Kiewer Gericht fürchtet unbequeme Zeugen zum Machtwechsel
von Ulrich Heyden, Moskau
Durch den großen Saal der Nachrichtenagentur Tass in Moskau wehte am Donnerstag der Atem der Geschichte. Vier ehemalige hohe ukrainische Funktionsträger, die 2014 vor nationalistischen Radikalen nach Russland flüchten mussten, saßen auf dem Podium und belegten mit neuen Details, wie die Führer des Maidan und ihre amerikanischen "Kuratoren" den Konflikt in der Ukraine im Februar 2014 zuspitzten.
Anlass der gemeinsamen Pressekonferenz war der Prozess gegen den ehemaligen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch, dem Landesverrat vorgeworfen wird. Der Prozess, der in Kiew vor dem Obolon-Gericht verhandelt wird, geht jetzt seinem Ende entgegen. Am 3. Mai beginnen die Plädoyers von Anklage und Verteidigung.
Die Verteidigung von Janukowytsch hatte mehrere Zeugen berufen, doch am 19. April lehnte das Gericht die Vorschläge ab. Das war für die vier hohen Funktionsträger - unter ihnen der ehemalige ukrainische Ministerpräsident Mykola Asarow - der Grund, in Moskau eine Pressekonferenz einzuberufen. "Wir haben Beweise, dass die Führer der (damaligen, U.H.) Opposition den blutigen Plan einer Massenerschießung von Protestierenden und Mitarbeitern der Polizei auf dem Maidan organisierten und realisierten", sagte Asarow, der 2014 gezwungen war, nach Moskau zu flüchten, wo er bis heute lebt.
Die ehemaligen Funktionsträger haben keinen Zugang zu ukrainischen Medien
Auf dem Podium saßen außer Asarow der ehemalige Leiter der Präsidialadministration Andrei Kljujew (2014), der ehemalige Innenminister Witali Sachartschenko (2011 bis 2014) und der ehemalige Kommandeur der Polizei-Streitkräfte Stanislaw Schuljak (2012 bis 2014). Alle vier ehemaligen Funktionsträger leben seit 2014 als politische Flüchtlinge in Russland. Alle vier wollen aber in die Ukraine zurückkehren. Doch da die staatlichen Organe der Ukraine ihre Sicherheit nicht garantieren können und wollen, ist an eine Rückkehr zurzeit nicht zu denken.
Mykola Asarow verwies darauf, dass die Funktionsträger der ehemaligen Regierung komplett auf den ukrainischen Medien ausgeschlossen würden. Noch nicht mal von oppositionellen Fernsehkanälen würden sie zu Interviews eingeladen.
Der ehemalige Leiter der Präsidialverwaltung, Andrei Kljujew, erklärte, das Obolon-Gericht in Kiew drücke jetzt aufs Tempo. Vor den Parlamentswahlen und den Präsidentschaftswahlen, die nach der Verfassung im März nächsten Jahres stattfinden müssten, versuche das Regime in Kiew, die Wähler mit verschiedenen Prozessen gegen ehemalige Funktionsträger von der Frage abzulenken, wer für die 100 Toten auf dem Maidan im Februar 2014 verantwortlich ist.
Die Außenministerien in Berlin, Paris und Warschau antworteten nicht
Detailliert gingen die vier "unbequemen Zeugen", wie sie sich selbst nannten, auf die Ereignisse Ende Februar 2014 in Kiew ein. Kljujew erklärte, dass bereits "eine Stunde nach der Unterschrift unter die Vereinbarung zwischen Janukowytsch und der Opposition", mit der vorgezogene Neuwahlen vereinbart wurden, "das Regierungskabinett von Bewaffneten gestürmt wurde". Er habe das Kommando zur Evakuierung gegeben. "Nach weiteren vierzig Minuten waren alle Regierungsgebäude besetzt", so Kljujew.
Weiter berichtete Kljujew, dass der damalige Präsident Janukowytsch am 22. Februar 2014 aus Donezk Briefe an die Außenministerien Deutschlands, Polens und Frankreichs geschickt habe, in denen er darum bat, bei der Umsetzung der am 21. Februar 2014 zwischen der damaligen Opposition und Präsident Janukowytsch getroffenen Vereinbarung zu helfen. Doch man habe keine Antwort erhalten.
Ehemaliger Innenminister: "Janukowytsch wollte einen Bürgerkrieg verhindern"
Der ehemalige Innenminister Aleksander Sachartschenko erklärte, er sei ein "harter Vertreter" der Linie gewesen, dass der Staat "alle Mittel und Kräfte" einsetzen müsse, "um nicht kontrollierbare und nicht verfassungsmäßige Entwicklungen zu verhindern". Er habe sich aber der Meinung von Präsident Wiktor Janukowytsch unterordnen müssen. Dessen unveränderte Position während des drei Monate andauernden Maidan sei es gewesen, Blutvergießen und einen Bürgerkrieg zu verhindern.
Detailliert schilderte der ehemalige Innenminister, welche Anweisungen er der Polizei in Kiew gab. Nach den Schüssen auf Demonstranten und Polizisten am 20. Februar 2014 habe er die Polizisten von den Straßen zurückgerufen und in die Regierungsgebäude geschickt. Die Polizisten seien bewaffnet gewesen. "Im Falle eines Sturmes der Regierungsgebäude hätten sie nach dem Polizeigesetz das Recht gehabt, zu schießen." Diese Tatsache sei bekannt gewesen.
Trotzdem hätten die Organisatoren des Maidan zum Sturm auf Regierungsgebäude aufgerufen. Die Folgen wären tragisch gewesen. Darüber habe er den Präsidenten informiert. "Er fragte mich, was ich vorschlage. Ich antwortete, angesichts der Tatsache, dass es eine von Garantiemächten unterschriebene Vereinbarung gibt, und angesichts der Tatsache, dass es drei Monate lang keine politische Entscheidung gab, Verhaftungen vorzunehmen, Demonstrationen aufzulösen, Gewalt und Waffen anzuwenden, meinte ich, es jetzt zu tun, sei nicht richtig." Janukowytsch erklärte, er sei einverstanden. Der Präsident habe dann noch gefragt, was passiere, wenn es zum Sturm der Regierungsgebäude komme. Er (Sachartschenko) habe erklärt, dass es dann zum Blutbad kommen würde. Beide Seiten würden schießen, und die Schuld für die Toten werde man dem Präsidenten anhängen.
Der ehemalige Innenminister erklärte, er habe dem Präsidenten vorgeschlagen, die Truppen des Innenministeriums im Donbass zusammenzuziehen, um dort "die verfassungsmäßige Ordnung aufrechtzuerhalten". Der Präsident habe diesen Vorschlag zunächst gutgeheißen, seinen entsprechenden Befehl aber dann zurückgezogen.
Von Anfang an sei es das Ziel einiger "Kuratoren" gewesen, einen Bürgerkrieg in der Ukraine zu entfachen. Mit "Kuratoren" meinte Sachartschenko offenbar die amerikanischen Berater der Maidan-Führer. "Das Ziel war nicht die Ukraine, sondern Russland. Man wollte Russland in diesen Konflikt hineinziehen." Janukowytsch habe das verstanden, so der ehemalige Innenminister.
Am Rande der Veranstaltung erklärte Sachartschenko gegenüber dem Autor, er habe den Geheimdienst der Ukraine Anfang 2014 darüber informiert, dass Teilnehmer der Umstürze in Nordafrika und aus dem ehemaligen Jugoslawien in Kiew angekommen seien. Er habe den Geheimdienst aufgefordert, "die Grenzen zu schließen". Der Geheimdienstchef habe diese Information an den damaligen Leiter der Präsidialverwaltung Serhij Ljowotschkin weitergeleitet. Von dort habe er die Antwort bekommen, dass es eine Grenzschließung auf keinen Fall geben werde.
Drei Gruppen von Scharfschützen
Wer schoss am 20. und 21. Februar 2014? "Den ersten Schuss gab der Madian-Aktivist Iwan Bubentschik ab", erklärte der ehemalige Innenminister. Bubentschik habe auf ein Mitglied der Polizei-Spezialeinheit Berkut geschossen. Gegen Bubentschik läuft in der Ukraine zurzeit ein Gerichtsverfahren wegen Mordes an zwei Mitgliedern der Polizei-Spezialeinheit Berkut.
Stanislaw Schuljak, ehemaliger Leiter der Polizei-Streitkräfte, erklärte, Polizisten haben sich nur mit der Waffe verteidigen dürfen, wenn ihr Leben bedroht gewesen sei.
Ex-Innenminister Sachartschenko erzählte, dass es auf dem Maidan drei Gruppen von Scharfschützen gegeben habe, die auf Polizisten und Demonstranten schossen. Die erste Gruppe seien diejenigen gewesen, die mit Jagdflinten schossen. Die zweite Gruppe seien Scharfschützen aus Georgien gewesen, und die dritte Gruppe sei die sogenannte "dritte Kraft" gewesen. "Sie arbeitete im Geheimen und war am besten vorbereitet." Sachartschenko wollte die Namen der Schützen dieser Gruppe nicht nennen, da das "Personen gefährden könne". Der ehemalige Innenminister erklärte außerdem, dass er aus der Ukraine ständig belastendes Material über die Vertreter des derzeitigen Regimes in Kiew erhalte und bei seiner Flucht nach Russland viele wichtige Dokumente über die Verbrechen der neuen Machthaber mitgenommen habe.
"Manuskripte brennen nicht!"
Der ehemalige ukrainische Ministerpräsident Asarow sagte, keiner der "Garantiestaaten" habe die am 21. Februar 2014 unterschriebene Vereinbarung – sie trägt auch die Unterschrift des amtierenden Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier – für ungültig erklärt. "Manuskripte brennen nicht!", zitierte Asarow aus dem berühmten Roman "Meister und Margarita" von Michail Bulgakow. "Ich denke, dieses Dokument kann eine Rolle bei der Lösung der Krise in der Ukraine spielen", so der Ex-Ministerpräsident. Er erklärte weiter, man werde an die drei Garantiemächte einen Brief schicken und "sie daran erinnern, dass die Vereinbarung nicht umgesetzt wurde".
Kein Frieden im Donbass ohne Sturz des Regimes
Asarow erklärte, ein friedliche Lösung im Donbass werde es unter der jetzigen ukrainischen Führung nicht geben. "Die vier Jahre haben gezeigt, dass die heutigen Machthaber nur an der Zuspitzung des Konfliktes interessiert sind. Sie überleben, weil es den Konflikt gibt, das gibt ihnen die Möglichkeit, den Konflikt parasitär zu nutzen." Hoffnung auf eine friedliche Lösung im Donbass und ein Ende des Krieges bestehe nur, wenn das jetzige Regime abtrete. Dann könne man mit dem Abzug der Waffen beginnen. "In einer Übergangsperiode kann man den Donbass wiederaufbauen und ihn schrittweise integrieren, was einige Zeit dauern wird."
Mit "integrieren" meinte Asarow zweifellos die Integration der international nicht anerkannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk in die Ukraine. Um diesen Gedanken zu bekräftigen, erklärte der Ex-Ministerpräsident, bis 2014 seien 30 Prozent der Valuta-Einkünfte der Ukraine in der Schwerindustrie des Donbass – nicht in der Westukraine – erwirtschaftet worden.
Der ehemalige Ministerpräsident erklärte weiter, dass nur drei Prozent der Bevölkerung den Machthabern vertrauen, 83 Prozent seien unzufrieden und 14 Prozent seien gleichgültig. Aber "eine reale politische Opposition im Land gibt es nicht". Und die Machthaber täten alles, damit eine solche nicht entsteht.
"Wovon leben Sie?", wollte eine ukrainische Korrespondentin von Asarow wissen
Zu einem harten Schlagabtausch kam es auf der Pressekonferenz mit der Korrespondentin des Fernsehkanals Ukraina. Sie wollte wissen, von welchem Geld der ehemalige Ministerpräsident Asarow seit vier Jahren in Moskau lebe. Darauf entgegnete Asarow: "Ich wundere mich, welche Fragen sie stellen, liebe Frau. Seit vier Jahren versucht Kiew, juristisch gegen mich vorzugehen, aber es gelingt nicht."
Der sonst ruhige Asarow wurde sehr emotional. "Schmiergelder habe ich niemals angenommen. Und was hat die jetzige Macht in den vier Jahren in der Ukraine gemacht? Was hat sie gebaut, gegründet, eröffnet? Ich sage es ihnen: Nichts! Eine europäische Integration gab es in diesen vier Jahren nicht.
Sie wollen wahrscheinlich, dass ich als Bettler mit der Mütze rumgehe, solch eine Antwort wollen sie wahrscheinlich hören. Nein. Ich habe genug Ersparnisse, um ein einfaches Leben zu finanzieren. Wenn wir in die Ukraine zurückkehren, werde ich meine verdiente Rente bekommen und ein akademisches Stipendium und alle Zuschläge, die mir zustehen. Wir kehren auf jeden Fall in unser Land zurück. Sie können das schreiben. Ich unterschreibe das."
Der 70 Jahre alte Mykola Asarow ist neben Wiktor Janukowytsch der bekannteste ehemalige Funktionsträger der Ukraine. Asarow leitet heute das "Komitee zur nationalen Rettung der Ukraine", dass auch eine Webseite mit neuesten Meldungen und Analysen über das Land am Dnjepr betreibt.
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