
"Bewegung an der ganzen Front" – Wo die ukrainische Verteidigung zusammenbrechen könnte

Von Andrei Koz
Kupjansk einkesseln
Der heißeste Frontabschnitt heute ist Kupjansk im Osten des Gebiets Charkow. Die Spitzen des Truppenverbands West sind bereits in die bebauten Gebiete der Stadt vorgedrungen und haben die Garnison vom Norden und Westen eingeschlossen. Auch Versuche einer Umgehung vom Süden werden unternommen. Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums sind mindestens 700 ukrainische Kämpfer in den Kessel geraten – eine beträchtliche Kraft. Darunter befinden sich Verbände, bei denen russische Soldaten eine besondere Rechnung offen haben: Nationalisten aus der Staffel "Freikorps", Vertreter des sogenannten russischen Freiwilligenkorps sowie Sondereinheiten des ukrainischen Militärgeheimdiensts GUR.
Durch Kupjansk fließt der Fluss Oskol. Hier schneiden sich mehrere Eisenbahnlinien und Straßen, über die der gesamte ukrainische Truppenverband östlich der Stadt versorgt wird. Wer Kupjansk beherrscht, kontrolliert den Ostteil des Gebiets Charkow.
Wie auch viele andere Städte in der Region wurde Kupjansk vom Kiewer Regime zu einem stark befestigten Stützpunkt ausgebaut. Das ukrainische Militär hält alle Zuwege unter Feuerkontrolle, darunter die Übergänge über den Oskol. Praktisch jedes Gebäude wurde in einen gut ausgebauten Schartenstand verwandelt. Es gibt viele Minenfelder.
Mit der Einnahme von Kupjansk eröffnet sich der Weg nach Isjum, Tschugujew und Woltschansk aus südlicher Richtung – dem aus dem Gebiet Kursk vorrückenden Truppenverband Nord entgegen. Ein weiterer Weg eröffnet sich über eine strategisch wichtige Straße, die zur Nordgrenze der Donezker Volksrepublik führt, zum Ballungsraum Slawjansk–Kramatorsk. Dies wird die Befreiung dieser Städte, die eine Schlüsselbedeutung für die ukrainische Verteidigung im Donbass haben, beschleunigen.
Durchbruch zu Konstantinowka

Die Truppenverbände Süd und Mitte haben einen Keil in die ukrainischen Verteidigungslinien bei Krasnoarmeisk (ukrainischer Name: Pokrowsk) und Konstantinowka getrieben. Das russische Kommando hat längst auf Frontalangriffe verzichtet und setzt auf die Taktik einer Isolierung von Siedlungen: Diese sollen von Versorgung und Kommunikation abgeschnitten werden, um die Garnison zu zermürben oder zu einer panischen Flucht zu zwingen.
Krasnoarmeisk mit einer Vorkriegsbevölkerung von 80.000 Einwohnern und die benachbarte Stadt Dimitrow (ukrainischer Name: Mirnograd) mit einer Vorkriegsbevölkerung von 55.000 Einwohnern befinden sich praktisch bereits in einem Kessel – dieser Ballungsraum wurde vom Süden, Osten und Norden her umzingelt. Die Versorgung der Garnison hängt von der einzigen dem ukrainischen Militär verbliebenen Asphaltstraße ab, der E50 nach Pawlograd. Nördlich von Krasnoarmeisk dringen Einheiten des Truppenverbands Nord weiter in Richtung Dobropolje vor. Weiter östlich dauern erbitterte Kämpfe um das Dreieck Popow Jar–Poltawka–Russin Jar an.
Südlich von Konstantinowka zerschlägt der Truppenverband Süd die südlich des Kleban-Byk-Stausees eingekesselten Überreste der ukrainischen Verbände. Der Flaschenhals des Kessels verläuft durch die bereits befreiten Ortschaften Kleban-Byk und Alexandro-Kalinowo. Nach Schätzungen russischer Militärangehöriger befinden sich im Kessel bis zu zwei motorisierte Infanteriebataillone des ukrainischen Militärs. Sie haben keine Rückzugsmöglichkeit.
Im Westen erweitern die russischen Truppenverbände Mitte und Ost den Brückenkopf im Gebiet Dnjepropetrowsk. Es wurden bereits 14 Ortschaften befreit – Kalinowskoje, Berjosowoje, Nowonikolajewka, Nowopetrowskoje, Datschnoje, Malijewka, Nowosjolowka, Janwarskoje, Choroscheje, Nowogeorgijewka, Filija, Saporoschskoje, Woronoje und Sosnowka. Dies sicherte einen wichtigen Grenzabschnitt am Zusammenlauf der Grenzen der Gebiete Dnjepropetrowsk und Saporoschje und der DVR. Schließlich wird hier wahrscheinlich eine Pufferzone zwischen Russland und der Ukraine gebildet werden.
Die Nordgrenze
Die Intensität der Kämpfe im Gebiet Sumy hat etwas abgenommen. Der Truppenverband Nord hält Positionen entlang der Linie Kondratowka – Andrejewka – Alexejewka – Nowonikolajewka – Jablonowka – Loknja. Das ukrainische Militär versucht Gegenangriffe auf die westliche Flanke der russischen Truppen. Eine Rückeroberung von Kondratowka und Andrejewka gelang allerdings nicht.
An der Ostflanke des Truppenverbands Nord im Gebiet Sumy laufen erbitterte Kämpfe um Junakowka. Dieses 20 Kilometer von der Stadt Sumy entfernte Dorf war eine Umschlagstelle für ukrainische Verbände, die im Sommer vergangenen Jahres das Gebiet Kursk angegriffen hatten. Stoßtrupps des Truppenverbands Nord haben sich im Zentrum von Junakowka festgesetzt und teilweise die Kontrolle über die Straße N-07 übernommen, über die einst der Invasionsverband versorgt wurde. Noch wichtiger ist die Tatsache, dass sich das Dorf auf einer beherrschenden Höhe befindet, von der aus die Stadt Sumy vollständig mit Feuer der Rohrartillerie belegt werden kann.
Das ukrainische Militär hat nicht vor, sich zurückzuziehen: Ein Verlust von Junakowka birgt die Gefahr eines kaskadenförmigen Frontzusammenbruchs an diesem Abschnitt. Kiews Truppen erhalten regelmäßig Verstärkungen von anderen Abschnitten, darunter Spezialverbände des GUR. Doch wegen der Luftüberlegenheit der russischen Armee im "kleinen Luftraum", nämlich bei Drohnen, erleiden ukrainische Truppen schwere Verluste.
Freilich gab es in den vergangenen Wochen keinen Vormarsch in die Tiefe des Gebiets Sumy. Der Plan des russischen Kommandos besteht wahrscheinlich darin, die besetzten Stellungen zu halten und damit eine weitere Invasion des Gebiets Kursk zu verhindern.
Initiative liegt bei Russland
Am Frontabschnitt Saporoschje erweitert der russische Truppenverband Dnjepr die Kontrollzone um das Städtchen Stepnogorsk, das vor dem Krieg eine Bevölkerung von 4.000 Menschen hatte. Ein Durchbruch dorthin wurde nach der Befreiung des Dorfs Kamenskoje Ende Juli ermöglicht. Die Front stand hier seit Herbst 2023 still, nachdem die ukrainische "Gegenoffensive" endgültig gescheitert war. Eine Befreiung von Stepnogorsk würde gleich zwei Aufgaben für die russische Armee lösen.
Erstens sind es von Stepnogorsk bis Saporoschje weniger als 30 Kilometer, was in der Reichweite von Rohrartillerie und FPV-Drohnen liegt. Zweitens können russische Truppen von Stepnogorsk aus nach Osten in Richtung Nowojakowlewka vorrücken, um den ukrainischen Truppen in der Nähe der Stadt Orechow in den Rücken zu fallen. Im Übrigen begann gerade dort die "Gegenoffensive" von 2023. In jedem Fall wird der lange in Frontberichten kaum erwähnte Truppenverband Nord inzwischen öfter freudige Nachrichten bringen.
Die Initiative im Kampfgebiet liegt bei der russischen Armee. Das ukrainische Militär leidet an einem erheblichen Personalmangel an den meistbedrohten Frontabschnitten. Die russische Offensive läuft gleich an mehreren Abschnitten und zwingt das ukrainische Militär, seine ohnehin äußerst überdehnten Kräfte zu zersplittern. Doch von Tag zu Tag wird es schwieriger, die Löcher in der Front zu stopfen.
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei RIA Nowosti am 24. September.
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