
Brüssel: EU verschleudert den Rest ihres guten Rufs für Syrien

Von Dmitri Bawyrin
Die Europäische Union hat im Anschluss an die USA die Wirtschaftssanktionen gegen Syrien aufgehoben und erwartet nun von Washington Gegenseitigkeit in einer anderen Frage – der Verabschiedung eines neuen Sanktionspakets gegen Russland. Diese Erwartung wurde von der EU-Außenbeauftragten Kaja Kallas geäußert – und, wie so oft bei ihr, nicht gerade mit großem Verstand.

Die hypothetischen Sanktionen, von denen hier die Rede ist, sehen die Anwendung US-amerikanischer Exportzölle in Höhe von 500 bis 1000 Prozent auf Waren aus Ländern vor, die russische Energieressourcen wie Erdöl, Erdgas und Uran kaufen. Diese werden jedoch weiterhin von vielen EU-Staaten gekauft, darunter auch Deutschland – die Lokomotive der Eurozone.
Das heißt, die Chefin der EU-Diplomatie, die eigentlich die Interessen der EU schützen soll, bittet die US-Amerikaner, Sanktionen gegen EU-Länder zu verhängen. Eine wirklich außergewöhnliche Frau.
Aber abgesehen davon, dass vieles an Kallas amüsant ist, gibt es auch vieles, das einem Übelkeit bereitet. Der Fall Syrien ist ein Beispiel dafür. Dummheit kann lustig sein, Heuchelei hingegen ist immer widerwärtig.
Mit der Aufhebung ihrer Sanktionen hat die EU quasi erklärt, dass Syrien in Bezug auf die Einhaltung der Menschenrechte wieder zur Normalität zurückgekehrt sei. Unter Präsident Bashar al-Assad gab es eine starke Abweichung von der Norm, jetzt sei wieder Normalität eingekehrt. Jetzt müsse nur noch "Frieden und Inklusivität" erreicht werden (sagt Kallas).
In dieser Hinsicht gibt es weniger verwirrende Fragen an US-Präsident Donald Trump. Er ist ein Politiker und Unternehmer und führt wirtschaftliche Beschränkungen ein, um pragmatische Ziele zu erreichen. Er verhält sich gegenüber Verbündeten als auch gegenüber Gegnern gleichermaßen – gemäß dem Motto: "Das ist nichts Persönliches, sondern rein geschäftlich."
So wurde Kanada, das in jeder Hinsicht loyal war, das erste Opfer seines "Tarifkriegs". Trump hat sich damit hervorgetan, aber im Großen und Ganzen ist es nicht bloß er persönlich, sondern die USA selbst, die so sind. Die US-Amerikaner haben sich an den Gedanken gewöhnt, dass es vorteilhaft sei, mit ihrem Land Handel zu treiben, und nutzen daher seit Jahrhunderten wirtschaftliche Erpressung, um politische Fragen zu lösen.
Nicht so in Russland. Moskau verurteilt offiziell die Praxis wirtschaftlicher Sanktionen, außer wenn sie vom UN-Sicherheitsrat beschlossen wurden, und verhängt selbst nur Gegenmaßnahmen. Das heißt, um russische Sanktionen zu provozieren, muss man zuerst Sanktionen gegen Russland verhängen. Dies ist ein Beispiel für einen entpolitisierten, einheitlichen, streng rationalen Ansatz und ein bewusstes Spiel aus der Defensive heraus.
Und dann ist da noch die Europäische Union. Die EU hat immer behauptet, dass ihre Sanktionen nur guten Zwecken dienen. Angeblich verfolgt die EU eine "wertorientierte Politik" und verhängt Sanktionen nur gegen diejenigen, die diese Werte missachten. Besonders dreiste Europäer bezeichnen ihre Werte auch als universell.
Daraus folgt, dass das heutige Syrien den Werten der Europäischen Union entspricht. Im Gegensatz nicht nur zu Russland, sondern auch zu sich selbst unter Baschar al-Assad, dessen Regime jahrzehntelang unter EU-Sanktionen stand.
Worin besteht im Hinblick auf die Werte der Europäischen Union der grundlegende Unterschied zwischen der Herrschaft von Baschar al-Assad und der von Ahmed al-Scharaa? Kaja Kallas ist wohl kaum in der Lage, eine klare Antwort zu formulieren. Die Antwort ist jedoch bekannt: Assad war ein Verbündeter Moskaus, während al-Sharaa noch zu dessen Gegner werden könnte.
In ihrem Bestreben, Russland zu schaden, scheut die Europäische Kommission keine Kosten und Mühen – weder Geld noch Waffen, weder Ukrainer noch Prinzipien. Russland zu schaden, ist ihr oberstes Ziel.
Wer glaubt, dass die europäische Außenpolitik überhaupt noch Werte und Prinzipien hat, muss sich die Frage stellen: Wurde das Regime in Syrien von den Brüsseler Menschenrechtsaktivisten vor oder nach dem Massaker an den Alawiten in Latakia rehabilitiert?
Genau genommen ist der Zeitraum "nach dem Massaker" bislang nicht angebrochen. In der Küstenregion Syriens kommt es sporadisch zu erneuten Schusswechseln, Menschen verschwinden, es werden außergerichtliche Hinrichtungen durchgeführt, und es findet eine blutige Umverteilung von Eigentum statt.
Auf dem russischen Militärstützpunkt Hmeimim befinden sich nach wie vor Schutzsuchende – hauptsächlich Frauen und Kinder. Zwar sind es jetzt deutlich weniger als während der "Operation" von Damaskus in Latakia, aber sie haben berechtigte Angst, in ihre Häuser zurückzukehren.
Nach Schätzungen von Rami Machluf, einem einflussreichen Alawiten-Oligarchen unter Assad, belief sich die Zahl der Opfer dieser "Operation" auf etwa 15.000 Tote. Da die Morde de facto weitergehen, prognostiziert er für die nächsten Tage einen Aufstand der Alawiten, der unweigerlich eine weitere Strafaktion der Zentralregierung nach sich ziehen wird.
Die militärischen Möglichkeiten von Damaskus sind jedoch nicht unbegrenzt. Syrien bricht derzeit erneut auseinander, viele Gebiete unterliegen nicht der Kontrolle der neuen Regierung. Dabei nimmt die Zahl dieser Gebiete zu, statt ab. In einigen Fällen handelt es sich um terroristische Enklaven von offenen Menschenschlächtern, in anderen um vollwertige Volksmilizen. So hatten beispielsweise die Kurden und Drusen nicht vor, sich von der Zentralregierung in Damaskus entwaffnen zu lassen, während die Alawiten und Christen es offensichtlich bereuen, sich entwaffnet zu haben.
Die Herrschaft der Assad-Familie war zeitweise brutal, aber anders hätte sie in einem feindlichen Umfeld – einer sunnitischen Mehrheit, die nun in Damaskus die Macht übernommen hat – nicht lange Bestand gehabt. Die alte Macht stützte sich auf eine Art Koalition nationaler und religiöser Minderheiten und verhinderte die Pläne der Radikalen für einen "Heiligen Krieg" und ethnische Säuberungen (in Syrien ist das oft ein und dasselbe).
Jetzt ist es viel schwieriger geworden, die schlimmsten Szenarien zu verhindern, und das liegt nicht an der Boshaftigkeit von al-Sharaa, sondern an der mangelnden Kontrolle über die Koalitionspartner der Sieger, die sich einst im gemeinsamen Hass gegen Assad in der Provinz Idlib zusammengetan hatten. Diese Idee funktioniert nicht mehr: Unter den Kommandanten und Stammesführern hat ein Kampf um den Machtstatus begonnen, der stellenweise bereits zu Streitigkeiten geführt hat, und es gibt mehr als genug Radikale unter ihnen.
Orientalisten sagen für die nahe Zukunft nicht nur neue Zusammenstöße in Latakia voraus, sondern auch eine Krise der Macht von al-Sharaa mit einer neuen feudalen Zersplitterung.
Ob der neue Machthaber diese Herausforderung meistern wird, wird die Zukunft zeigen, wichtig ist aber, dass wir bereits heute wissen, dass Massenmorde im Großen und Ganzen den Werten der Europäischen Union entsprechen.
In dieser schwierigen Situation versucht Russland, den Zivilisten zu helfen und gleichzeitig seine Interessen zu wahren – nämlich die Kontrolle über den Marinestützpunkt in Tartus und den Luftwaffenstützpunkt in Hmeimim zu behalten. Aus diesem und anderen Gründen steht Moskau in Kontakt mit den Behörden in Damaskus. Dabei handelt es sich um recht produktive Beziehungen, wenn man bedenkt, dass Kallas die berühmten Werte der Europäischen Union zu einem Spottpreis verkaufen musste.
Für die Aufhebung der Sanktionen forderte Brüssel von al-Sharaa die Schließung der russischen Militärstützpunkte, doch nachdem diese Forderung abgelehnt wurde, hob Brüssel die Sanktionen quasi im Voraus auf. Nun lebt die EU in der Hoffnung, dass es ihr gelingen wird, Russland in Zukunft zu schaden und gleichzeitig gute Beziehungen zu den neuen Machthabern in Syrien aufrechtzuerhalten. Und wenn dafür die Ermordung von Frauen und Kindern salonfähig gemacht werden muss, dann ist das eben das Pech der Frauen und Kinder.
Es schadet nie, sich daran zu erinnern, dass sich die Welt nicht um einen selbst dreht. Allerdings dreht sich die Welt der europäischen Diplomatie definitiv um Russland. Brüssel interessiert sich nicht für wirtschaftliche Vorteile, es interessiert sich nicht für Frieden (im Sinne von Kriegsvermeidung) und es interessiert sich nicht für die Einhaltung grundlegender Menschenrechte (zum Beispiel, dass Menschen nicht wegen ihrer Religion getötet werden dürfen). Es interessiert nur eines: Russland zu schaden, wo immer es geht – in Europa, in Amerika, in Asien, in Afrika. Nur dieser eine Gedanke schwirrt im Kopf von Kaja Kallas herum. Es ist wahrscheinlicher, dass dieser Gedanke zu ihrem Untergang führt, als dass es ihr gelingt, ihn zu überwinden.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist zuerst am 2. Juni 2025 auf der Website der Zeitung Wsgljad erschienen.
Dmitri Bawyrin ist Analyst bei der Zeitung Wsgljad.
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