Syrien in Schutt und Asche: Die Schuld von Recep Tayyip Erdoğan (II)
von Jürgen Cain Külbel
Sonntag, 4. März 2018: Sieben Vermummte einer türkischen Spezialeinheit feiern auf dem Dach eines Hauses mit militärischem Gehabe die Einnahme der syrischen Kleinstadt Rajo im Kanton Afrin. Während fünf Soldaten die Zeremonie mit Maschinenpistolen im Anschlag absichern – der besseren Optik wegen nur in eine der vier Himmelsrichtungen - erweisen der Kommandeur der Truppe und eine Art Fahnenjunker der türkischen Nationalflagge die Ehre: Sie nehmen den Zipfel der Fahne in die linke (die für Moslems "unreine") Hand, berühren ihn mit den Lippen, legen ihn anschließend kurz an die Stirn. Das Ganze dreimal. Dann stakst der Fahnenjunker zu Monierdrähten, die aus dem Betondach ragen, stülpt die Fahnenstange drauf: fertig. "Kirpi ve Kobra" (Igel und Kobra) veröffentlichte auf Twitter eine Filmaufnahme von dem Rabatz, unterlegte sie mit osmanischer Musik - der Titel des Tweets: "Sag' ihnen, dass die Armee von Mohammed zurückgekommen ist."
Das weckt Erinnerungen an längst verblichene Osmanen, die den Islam geschickt nutzten, um ihren Eroberungen Legitimation zu geben, oder generell an islamische Glaubenskrieger, deren Wunsch, die wahre Religion zu verbreiten, sich mit der Hoffnung auf Land und Beute paarte. Hürriyet, die auflagenstärkste Tageszeitung der Türkei, erklärte den Lesern am Tag des islamo-militärischen Ballyhoos auf dem Dach in Syrien, dass Rajo schon immer "einen bedeutenden Platz in der Geschichte der Türkei" eingenommen habe. Im Jahr 1918, zum Ende des Ersten Weltkrieges, hatte General Mustafa Kemal, seinerzeit Oberbefehlshaber in Syrien, später bekannt als Atatürk, der Vater der modernen Türkei, ebendort sein Hauptquartier aufgeschlagen. Von Rajo aus befehligte er die Osmanische 7. Armee der Heeresgruppe Yıldırım ("Blitz"), die Syrien gegen die Briten verteidigen sollte.
Hundert Jahre später kehren nun die Türken zurück an jenen für sie historischen Ort und hissen abermals ihre Flagge. Doch es gibt einen Unterschied: 2018 kämpfen die Türken nicht für, sondern gegen Syrien. Kleine Notiz: Allein in der ersten Woche des März 2018 tötete die türkische Luftwaffe bei Bombardements auf Stellungen der syrischen Regierungstruppen im Kanton Afrin über 50 pro-syrische Kämpfer.
Erdogan verfolgt ganz eigene Ziele in Syrien
In Jahr 1920 zwangen die Sieger des Ersten Weltkrieges die geschlagenen Osmanen in den Friedensvertrag von Sèvres; das einst mächtige Osmanische Reich verlor Arabien, Palästina, Syrien, Mesopotamien, die Griechen besetzten Westkleinasien. Atatürk vertrieb anschließend mit einer aus nationalistischen Verbänden bestehenden Armee die Alliierten und rief am 29. Oktober 1923 die Republik Türkei aus. Im gleichen Jahr wurde der Vertrag von Sèvres durch den von Lausanne revidiert, der nunmehr die Landesgrenzen der Türkei im Osten als auch im Westen festzurrte. Die Zerstückelung des Osmanischen Reiches sät seither ein tiefes und ausgeprägtes Misstrauen der Türken gegen fremde Mächte.
Am 30. September 2016 erklärte Präsident Erdogan vor einer Versammlung türkischer Dorf- und Gemeindevorsteher, der Vertrag von Lausanne sei "eine Niederlage und nicht, wie 'uns' eingebläut, ein Sieg". Am 24. November 2016 stellte er das Abkommen erneut infrage: "Lausanne ist kein unanfechtbarer Text, keinesfalls ist es ein heiliger Text", man müsse darüber diskutieren. Und am 7. Dezember 2017 drückte er bei einem Staatsbesuch in Athen abermals seinen Unmut aus: "Der Lausanner Vertrag, der die Beziehungen zwischen der Türkei und Griechenland regelt, wird nicht gerecht angewandt."
Die Türkei hat sich längst vom Kemalismus, der Gründungsideologie der türkischen Republik mit Trennung von Staat und Religion, verabschiedet; vielmehr entwickelt sich das Land zu einem Sultanat mit einer Ideologie, in der Islamismus und Nationalismus verschmelzen. Erdogan möchte den Türken die Atatürk-Schmetterlinge aus dem Bauch exorzieren, zurück zu alten osmanischen Ufern rudern. Unter dem Blickwinkel ist auch die aktuelle türkische Landnahme in Afrin zu bewerten.
Ankara will auf Teufel komm raus einen kurdischen Staat entlang seiner südlichen Landgrenze, eben auch in Afrin, verhindern. Die seit dem 20. Januar 2018 vom türkischen Generalstab im Verbund mit dschihadistischen Söldnern der "Freien Syrischen Armee" in Szene gesetzte Militäroperation "Olivenzweig" richtet sich gegen die dort agierende syrische Kurdenmiliz YPG.
Die Türkei will die YPG beseitigen, das Rückgrat der so genannten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), die wiederum von den USA unterstützt werden. Ankara betrachtet die YPG als Terrororganisation und als syrischen Zweig der in der Türkei verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Die PKK - eine kurdische, sozialistisch ausgerichtete militante Untergrundorganisation mit Ursprung in den kurdischen Siedlungsgebieten innerhalb der Türkei - kämpft seit 1984 für eine autonome Region innerhalb der Türkei. Dort leben etwa 15 Millionen Kurden, von denen sich die Hälfte für die Ideen der PKK erwärmt: Selbstverwaltung und Eigenständigkeit.
Die Geburtenraten der Kurden sind doppelt bis dreimal so hoch wie die der "türkischen Türken": Grund genug für Ankara, darin eine Gefahr für die territoriale Integrität zu wittern. Ein eigentliches Interesse an den Plänen Washingtons, Syrien zu "balkansieren", scheint die Türkei indes nicht zu haben; sie bekundet aber auch keinerlei Absicht, über die Pufferzone zu diskutieren, die sie jetzt selbst in Nordsyrien schafft. In Summe kann man die derzeitige türkische Syrien-Politik als ein Zurück zur osmanischen Vorherrschaft in Syrien interpretieren.
Türkei und dschihadistische Söldner im Abnutzungskrieg
Erdogans Aggressions-Armeeist im nordsyrischen Kanton Afrin auf dem Vormarsch, erklärte der türkische Vizepremier Bekir Bozdag am Montag, den 5. März 2018 in Ankara:
Unsere Streitkräfte kontrollieren bereits etwa die Hälfte des Territoriums. Seit Beginn des Einsatzes wurden 2.795 Terroristen vernichtet, 142 Objekte von ihnen befreit, darunter auch 112 Ortschaften und 30 strategische Höhen.
Am gleichen Tag tönte Präsident Erdoğan, die türkischen Streitkräfte seien bereit, nunmehr auch die weiter östlich gelegene syrische Stadt Manbidsch von "Terroristen" zu befreien und die "Operation Olivenzweig" in ganz Nordsyrien bis zur Grenze zum Irak fortzusetzen.
Syriens Präsident Baschar al-Assad hatte Erdogan tags zuvor Heuchelei vorgeworfen. Der türkische Präsident verfolge mit dem illegalen Überfall auf Syrien sein Ziel, das er seit Beginn des Krieges habe: eine Pufferzone für Terroristen zu schaffen, die die Türkei selbst unterstützt, um die syrische Armee und Regierung sowie das Volk anzugreifen.
Tatsächlich hat Erdogan einiges zu erklären. Für seine völkerrechtswidrige "Anti-Terror-Operation" auf fremdem Territorium rekrutierte er islamistische Terrormilizen, darunter Ex-Moslembrüder, Ex-IS-Terroristen, ehemalige Söldner der Al-Nusra-Front, von Ahrar al-Sham und Kopfabschneider der Al-Zenki-Gruppe. Obwohl dieses Konglomerat aus regulären türkischen Truppen und Terrorsöldnern ordentlich Gelände erobert hat, ist "der logistische Aufwand enorm", meint der Islamwissenschaftler und Nahost-Experte Guido Steinberg.
In einem Interview mit der Schweizer Newsplattform 20minuten.ch meldet er Bedenken an:
Die Versorgungswege müssen geschützt werden. Und: Die türkische Armee ist nicht auf dem Stand, auf dem sie sein sollte. Die Säuberungswelle [seit Juli 2016 in der Türkei – am 6. März 2018 wurden 65 ehemalige Militärs zu lebenslanger Haft verurteilt] ist mit enormen Einschnitten in den militärischen Reihen einhergegangen. Intellektuelle Fähigkeiten gingen verloren, im Kampf gegen die kurdischen Milizen fehlen jetzt das Know-how und der militärische Sachverstand erfahrener Offiziere. Das merkt man nun auch in Syrien. Die türkische Armee kann das nur mit schierer Feuerkraft und massiver Gewaltanwendung kompensieren. Das dürfte auch mit unverhältnismäßig großen Verlusten für die Türkei einhergehen. Darüber hinaus muss Ankara nach der Einnahme Afrins damit rechnen, dass die Kurdenpartei und ihr militärischer Arm YPG in den Untergrund gehen und eine Kampagne starten werden, der das türkische Militär nicht unbedingt gewachsen ist.
Vom Untergrundkampf ist noch gar keine Rede, für Ankara wird in diesen Tagen erst einmal ein anderer Albtraum wahr: Seit Ende Februar werden die von der Türken-Dschihadisten-Armee bekämpften lokalen kurdischen Kräfte Afrins durch kurdische Kräfte aus dem Osten Syriens sowie Paramilitärs der syrischen Regierung verstärkt. Kräfte der SDF, Washingtons Kollaborateure, die Damaskus den Zugriff auf den ölreichen syrischen Osten dauerhaft entziehen sollen, begeben sich zu Hauf nach Afrin. Die türkische Armee versuchte zwar zwischenzeitlich, Konvois zuströmender Kämpfer zu "neutralisieren", jedoch mit wenig Erfolg. Am 6. März 2018 schlug dann die Nachricht ein, dass die US-geführte Koalition ihre Bodenoperation gegen die Terrormiliz Islamischer Staat in Syrien im Tal des Euphrat (also in Ost-Syrien) vorerst aussetzt. Grund: Die SDF-Söldner sind in Afrin eingezogen, um gegen die Türken zu kämpfen.
Einige Kämpfer, die im Rahmen der SDF handeln, haben sich entschieden, die Operationen in der Mitte des Euphrat-Tals zu verlassen, um anderswo zu kämpfen, möglicherweise in Afrin", musste Major Adrian Rankine-Galloway, Vertreter des US-Verteidigungsministeriums, kleinlaut einräumen. Laut Pentagon-Sprecher Oberst Robert Manning handele es sich allerdings nur um eine "operative Pause".
Mittlerweile haben die Kurden auch den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad um Hilfe gebeten. Damaskus hat nicht das geringste Interesse daran, dass sich die Türken samt Dschihadisten dauerhaft in Afrin oder im benachbarten Kanton Idlib einnistet. Da sich die syrischen Kurden im Verlauf des Krieges nie offen gegen Assad gestellt haben, indes mit Washington, vor allem auch Moskau bei den Kämpfen um Ost-Aleppo kooperierten, "gibt es jetzt eine Grundlage für eine künftige Zusammenarbeit zwischen diesen beiden Seiten", sagte der bereits zitierte Steinberg.
Das macht die Operation in Afrin für die Türkei zusätzlich gefährlich, weil sie sich damit eben auch gegen das langsam erstarkende syrische Regime stellt.
Zu all den Problemen, denen sich die Türken und Dschihadisten ausgesetzt sehen, gesellt sich zunehmend auch Kritik an ihrer brachialen Kriegsführung. Denn der Eroberungsfeldzug in Afrin ist nicht von jener sauberen Art, wie er von den Verantwortlichen in Ankara gerne der türkischen Öffentlichkeit präsentiert wird. Gut dokumentiert sind inzwischen die Verbrechen der türkischen Armee und der ihnen angegliederten terroristischen Gruppen: Beschuss, Bombardierung von Dörfern, Zerstörung von Infrastruktur und Dienstleistungen, Quellen sprechen gar von Folter, Leichenschändungen, Plünderungen. Auch die humanitäre Situation ist zum Schreien: Mehr als 730 Zivilisten wurden getötet oder verletzt, tausende aus ihren Häusern vertrieben; 390.000 Menschen, die in der Region gefangen sind, leiden unter gravierendem Mangel an Lebensmitteln und medizinischen Hilfsgütern, hunderte Schulen sind geschlossen.
Angesicht dessen klingt das "Argument", das Prof. Dr. Mesut Hakki Casin, Chef der Abteilung für internationale Beziehungen an der Istinye-Universität in Istanbul, am 21. Februar 2018 der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu Agency das Argument unterjubelte, wie blanker Hohn: die Türkei sei das Opfer des syrischen Krieges, das am meisten unter den dortigen Ereignissen gelitten hat. Der Akademiker verdrängte offenbar im vorauseilenden Gehorsam, dass sein Land seit Jahren völkerrechtswidrig auf fremden Boden agiert, sein Herr und Meister Syrien überfallen hat.
Optionen für den Ausgang der völkerrechtswidrigen Aggression
Was die Zukunft für Nordsyrien bringen wird, insbesondere für die Gebiete, die Ankara besetzt und noch besetzen wird, bleibt ungewiss, denn die islamo-nationalistische Türkei ist und bleibt ein Einzelspieler, und zwar ein äußerst unberechenbarer. Fatal wäre es, wenn sich die Aggressoren darin berauschten, einen Zipfel des früheren Osmanischen Reiches zurückerobert zu haben. Dann gilt wohl eher, was der ehemalige türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu im Mai 2015 in Dortmund vor "einem Meer aus türkischen Nationalfahnen und Parteifahnen der AKP" heraus posaunte: "Wo diese Fahne weht, ist für uns die Türkei. Für uns ist überall die Türkei." Wir erinnern uns an den osmanischen Zirkus auf dem Dach in Rajo.
Falls Ankara das in Nordsyrien besetzte Terrain nicht an dessen Eigentümer, den Staat Syrien, zurückgibt, könnte es durchaus Rückzugsgebiet für die so genannten Rebellen werden, jene Terroristen, die Erdogan zwecks Regime-Change in Syrien jahrelang gepäppelt hat und die momentan mit ihm Seite an Seite in Afrin kämpfen. Schließlich hat die Türkei - wie auch die NATO und Golfstaaten - zu viel Geld in diese terroristischen "Rebellengruppen" investiert, sie trainiert, mit Waffen ausgerüstet. Und die Terroristen werden sich andererseits für ihre "Dienste" und Verluste auch nicht mit einem Apfel und einem Ei abspeisen lassen. Den Regime-Change in Damaskus haben sie sowieso noch immer auf ihrer Agenda; ebenso wie ihre Ziehväter in Washington - und Ankara. Setzten sich Erdogans Kampfgenossen Terroristen in Afrin und Idlib fest, würde das Washington mehr als nur einen Grund liefern, Syrien erst recht nicht verlassen zu müssen. Unter dem Vorwand, den von ihnen herbeifantasierten IS 2.0 zu bekämpfen, könnten die Amerikaner nicht nur ihr bestehendes Kontingent aufstocken, sondern auch ihr "Kampfgebiet" erweitern; sprich: sich weitere Teile Nordsyriens einverleiben.
Selbiges könnte dazu führen, das die Türkei wieder einmal umkippt, sich erneut mit Washington ins Bett legt. Am 16. Februar 2018 trafen sich die beiden Außenminister Mevlüt Cavusoglu und Rex Tillerson, sprachen von konkreten Schritten zur Überwindung ihrer Differenzen, von einem "Mechanismus" für weitere Gespräche sowie von einem nächsten Treffen Mitte März. Tillerson betonte, beide Staaten seien daran interessiert, den IS zu besiegen und stabile Verhältnisse in Syrien zu sichern. Aus türkischen Regierungskreisen verlautete gar, die Regierung in Ankara habe einen "gemeinsamen Einsatz" (sic) vorgeschlagen.
Andererseits sehen Analysten in der offenbar von Moskau abgesegneten türkischen Aggression einen Deal zwischen den Präsidenten Putin und Erdogan, der darauf hinausläuft, die Kurden zu drängen, unter das Dach von Damaskus zurückzukommen. Dann nämlich würde "der türkische Militärfeldzug in Nordsyrien an Relevanz verlieren", so der syrische Politologe Ghassan Kadi am 27. Februar 2018 gegenüber Sputnik:
Wenn sie die Idee einer souveränen Einheit in Nordsyrien aufgegeben haben, dann hat Erdogan keine Berechtigung mehr, seine Operation Olivenzweig in Afrin und Manbidsch fortzusetzen.
Kadi ergänzte:
Wenn Erdoğan sich weigert, diese Realität zu sehen, könnte er direkte Auseinandersetzungen mit der Syrischen Arabischen Armee und sogar einen begrenzten Krieg herausfordern. Ich glaube weiterhin, dass ein umfassender Krieg weder auf der Tagesordnung der Türkei noch Syriens steht. Russland könnte Erdogans Ängste zerstreuen und ihn davon überzeugen, dass die Kurden unter das Dach von Damaskus gebracht werden und ein unabhängiger kurdischer Staat nicht mehr auf der kurdischen Agenda steht. Das syrische Kurdenproblem ist ein lokales, Erdogan muss diese Tatsache verstehen und gehen. Erdogan war immer eine Wildcard, und mit Verbündeten wie ihm braucht Russland keine Feinde.
Die kurdischen Truppen, die noch Teile von Afrin kontrollieren, stehen vor der Wahl: Sowohl Moskau als auch Damaskus sagten ihnen volle Unterstützung zu, falls sie sich der Kontrolle der syrischen Regierung fügen. Wenn sie das akzeptieren, werden die türkischen Kampfflugzeuge vom Himmel über Afrin verschwinden. Noch bestehen die Kurden darauf, ihre eigenen Militär- und Polizeikräfte sowie ihre nicht gewählten lokalen Verwaltung zu behalten. Bleiben sie stur, werden die türkischen Streitkräfte samt Dschihadisten sie möglicherweise zermürben. Die Entscheidung scheint einfach.
Tatsächlich purzeln infolge des türkischen Einmarsches prominente Steine auf dem militärischen Schachbrett in Syrien. Die mit den Amerikanern im Osten des Landes verbundenen Kurden gehen nach Afrin, um dort gegen die Türken und die vom Westen, den Amerikanern und Golfstaaten aufgebauten Dschihadisten zu kämpfen. Die Proxys der Regime-Change-Meute hauen sich nun also gegenseitig die Köpfe ein. Und die Amerikaner stehen im besetzen Land östlich des Euphrats ziemlich einsam da. Genau das ist für Elijah J. Magnier, politischer Analyst und Kriegsberichterstatter mit mehr als 32 Jahren Erfahrung, darunter im Libanon, Irak, in Syrien, Iran und Libyen, die Lösung des gordischen Knotens:
Die Russen wollen die USA isolieren. Sie würden gerne sehen, dass die USA allein in Syrien bleiben, um so (besser) auf deren illegale Präsenz und damit auf die illegale Besetzung Nordost-Syriens hinweisen zu können, besonders wenn die verbleibende IS-Konzentration sich in dem Gebiet an der syrisch-irakischen Grenze befindet, das unter amerikanischer Kontrolle steht. Die US-Streitkräfte sehen dann aus wie eine Kraft, die die Terrorgruppe schützt und ihr erlaubt, weiter zu existieren und ihre Operationen in Syrien und im Irak fortzusetzen.
Russland, so Magnier, hält die Türkei für das kleinere Übel in Syrien und kann später damit fertig werden. Er geht zudem davon aus, dass Moskau und Ankara in den kommenden Wochen einen Ausweg werden finden müssen, um das Gesicht der Türkei zu wahren und ein Szenario präsentieren zu können, in dem alle Gewinner sind, einschließlich der Kurden. Möglicherweise sind die jüngsten Botschaften aus Ankara, man werde in Syrien weiterhin "entschlossen" gegen "terroristische Organisationen" kämpfen, die "die territoriale Unversehrtheit und politische Einheit Syriens bedrohen", den Einsatz aber so lange fortsetzen, "bis der letzte Terrorist vernichtet ist", erste Vorboten dieser Entwicklung. Eben das bekräftigte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu noch einmal am 6. März 2018 bei einem Treffen mit seinem deutschen Kollegen Sigmar Gabriel:
Die Türkei und Deutschland treten für die politische und territoriale Souveränität Syriens ein.
Sollte Erdogan irgendwann in naher Zukunft die widerrechtlich besetzten Gebiete in Nordsyrien an den syrischen Staat zurückgeben, so wäre das sicherlich sein erster Schritt Richtung Canossa, um mit Damaskus irgendwie wieder ins Gespräch zu kommen. Es gibt viel zu bereden mit dem Nachbarstaat, an dessen Zerstörung sich Ankara fleißig beteiligt hat. Längst haben der türkische Staat und sein Präsident ungeheure Verbrechen in Syrien auf sich geladen. Erhebliche Reparationszahlungen an Damaskus, Leistungen für den Wiederaufbau, Rückgabe des Diebesgutes, ein Kniefall vor Syriens Präsident Baschar al-Assad wären das Mindeste - die Öl-Diebstähle seiner Clique in Syrien in Kooperation mit dem IS werden hier noch nicht einmal besprochen: Ob der Möchtegern-Sultan aber zu solcher Größe (freiwillig) in der Lage ist...?
Makaber ist, dass Erdogans Regierungspartei AKP seit dem Angriff auf Afrin um fünf Prozentpunkte zugelegt hat, auf 55 Prozent der Wählerstimmen kommt und sich so gute Chancen auf den Sieg bei den Präsidentschaftswahlen 2019 im wahrsten Sinne des Wortes blutig und zu Lasten seines südlichen Nachbarstaates "erkämpft".
(Teil 1 können Sie hier nachlesen.)
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