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Eskalation? Deutschland kann nicht über Raketen für Kiew entscheiden

Bundeskanzler Friedrich Merz berichtet, dass Berlin die Reichweitenbeschränkung für Waffen, die der Ukraine übergeben werden, aufgehoben habe. Man möchte meinen, dass Kiew grünes Licht für Angriffe tief in Russland erhalten habe, doch diesbezüglich gibt es viele Unstimmigkeiten.
Eskalation? Deutschland kann nicht über Raketen für Kiew entscheidenQuelle: Gettyimages.ru © Leonhard Simon

Von Andrei Koz

"Ein gehöriges Durcheinander"

Am 26. Mai haben Medien Merz' Ankündigung veröffentlicht:

"Es gibt keinerlei Reichweitenbeschränkungen mehr für Waffen, die an die Ukraine geliefert worden sind, weder von den Briten noch von den Franzosen, noch von uns, von den Amerikanern auch nicht. Die Ukraine kann sich jetzt verteidigen, indem sie zum Beispiel militärische Stellungen in Russland angreift. Das konnte sie bis vor einiger Zeit nicht."

Später am selben Tag machte das offizielle Berlin einen Rückzieher. Vizekanzler und Finanzminister Lars Klingbeil widersprach faktisch seinem Chef:

"Was die Reichweite angeht, will ich noch sagen, da gibt es keine neue Verabredung, die über das hinausgeht, was die bisherige Regierung gemacht hat."

Klingbeils Parteigenosse, der SPD-Bundestagsabgeordnete Ralf Stegner, hat den Kanzler gar kritisiert und gesagt, dass solche Äußerungen "nicht hilfreich" seien.

Die Bundesregierung beteuert, dass einfache Bürger Kiew "bedingungslos unterstützen" würden. Folgendes zeigen die Umfrageergebnisse des Meinungsforschungsinstituts Infratest Dimap: 61 Prozent treten gegen eine Übergabe der Taurus an die Ukraine ein, 27 Prozent sind dafür, der Rest ist unentschlossen.

Schon am 27. März schien der Kanzler zu verstehen, dass er zu viel geredet hatte, und versuchte, sich zu rechtfertigen. Er habe nur ausgesprochen, was längst Realität geworden sei: Die Ukraine habe das Recht, die erhaltenen Waffen auch außerhalb ihres Gebiets einzusetzen. Angeblich hätten alle Staaten, die Beschränkungen einführten, diese noch unter Scholz aufgehoben.

Merz hat nicht präzisiert, dass als die USA, Großbritannien und Frankreich im Herbst des vergangenen Jahres dem ukrainischen Militär erlaubt hatten, westliche Präzisionswaffen gegen russisches Territorium einzusetzen, die Rede nur von Zielen in den an die Ukraine angrenzenden Gebieten Kursk, Belgorod und Brjansk war. Und Kiew nutzte diese Möglichkeit.

Bei dem Überfall auf das Gebiet Kursk unterstützte die ukrainische Luftwaffe die Besatzungstruppen mit Raketen der Typen Storm Shadow und SCALP-EG. Eine Erlaubnis, andere russische Regionen anzugreifen, haben Kiews Truppen weder von Großbritannien noch von Frankreich noch von den USA erhalten – zumindest nicht offiziell. Bedenkt man, dass Storm Shadow- und SCALP-Raketen heute ausschließlich im Luftraum über dem Gebiet der Spezialoperation und der Krim abgeschossen werden, hat sich daran nichts geändert.

Dmitri Peskow, der Pressesekretär des russischen Präsidenten, bezeichnete Merz' Äußerungen als "ein gehöriges Durcheinander" und fügte hinzu, dass dies "nichts anderes, als eine weitere Kriegsprovokation" sei. Peskow betonte:

"Das ist auch eine Behinderung des Friedensprozesses. Das ist eine sehr gefährliche Tendenz. Es ist eine verantwortungslose Position, die Deutschland einnimmt."

Die Pressesprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, kommentierte den Skandal in Berlin wie folgt:

"Die strategische Unbestimmtheit des Westens wird durch offensive Unangemessenheit abgelöst."

Potenzielle Bedrohung

Die Drohungen des Bundeskanzlers sollten dennoch ernst genommen werden. Die Waffe mit der größten Reichweite im deutschen Arsenal ist der Marschflugkörper KEPD-150/300 TAURUS.

Der Bundestag distanzierte sich von Taurus-Lieferungen an Kiew, doch noch am 10. Mai berichteten Medien, dass die neue Bundesregierung vorhabe, Informationen über Waffenlieferungen an die Ukraine geheim zu halten. Bedenkt man, dass es für Merz sehr wichtig ist, sich als ein "Falke" zu zeigen, kann er im Stillen agieren. Es ist nicht auszuschließen, dass die Raketen bereits vor Ort sind, und zwar zusammen mit "Instrukteuren", die sie steuern. So war es mit den britischen Storm Shadow: London räumte die Lieferungen erst nach dem Angriff auf Lugansk im Mai 2023 ein.

Der militärpolitische Analytiker Alexander Tichanski erklärt:

"Merz machte einen ernsten Schritt, der zu einer rapiden Eskalation führen kann. Gegenschläge gegen Objekte der kritischen Infrastruktur und logistische Zentren, über die westliche Waffen kommen, sind unvermeidlich. Die Geografie des Konflikts erweitert sich."

Sergei Gorbatschew, Leiter des GUS-Instituts in Sewastopol, ist sich sicher: Früher oder später wird die Ukraine Taurus erhalten. Er warnt:

"Lieferungen von F-16- und Mirage-Trägerflugzeugen, von denen etwa 60 benötigt werden, sind Bestandteile eines Gesamtkonzepts. Die Kampfhandlungen gehen in eine aktivere Phase über, um uns spürbar zu schaden. Das ganze europäische Russland wird in Gefahr eines sehr schmerzhaften Angriffs sein."

Ähnliches schon abgeschossen

Sollten sich also die schlimmsten Prognosen bewahrheiten? Was wird auf Russland zufliegen?

Taurus ist eine weitreichende Luft-Boden-Rakete, die Ziele in bis zu 500 Kilometern Entfernung angreifen kann. Ein damit ausgerüstetes Jagdflugzeug kann aus dem Gebiet Charkow oder Sumy Tula oder Kaluga treffen. Das ist sehr ernst – nicht umsonst kündigte Wladimir Putin die Schaffung einer Pufferzone in diesen Regionen an.

Dabei ist es offensichtlich, dass die deutsche Rakete für das ukrainische Militär nicht zu einer Wunderwaffe werden wird, die die Lage grundsätzlich wendet.

Konstruktiv und nach der Flugbahn ist Taurus der britischen Storm Shadow und der französischen SCALP ähnlich. Diese Raketen werden von russischer Luftabwehr recht effektiv bekämpft. Sicher ist das Abfangen keine Routine: die Raketen fliegen tief und umfliegen die Geländeunebenheiten, was die Zeit für ihr Aufspüren und Vernichten verkürzt. Außerdem werden in ihrer Konstruktion Kompositstoffe verwendet, die ihre Radar-Auffälligkeit verringern. Doch nur einzelne Raketen überwinden die Luftabwehr.

Viel interessanter erscheint Deutschlands jüngste Initiative. Wie die Bild berichtet, sei Berlin bereit, Kiew eine große Geldsumme für die Entwicklung eigener Raketen von bis zu 2.500 Kilometern Reichweite zur Verfügung zu stellen. Merz hat dies indirekt bestätigt.

Die Rede ist von einem strategischen System. Über ein solches verfügen nur wenige Länder: die USA mit Tomahawk, Russland mit Kalibr, die Demokratische Volksrepublik Korea mit Hwasal-2, Südkorea mit Hyunmu-3, Iran mit Paveh und Indien mit Nirbhay. Es ist sehr fraglich, dass die ukrainische Rüstungsindustrie ein solch kompliziertes Projekt selbst mit uneingeschränkter Finanzierung bewältigen kann.

Der Inspekteur der Bundesmarine, Vizeadmiral Jan Christian Kaack, kündigte Mitte Mai seine Absicht an, die Flotte mit amerikanischen Tomahawk-Marschflugkörpern auszurüsten. Geplant ist, zukünftige Fregatten der Klasse 127 damit auszustatten. Man könnte vermuten, dass Berlin einen Teil der Raketen an Kiew übergeben wird, doch um sie abzufeuern, wird ein Schiff im Wert von Milliarden Euro benötigt. Ein solches Geschenk kann sich selbst ein deutscher Bundeskanzler nicht leisten.

Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen am 29. Mai bei RIA Nowosti.

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