
"Krieg und Frieden" im Berliner Kino Babylon: Rückkehr zur UN-Charta als letzte Chance

Von Astrid Sigena und Wladislaw Sankin
Im voll besetzten Kino Babylon hatten sich ganz unterschiedliche Persönlichkeiten zu einer Diskussion versammelt, wie man sie bezüglich Toleranz und gegenseitigem Respekt in der derzeitigen Bundesrepublik kaum noch findet. Hier diskutierte der Marineoffizier mit dem Friedensbewegten, der UN-Diplomat mit dem Satiriker. Und das ohne Herabwürdigung oder Beleidigung des Gegenübers. Weniger tolerant waren dagegen die Gegendemonstranten vor dem Kino, die die Diskutanten in gewohnt-brachialer Manier als "ruzzische Spione" diffamierten – bis zu 30 überwiegend junge Störer skandierten in Richting der Veranstaltungsbesucher Hetzparolen und hielten Fahnen der Ukraine, Georgiens und der NATO hoch.
Als Podiumsgäste waren eingeladen: der Verleger Holger Friedrich (Berliner Zeitung), Vizeadmiral a. D. Kay-Achim Schönbach (der frühere Inspekteur der Deutschen Marine) sowie die beiden EU-Abgeordneten Michael von der Schulenburg (zuvor UN- und OSZE-Diplomat) und Martin Sonneborn (früher Chefredakteur des Satiremagazins Titanic). Übrigens hatten alle vier ihren Wehrdienst abgeleistet (Sonneborn und Schönbach bei der Bundeswehr, von der Schulenburg und Friedrich bei der NVA).

Die Moderation übernahm der Journalist Florian Warweg von den NachDenkSeiten (ehemals RT Deutsch, bekannt als hartnäckiger Fragesteller in der Bundespressekonferenz). Ihm gelang es mit seiner geschickten Gesprächsführung nicht nur, aus den Befragten immer wieder interessante Antworten herauszukitzeln, er trug mit eigenen Beiträgen auch selbst immer wieder zur Hebung des Diskussionsniveaus bei. So etwa, als er die Quasi-Monopolstellung der großen Medienkonzerne in der Bundesrepublik erwähnte. Warweg ist es (neben Sonneborn) auch zu verdanken, dass der Abend trotz der gefährlichen politischen Lage nicht trübselig verlief. Sein Szenario einer aus den Diskussionsteilnehmern gebildeten Bundesregierung lockerte gleich zu Beginn die Stimmung deutlich auf.
Die beiden Gegenpole des Abends waren Schönbach und von der Schulenburg. Schönbach gab den konservativen weltpolitischen Realisten mit skeptischen Menschenbild, der sich – bei aller Wertschätzung der Diplomatie – lieber nicht darauf verlässt, dass sich Staaten an Regeln halten, sondern vielmehr auf Abschreckung durch Rüstung setzt. Dem früheren Diplomaten von der Schulenburg lag schon berufsbedingt die Rolle des Idealisten näher, der auf Konfliktlösung durch die UNO und andere überstaatliche Institutionen pocht. Auch Friedrich ging in seinen Ausführungen eher in Richtung pazifistischer Idealist. Sonneborn (Die PARTEI) dagegen gab immer wieder tiefsinnig-absurde Anekdoten aus dem Betrieb des EU-Parlaments zum Besten. Auf dem ersten Blick waren diese zum Lachen, bei näherer Betrachtung jedoch Symptome einer abgehobenen, kriegslüsternen Politikerkaste, deren Aggressivität nur doch ihre relative Machtlosigkeit gebremst wird.
Gleich am Anfang ließ Vizeadmiral a. D. Schönbach aufhorchen, denn die Zuhörer erfuhren, dass keineswegs Verteidigungsministerin Christine Lambrecht, sondern Außenministerin Annalena Baerbock die treibende Kraft gewesen war, die schließlich seinen vorzeitigen Amtsverzicht bewirkt hatte. Zur Erinnerung: Schönbach hatte gehen müssen, weil er Anfang 2022 bei einem Vortrag in Indien die für BRD-Verhältnisse ketzerische Ansichten vertreten hatte, Russland und Wladimir Putin verdienten Respekt, und die Krim werde nicht mehr zur Ukraine zurückkehren (RT DE berichtete). Ein weiterer Beleg für das unheilvolle Wirken der Trampolin springenden Völkerrechtlerin.
Auch zur derzeit grassierenden Hysterie der tatsächlichen oder vermeintlichen Drohnensichtungen konnte Schönbach als militärischer Fachmann Erhellendes beitragen: Frühere Kameraden aus der Bundeswehr, darunter ein ehemaliger Luftwaffeninspekteur, signalisierten ihm, dass an der Theorie einer russischen Provokation nichts dran sei. Es werde aber politisch gefordert, dass die Bundeswehr bei diesem Thema mitspiele (RT DE berichtete).
Zugeknöpfter gab sich Schönbach dagegen auf die Reporterfrage nach einer Gefährdung der Brigade Litauen als ideales Opfer einer möglichen False-Flag-Operation, die mit dem Ziel der Einleitung eines Krieges durchgeführt werden könnte. Nichtsdestoweniger äußerte der pensionierte Militär Kritik an der Stationierung einer ganzen Bundeswehrbrigade im Baltikum. Bisher hätten bedeutend kleinere deutsche Kontingente zur Aufrechterhaltung der Stolperdrahtfunktion genügt.
Gegenüber einer flammenden BRICS-Befürworterin, die in der Zusammenarbeit dieser Staaten das Entstehen einer friedlichen, auf Nichteinmischung und Gleichberechtigung basierenden Weltordnung sah, warnte Schönbach vor einer Verharmlosung des aggressiven Vorgehens Chinas. Die Volksrepublik als größter nicht einheimischer Landeigentümer in Afrika agiere dort als "knallharter, eisenharter Kolonialist", der andere Staaten in die Schuldknechtschaft ziehe, um seine eigenen Interessen durchzusetzen. Es handele sich um eine unblutige, aber dennoch "knallharte" Vorgehensweise – gegenüber den Nachbarn im Südchinesischen Meer sogar militärisch. Der bei der Diskussionsveranstaltung anwesende Journalist Tilo Gräser merkt zu Recht an, dass Schönbach offenbar Russland immer noch als potenziellen Partner in einem zu erwartenden Konflikt des Westens (und Indiens) mit einem als feindlich betrachteten China sieht.
Schönbach griff während der Diskussion auf das gern zitierte lateinische Sprichwort "Si vis pacem para bellum!" ("Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor") zurück, um die Notwendigkeit von Militär und Rüstung zu rechtfertigen. Man könne sich nicht darauf verlassen, dass sich andere Staaten an die diplomatischen Gepflogenheiten und das Prinzip der gewaltlosen Austragung zwischenstaatlicher Konflikte hielten. Wäre die Ukraine besser gerüstet gewesen, hätte Russland den Angriff 2022 nicht gewagt. Als sein Idealbild einer deutschen Verteidigungspolitik nannte Schönbach den stacheligen Igel, der selbst keine aggressive Politik verfolgt, aber sich zu verteidigen weiß – ein Symbol der "wehrhaften Friedfertigkeit".
Von der Schulenburg trat als leidenschaftlicher Verfechter der UN-Charta auf, deren Werte noch immer Gültigkeit besäßen. In vielen Ländern der Welt habe die Charta sogar Gesetzeskraft. Wer in Deutschland für den Frieden sei, der müsse auch die UN-Charta unterstützen: "Denn die UN-Charta richtet sich nicht nur an die Regierung, die richtet sich an alle Menschen." Ohne die UN-Charta könne man angesichts erbittert geführter Kriege gar nicht verhandeln. Die "regelbasierte Weltordnung", wie sie der Westen vertrete, werde hingegen von den Ländern außerhalb des Westens nicht akzeptiert, weil sie willkürlich zum Vorteil des Westens angewandt werde. Mehrfach wies der Ex-Diplomat in seinen Redebeiträgen auf den von ihm verfassten 40-seitigen Kommentar zur UN-Charta hin. Die Broschüre ist als Online-Lektüre oder als PDF zum Downloaden kostenlos auf seiner Website verfügbar.
Dass der Idealist von der Schulenburg keineswegs blauäugig ist, erweist sich in seiner Kritik an den Zuständen im größtenteils bellizistischen EU-Parlament ("ein kriegslüsternes Monstrum"), dessen niederschmetternden Zustand er keineswegs verkennt. Selbst EU-Parlamentarier für das BSW, zeigte er sich erschreckt von der Kaltblütigkeit eines Großteils der EU-Parlamentarier, die bereit seien, andere Leute in den Krieg zu schicken. Er selbst wisse aus seiner Berufserfahrung, "wie Kriege aussehen". Der einzige Trost sei, dass dieses sich völlig verselbstständigt habende, sich "in einer Bubble" bewegende Parlament mit seinen Resolutionen "in der wirklichen Welt kaum eine Rolle" spiele. Sein Kollege Sonneborn bestätigte diese Beobachtungen mit Beispielen aus seiner eigenen Erfahrung.
Erfreulicherweise redete von der Schulenburg Klartext, was die Kriegsschuld im Ukraine-Konflikt betrifft. Der erfahrene Diplomat weigerte sich, die üblicherweise verwendeten Plattitüden vom angeblich "unprovozierten russischen Angriffskrieg" wiederzukäuen, und verwies vielmehr auf den Unterschied zwischen Gewaltverbot und Friedensgebot im Völkerrecht. Gegen das Gewaltverbot habe Russland verstoßen, jedoch versucht, das Friedensgebot einzuhalten. Es habe stets Verhandlungsbereitschaft gezeigt. Es sei vielmehr der Westen gewesen, der mit seiner Torpedierung der Istanbuler Waffenstillstandsverhandlungen und auch schon im Vorfeld des Konflikts massiv gegen das Friedensgebot verstoßen habe. Die Schuldfrage gemäß UN-Charta sei eben nicht primär, wer zuerst Gewalt angewendet habe, sondern "wer nicht bereit war, über die Konflikte zu verhandeln". Wer sich dem verweigere, verstoße gegen die Kernaussage dieser Charta – die Verpflichtung, Konflikte am Verhandlungstisch zu lösen.
Auch auf die Kritik eines 18-jährigen Zuschauers hin, Russland sei in der vorausgegangenen Diskussion zu gut weggekommen, blieb von der Schulenburg fest bei seiner Meinung. Er kritisierte zwar (ein in der BRD heutzutage schon allein zum Selbstschutz notwendig gewordener Vorbehalt) den Angriff Russlands am 24. Februar 2022 als völkerrechtswidrig, gab aber der anderen Seite (also der NATO) eine weit größere Schuld und klagte an: "Warum haben wir nicht verhandelt? Warum haben wir das nicht verhindert? Ich glaube, die Hauptschuld liegt hier bei uns." Dabei verwies von der Schulenburg auch auf die Kriegsvorbereitungen im Westen und "die ganzen Reden davor schon, was man mit Russland alles machen wollte". Man müsse dazu übergehen, die andere Seite verstehen zu wollen. Der Ex-Diplomat deutete an, die USA hätten im umgekehrten Fall ein russisch-chinesisches Militärbündnis mit Mexiko samt chinesischer Marinebasis und jährlicher Militärübung auch nicht geduldet. Das Publikum quittierte von der Schulenburgs Ausführungen mit Applaus.

Bereits zuvor hatte von der Schulenburg auf die Notwendigkeit von Verhandlungen mit Russland bestanden. Indem sich der Westen weigere, mit Russland zu verhandeln, werde ein völlig nutzloser Krieg verlängert. Verhandlungen mit der Ukraine lägen gerade im Interesse der Ukraine, die die verlorenen Gebiete nicht zurückerobern könne. Die Soldaten, die diesem Konflikt zum Opfer fielen, stürben für nichts. Die deutsche (und europäische) Gesprächsverweigerung nannte der EU-Parlamentarier "ein Riesenverbrechen, an dem wir eine Mitwirkung tragen".
Eine gewisse Sympathie zeigte von der Schulenburg für Wladimir Selenskij. Dieser könne ja gar nichts unterschreiben, solange die Europäer weiterhin den Krieg betrieben. Wenn die Europäer Friedenswillen zeigten, wäre auch Russland bereit, Kompromisse einzugehen. Im Moment sei dies für Russland angesichts der inakzeptablen europäischen Bedingungen (NATO-Beitritt der Ukraine, Räumung der mittlerweile Russland angegliederten Gebiete, Prozess gegen Putin und andere "Kriegsverbrecher") unmöglich. Die Ukrainer täten ihm leid, sie seien ein vom Westen betrogenes Volk, dass für die geopolitische Ziele des Westens im Stellvertreterkrieg gegen Russland mit ihrem Blut und sogar ihrem Land zahlten.
Friedrich gab dagegen dem jungen Fragesteller "absolut" Recht. Den Ukraine-Konflikt brach er auf die zwischenmenschliche Ebene herunter, indem er ihn auf mit einer Prügelei auf dem Schulhof verglich. Ein guter Schuldirektor reagiere darauf, indem er als Allererstes die Prügelei unterbinde, nicht damit, die Frage zu klären, wer angefangen hat. Was die Russische Föderation in der Ukraine getan habe, sei "hart inakzeptabel". Die politische Führung Russlands habe sich disqualifiziert, wenn sie keine andere Lösung als einen Angriffskrieg gefunden habe – "bei allen legitimen Interessen" (die offenbar auch Friedrich den Russen zugesteht). Auch für diese harsche Kritik gab es Applaus und sogar Bravo-Rufe.
Ebenso wurde aber applaudiert, als Friedrich betonte, dass seine Kritik nicht einschließe, "dass das russische Volk oder der russische Staat unser Feind oder Gegner ist". Auch Friedrich wies auf das Versagen der deutschen politischen Führung hin. Im Übrigen hielt er es "bei begabten Militärs und guten Entwicklern für Waffentechnologien" für möglich, "Russland in einem Krieg zu besiegen", gab aber zu bedenken: "Aber wir würden in jedem Fall eine Zivilisation verlieren."
Von der Schulenburg bot zum Schluss der Fragerunde noch einen Ausblick auf die Zukunft. Geopolitik sei eben gerade kein Schulhof. Es gebe derzeit zwei große Kriege: zum einen den Ukraine-Krieg, zum anderen den Krieg Israels gegen den Iran und anderen Länder, mit denen es im Nahen Osten in Konflikt stehe. Beide Kriege sei der Westen im Begriff zu verlieren. Und das in einer Zeit, in der sich die Welt wirtschaftlich und technologisch rasant verändere. Heutzutage seien die BRICS-Staaten größer als die G7.
Die große Frage sei, wie der Westen mit seinem künftigen Verliererstatus umgehen werde. Werde er genauso friedlich seinen Herrschaftsanspruch aufgeben, wie dies Anfang der 90er-Jahre der Warschauer Pakt und die Sowjetunion getan hätten? Die beiden Kriege, die der Westen gerade verliere, seien enorm gefährlich, denn in beiden Kriegen spielten Nuklearwaffen eine Rolle, die im Ernstfall eingesetzt werden könnten. Mit diesen ernst zu nehmenden Befürchtungen endete eine wertvolle Veranstaltung, die vorbildhaft für die Verbesserung der deutschen Debattenkultur stehen könnte.
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