
Krise zwischen Russland und Aserbaidschan: Alijew fühlt sich ertappt und schlägt wild um sich

Von Anton Gentzen
Die Beziehungen zwischen Moskau und Baku kannten in den letzten dreißig Jahren ihre Höhen und Tiefen. Stein des Anstoßes war in der Vergangenheit die von Aserbaidschan abtrünnige, bis vor Kurzem mehrheitlich von ethnischen Armeniern bewohnte Provinz Bergkarabach. Anders als es die von hysterischem Russenhass triefende Propaganda Bakus nun weismachen will, hatte Moskau den ethnischen Konflikt dort nicht provoziert und nicht befördert (dieser flammte Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre auf "natürliche" Weise auf), hatte aber später vertraglich die Garantenstellung für dessen friedliche Beilegung übernommen.
Nebenbei: Dies lief gegen die objektiven geopolitischen Interessen Russlands, welches gute Beziehungen zu Aserbaidschan mehr braucht als solche zu Armenien: des Korridors nach Iran und der Sicherheit im Kaspischen Meer wegen. Das Engagement für die Existenz und Sicherheit der historisch schwer gebeutelten Armenier war mehr eine "Sache des Herzens" denn kühle Kalkulation eines Imperiums. Einen weiteren Völkermord wollte man nicht zulassen und die Erinnerung an die antiarmenischen Pogrome in Baku und Sumgait im Jahr 1988 war damals noch frisch.

"Gedankt" wird es Russland in Jerewan nun ebenfalls mit Russophobie und prowestlichem Kurs. Der dortige Regierungschef Nikol Paschinjan braucht einen Sündenbock, um davon abzulenken, dass er selbst es war, der die Zugehörigkeit Karabachs zu Aserbaidschan ausdrücklich anerkannt und damit Moskau die Hände gebunden hatte. Die offizielle Armee Armeniens hielt sich in beiden Runden des jüngsten Karabach-Krieges zurück. Was hätten da die wenigen russischen Friedensstifter ‒ zumal ohne von Aserbaidschan unabhängige Verkehrsverbindung in die Heimat ‒ ausrichten können? Und so wird in Armenien nun die Mär verbreitet, Russland habe Karabach an Baku verkauft, was genauso wenig stimmt wie die umgekehrten Anschuldigungen in der Propaganda Aserbaidschans.
Wie dem auch sei, nun, wo der Stein des Anstoßes aus dem Weg geräumt ist, schienen gute russisch-aserbaidschanische Beziehungen vorprogrammiert. Objektiv haben beide Länder und Völker keine originären Interessenkonflikte. Unterpfand eines guten Verhältnisses sind auch rund 1,5 Millionen Aserbaidschaner in Russland, überwiegend russische Staatsangehörige mit guten Kontakten in ihre historische Heimat. Und die Handelsbeziehungen florieren: Ihr Volumen wächst beständig und erreichte nach 4,3 Milliarden US-Dollar im Jahr 2023 den Rekordwert von 4,6 Milliarden im vergangenen Jahr. Für Aserbaidschan ist Russland der drittwichtigste Handelspartner bei seinen Exporten und nach China der zweitwichtigste beim Import.
Während das kaukasische Land seinem nördlichen Nachbarn vor allem Obst, Gemüse und Nüsse liefert, bezieht es von dort überraschend – Aserbaidschan ist selbst Ölexporteur – Rohöl für den Eigenbedarf (1,52 Millionen Tonnen Öl der Sorte Urals im Jahr 2024). Ebenfalls überraschend: Russland hat beim südlichen Nachbarn Erfolg mit Maschinen und Fahrzeugen aus seiner Produktion, und zwar nicht nur mit Wagen für die Metro der Hauptstadt Baku.
In der Gesamtschau sind all das überaus günstige Voraussetzungen für gute Beziehungen zwischen beiden Staaten. Auch die beiden Staatschefs Wladimir Putin und Ilham Alijew schienen sich gut zu verstehen. Umso überraschender – wie der sprichwörtliche Blitz aus heiterem Himmel – kam da der Wechsel des Tons in Baku in diesem Frühjahr.
Die ersten Misstöne kamen nach dem Absturz des Azerbaijan-Airlines-Fluges 8243 im kasachischen Aktau am 25. Dezember 2024 auf. Baku war schnell mit der Anschuldigung, die russische Luftabwehr habe die verunglückte Maschine über dem Zielort des Fluges, der tschetschenischen Hauptstadt Grosny, getroffen und beschädigt. Endgültig aufgeklärt ist dies bis heute nicht, doch selbst wenn sich diese Hypothese bewahrheitet, unterstellt auch im offiziellen Baku niemand Russland einen absichtlichen Abschuss. Der raue, fast schon unverschämt-fordernde Ton von Regierungsvertretern und die Welle antirussischer Hassstiftung in den Medien Aserbaidschans kann da nur auf Unverständnis stoßen. Zumal Russland seinerseits den früheren Vorfall des absichtlichen Abschusses eines Hubschraubers mit russischen Friedenskräften durch das aserbaidschanische Militär bewusst heruntergespielt hatte. Und zumal Alijew nun mit dem eigentlich Schuldigen – dem ukrainischen Machthaber Wladimir Selenskij, der zivile Flughäfen mit Drohnen angreifen lässt und damit die Luftverkehrssicherheit bewusst gefährdet – aktuell und öffentlich ein peinliches Bussi-Bussi zelebriert.
Das zweite Zeichen einer deutlichen Abkühlung kam im Mai 2025, als Alijew überraschend seine bereits zugesagte Teilnahme an den Feierlichkeiten zum 80. Jahrestages des Sieges über den Hitlerfaschismus in Moskau mit einer erkennbar fadenscheinigen Begründung absagte.
Die wirklich präzedenzlose Eskalation, mit der Baku die kriselnden bilateralen Beziehungen auf einen neuen Tiefpunkt beförderte, ist erst wenige Tage alt. Auslöser (oder Vorwand?) war die Verhaftung mehrerer ethnischer Aserbaidschaner mit russischem Pass im russischen Jekaterinburg am 27. Juni. Von der Razzia waren insgesamt bis zu 50 Männer betroffen, neun wurden festgenommen, gegen acht wurde später Untersuchungshaft angeordnet. Russische Ermittler werfen ihnen die Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung sowie Auftragsmorde und andere Gewaltdelikte in den Jahren 2001 bis 2011 vor.
Nach der Darstellung Aserbaidschans – eine offizielle Bestätigung der russischen Seite gibt es dafür nicht – sollen bei der Razzia zwei Männer, die Brüder Hussein und Sijaddin Safarow, ums Leben gekommen sein. Die sterblichen Überreste der beiden sollen am 30. Juni nach Aserbaidschan überführt und dort gerichtsmedizinisch untersucht worden sein. Im Ergebnis wird bei beiden ein "traumatischer Schock" als Todesursache angegeben.
Die Reaktion Bakus folgte prompt: Schon am nächsten Tag nach Bekanntwerden des Vorfalls wurden sämtliche kulturellen Veranstaltungen mit russischen Künstlern oder Werken russischer Komponisten in der aserbaidschanischen Hauptstadt abgesagt. Die Propaganda im staatlichen Fernstehen des Landes schlug einen scharfen Ton ein, der bis zu offenen Beleidigungen des russischen Präsidenten und chauvinistischen Ressentiments reichte.
Die Hysterie gipfelte in einem mittelalterlich anmutenden Vergeltungsakt nach dem biblischen Prinzip "Auge um Auge, Zahn um Zahn" und regelrechter Geiselnahme. Am Montag, dem 30. Juni, nahm die Polizei Aserbaidschans drei russische Journalisten, den Chefredakteur und einen weiteren Mitarbeiter von Sputnik Aserbaidschan sowie eine Mitarbeiterin der Videoagentur Ruptly fest. Gegen die beiden Erstgenannten ordnete ein Gericht am Folgetag für vorerst vier Monate Untersuchungshaft an. Am Dienstag kam es zu weiteren Verhaftungen offenbar zufällig ausgesuchter russischer Staatsbürger, acht an der Zahl, die auf einem von den Behörden veröffentlichten Video demonstrativ erniedrigend behandelt wurden und später bei der Vorführung im Gerichtssaal sichtbare Spuren von Schlägen und Misshandlungen aufwiesen.
Gegen sie wurde ebenfalls Untersuchungshaft angeordnet, die erhobenen Anschuldigungen wirken dabei konstruiert.
Auch am Mittwoch ist ein Ende der Eskalation nicht abzusehen, obwohl sich Russland in der Schärfe seiner Verlautbarungen zum Unmut zahlreicher Kommentatoren in sozialen Netzwerken zurückhält.
Warum eskaliert Baku gerade jetzt und wirft alles, was an gutnachbarschaftlichen Beziehungen aufgebaut wurde, mit hohem Risiko auch für sich um? Selbst wenn die erhobenen Vorwürfe gegen die Polizei in Jekaterinburg zutreffen sollten, hat sich Russland Ermittlungen nicht verweigert und hatte sich in der Vergangenheit selbst immer wieder bemüht, Willkür und ungesetzliche Gewalt seiner Sicherheitsorgane zu ahnden und auszumerzen. Durch die Übergabe der Körper der Safarow-Brüder hat Russland zudem seine volle Kooperationsbereitschaft in der Aufklärung aller Umstände und den Willen zu Transparenz demonstriert. Die Reaktion Aserbaidschans auf einen noch nicht aufgeklärten Vorfall wirkt da völlig unverhältnismäßig. Warum soll auch in der Theorie ein an zwei Bürgern begangenes Verbrechen, wenn es sich überhaupt um ein solches handelt, gleich das gesamte Verhältnis zwischen zwei Völkern und Staaten zunichtemachen?
An dieser Stelle wird von einigen Analysten ins Spiel gebracht, dass es sich bei den Verstorbenen um Verwandte (angeblich Neffen) eines anderen Safarow handelt – des 2006 von einem ungarischen Gericht zu lebenslanger Haft verurteilten Ramil. Dieser hatte am 19. Februar 2004 aus ethnischem Hass einen armenischen Teilnehmer eines NATO-Lehrgangs im Schlaf mit der Axt erschlagen. Nach Verbüßung eines Teils der Strafe wurde er 2012 von Ungarn zur weiteren Verbüßung an Aserbaidschan überstellt und dort sofort nach der Ankunft von Alijew vereinbarungswidrig und unter lautstarkem Protest Ungarns, Armeniens und sogar aus den USA begnadigt. Nicht nur das: Er wird in seinem Heimatland als Nationalheld gefeiert und genießt bis heute staatliche finanzielle Zuwendungen und Ehrerweisungen.
Möglicherweise sind sowohl Ramil Safarow als auch seine Neffen in Aktivitäten des aserbaidschanischen Geheimdienstes verwickelt. In diesem Zusammenhang erinnern russische Blogger auch an die skandalöse Entführung eines russischen Staatsbürgers, der ebenfalls aus Aserbaidschan stammt und der ethnischen Minderheit der Talyschen angehört. Am 26. März 2025 verschwand der 71 Jahre alte Sachiriddin Ibrahimi in ebenjenem Jekaterinburg spurlos und tauchte einige Tage später in Baku in Haft wieder auf. Hinter der Entführung soll der Geheimdienst Aserbaidschans stehen, der den Mann unter Umgehung der russischen Behörden in einem Privatflugzeug ausflog. Die jetzt in Jekaterinburg verhaftete Bande soll in die Entführung involviert gewesen sein ‒ womöglich ein Grund, warum auf Druck aus Moskau auch die von der örtlichen Polizei längst vergessenen Mordfälle wieder aufgerollt wurden.
Reagiert Baku also in der beschriebenen Hysterie auf die Zerschlagung seines Agenturnetzes? Wenn das so ist, müsste der Vorgang für Alijew eher peinlich sein: Entführungen der Staatsbürger befreundeter Länder sind so ziemlich das Übelste, was man veranstalten kann. Hier hat eher Moskau allen Grund für Härte, Schärfe und schrille Töne, nicht Baku. Unter "Freundschaftsschutz" stehen Agenten von "Partnern" allenfalls dann, wenn sie sich an Gesetze, zumindest aber an die ungeschriebenen Regeln der Geheimdienstkooperation halten ‒ nicht unter den beschriebenen Umständen. Das würde Baku doch vernünftigerweise lieber unter der Decke halten wollen, oder?
Ist die Eskalation vielleicht Rache für die jüngst erfolgte Zerstörung der Erdölraffinerie im ukrainischen Krementschug? Aserbaidschan machte Berichten zufolge solide Umsätze mit der Lieferung seines Erdöls an die Ukraine und sieht diese Einnahmenquelle nun wegbrechen. Doch auch das erscheint als Grund dafür, das gesamte Porzellan der weitaus lukrativeren Handelsbeziehungen mit Russland zu zerschlagen, ein viel zu geringer Grund.
Russische Analysten vermuten einen Einfluss des britischen MI-6 und/oder von "Freund Erdoğan", des aktuell schwierigsten "Partners" der russischen Außenpolitik, hinter der Eskalation und es ist auch überaus wahrscheinlich, dass beide eine Aktie an Alijews Spiel halten. Doch mit britischen und türkischen Einflüssen ist die Motivation von Alijew selbst nicht erklärt. Dieser ist mit all den Verstrickungen und Abhängigkeiten immer noch ein selbständiger geopolitischer Spieler, keine Marionette Ankaras oder Londons.
Schaut man sich Alijews aktuelle persönliche Machtstellung an, so sticht besonders ein Ereignis der letzten Monate hervor, das sie gefährdet. Im Nachgang zu den israelischen Luftangriffen auf Iran verdichten sich Hinweise darauf, dass die israelische Luftwaffe einen Teil dieser Angriffe von Aserbaidschan aus flog. Iranische Medien meldeten dies – man vergleiche das mit der Zeitleiste des jüngsten russisch-aserbaidschanischen Konflikts – spätestens am 28. Juni, russische Blogger griffen die Meldung am 29. Juni auf.
Klammern wir aus, ob der in Iran nun auch öffentlich erhobene Vorwurf zutrifft, das ist für die uns interessierende Frage irrelevant. Wichtig ist, dass der Vorwurf erhoben wird und dass er überaus plausibel ist: Anders lässt sich das tiefe Vordringen der israelischen Schläge in den eigentlich für sicher gehaltenen Norden Irans kaum erklären.
Nun stelle man sich die Reaktion vor allem der islamischen Welt auf diese Nachricht vor. In der Zeit, in der nicht nur sie empört und bestürzt über das Merkmale eines Genozids aufweisende Vorgehen Israels gegen die Zivilbevölkerung im Gazastreifen ist, kooperiert der Herrscher eines vollständig islamischen Landes mit dem sogenannten "zionistischen Regime". Er liefert nicht nur Öl an Israel und kauft israelische Drohnen, er stellt seine Flugplätze auch noch für die völkerrechtswidrige Aggression gegen das einzige muslimische Land zur Verfügung, das in der Vergangenheit konsequent den Widerstand der Palästinenser unterstützt hat.
Man bedenke zusätzlich, dass der in Aserbaidschan praktizierte Islam schiitisch ist und dessen geistiges Zentrum eben Iran ist. Wird sich in einem solchen Land ein Herrscher lange halten können, wenn die geistigen Führer der Schiiten eine ihn verurteilende Fetwa verkünden? Vielleicht wird er das sogar, Aserbaidschan ist in sowjetischer Tradition noch sehr weltlich geprägt, aber innenpolitischer Ärger ist in jedem Fall vorprogrammiert.
Und das ist dann auch die mir plausibel erscheinende Erklärung für das Verhalten Alijews und seiner Behörden: Er versucht der erwartbaren Welle religiös motivierten Aufbegehrens gegen ihn eine Welle nationalistischen, ja fast schon nazistischen Schulterschlusses gegen einen "äußeren Feind" entgegenzusetzen. Und wer eignet sich da in allen postsowjetischen Ländern als Hassobjekt?
Alijew spielt mit dem Feuer des in den Nazismus gesteigerten aserbaidschanischen Nationalismus. Dafür verheizt er im Interesse der eigenen Machtsicherung objektive Interessen seines Landes und seines Volkes. Das zeigt paradoxerweise, wie verzweifelt seine Lage tatsächlich ist, denn der berühmte Ausspruch Samuel Johnsons lautet: "Patriotismus ist die letzte Zuflucht eines Schurken". Betonung liegt auf "die letzte". Noch scheint Moskau bereit zu sein, ihm aus der Patsche zu helfen und seine Unverschämtheiten herunterzuspielen, warum auch immer. Sobald er sein Blatt überreizt, könnte sich auch hier die Erkenntnis durchsetzen, dass sogar ein nach dem Vorbild Irans religiös regiertes Aserbaidschan eher im russischen Interesse ist als ein feindlich gesinntes, zur zweiten Ukraine verkommenes weltliches.
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