeitet, was uns den Durchbruch bei der Entwicklung neuer Modelle strategischer Waffen ermöglichte", so Putin am 1. März 2018.
Die Präsentation der neuen Waffen hat viele Experten erschreckt. Das US-Militär musste einsehen, dass es die Entwicklung der Hyperschallwaffen verschlafen hat. Jetzt müsse dringend investiert werden. Die Infrastruktur sei als erstes zu schaffen, so Steven Walker, Direktor der Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA): "Wenn man auf unsere Konkurrenten wie z.B. China schaut, dann übertrifft die Anzahl der Anlagen die der USA um das Zwei- bis Dreifache. Es ist ganz klar, dass [das Projekt] für China nationale Priorität hat. Wir müssen dasselbe tun."
Strategischer "game changer"
Russland komplettiert mit den Hyperschallsystemen seine Luftabwehr basierend auf den Raketen des Typs S-400 und S-500. Die Strategie verfolgt die Abriegelung des russischen Luftraums in weitem Umkreis. Die Hyperschallwaffen mit einer Reichweite von 2.000 Kilometern können die Angriffsplattformen von Marschflugkörpern und ballistischen Raketen effektiv auf Distanz halten. Auch bodengestützte Raketenabwehrsysteme wie das von den USA im rumänischen Deveselu installierte Aegis-System wären gegenüber den Hyperschallwaffen ohne Schutz.
Ausgerechnet für die US Navy ergeben sich daraus weitreichende Konsequenzen. Die Flugzeugträgerkampfgruppen der US Navy, die aus einem Flugzeugträger und sieben Begleitschiffen bestehen, verfügen über keinerlei Verteidigung gegen die schnellen Flugkörper. Jede Annäherung an den Radius von Kinschal-Raketen wäre mit hohem Risiko verbunden. Eine weltweite Verbreitung der Hyperschallwaffen wäre eine Katastrophe für die USA, die über neun solcher Kampfgruppen verfügen und damit große Teile der Welt kontrollieren. Durch die Verbreitung der Technologie würden sich unter Umständen riesige No-Go-Areas für US-amerikanisches Militär ergeben. Der strategische Wert eines Teils der immens teuren Flotte würde rapide sinken.
Die US-militärnahe Denkfabrik RAND Corporation warnte daher in einem Bericht vor der Proliferation der Hyperschalltechnologie. Diese Waffen seien geeignet, als neues Abschreckungsmittel in Konflikten benutzt zu werden. Technologisch nicht ausreichend entwickelte Länder könnten sich gegenüber ihren Nachbarn einen ähnlichen Vorteil verschaffen wie mit einer Atombombe. Gleichzeitig verkürze sich aufgrund der enormen Geschwindigkeit der Waffe die Reaktionszeit auf einen vermeintlichen Angriff, was das Risiko für Eskalationen erhöhen würde.
Die USA müssten jetzt den Rückstand mit allen Mitteln aufzuholen, um ihre Position als weltweit größte Militärmacht langfristig nicht zu verlieren. Es könne dabei nicht nur um das Angriffspotenzial gehen. Ziel der Forschung müsse auch eine funktionierende Verteidigung gegen Hyperschallsysteme sein, um die konventionellen Waffen zu schützen.
Die Luftwaffe vergab jüngst einen Auftrag über fast eine Milliarde US-Dollar an Lockheed Martin, um eine luftgestützte Hyperschallwaffe zu entwickeln. Das Militär und DARPA wollen weitere 250 Millionen Dollar investieren. Das nächste Wettrüsten hat begonnen.
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