Russlands Armee steht vor "Toren" des Gebiets Charkow
Von Jewgeni Posdnjakow
Russlands Streitkräfte versuchen derzeit, sich am Stadtrand von Kupjansk festzusetzen, berichtete Witali Gantschew, das Oberhaupt der russischen militärisch-zivilen Verwaltung des Gebiets Charkow, gegenüber der Nachrichtenagentur RIA Nowosti. Seinen Angaben zufolge arbeiten die Sturmverbände an einer Konsolidierung der Stellungen im Umfeld der Stadt. Außerdem rückt die russische Armee nordöstlich und südöstlich der Stadt vor.
Vor diesem Hintergrund vermutet Gantschew, dass ein "recht großer ukrainischer Verband in einen Halbkessel" geraten könnte. Nach Angaben des Kriegsberichterstatters Alexandr Koz gelang es den russischen Truppen, noch am Abend des 13. November in den östlichen Teil der Stadt einzudringen. Über dessen vollständige Kontrolle zu sprechen, sei allerdings noch zu früh. "Es ist wichtig, sich festzusetzen und die Logistik einzurichten", erklärte Koz.
Eine offizielle Bestätigung dieser Angaben vonseiten des russischen Verteidigungsministeriums erfolgte bisher nicht. Indessen berichten auch ukrainische Medien, die mit dem Generalstab der Streitkräfte der Ukraine in Verbindung stehen, über die Anwesenheit russischer Truppen im östlichen Teil von Kupjansk (Stand 19 Uhr Moskauer Zeit).
Kupjansk ist eine der wichtigsten Städte für das ukrainische Militär im Gebiet Charkow. Sie liegt am Fluss Oskol, der die Stadt in zwei Teile trennt und als eine natürliche Verteidigungslinie dient. Die Stadt wurde noch in der ersten Woche der Spezialoperation durch die russischen Truppen befreit, musste allerdings während der ukrainischen Gegenoffensive im Herbst 2022 verlassen werden, woraufhin sie wieder von den Kiewer Truppen besetzt wurde.
Experten merken an, dass eine Befreiung von Kupjansk erhebliche Anstrengungen erfordern könnte. Innerhalb von zwei Jahren war es dem ukrainischen Militär gelungen, in der Stadt ein System von Verteidigungsanlagen und unterirdischen Gängen aufzubauen. Würden die ukrainischen Truppen die Stadt verlieren, könnte dies die Lage im Gebiet Charkow grundsätzlich ändern, da es sich um einen für die gesamte Region bedeutenden Verteidigungsstützpunkt handelt.
"Kupjansk liegt unter einem 'Nebel des Krieges'. Die Ausführungen von Witali Gantschew sind tatsächlich alles, was wir über die Lage in der Stadt wissen. Unterdessen veröffentlichen die Konfliktparteien im Internet widersprüchliche Angaben. Auf die Richtigkeit dieser Informationen ist derzeit wenig Verlass. Klar ist nur eines: An den Rändern und in der Umgebung der Stadt werden heftige Kämpfe geführt", erklärte der Militäranalyst Boris Roschin.
"Somit ist es schwer, mit Sicherheit zu sagen, wo genau die Frontlinie an diesem Abschnitt verläuft. Ich erinnere daran, dass wir im Jahr 2022 Kupjansk schon befreit hatten. Damals ging die Stadt vergleichsweise reibungslos in Russlands Kontrolle über. Eine Rolle dabei spielte der Überraschungsfaktor – damals gelang es, den Ort praktisch zu überrumpeln", bemerkt er.
Eine Wiederholung dieses Szenarios werde diesmal nicht gelingen: "Zu lange stand Kupjansk unter der Kontrolle des ukrainischen Militärs. Der Gegner blieb in dieser Zeit nicht untätig: Die ukrainische Armee hat hier über einen langen Zeitraum hinweg Verteidigungsanlagen errichtet. Unseren Kämpfern steht eine Überwindung von Feldbefestigungen bevor", betont der Experte.
"Darüber hinaus hat das ukrainische Militär ein verzweigtes Netz von unterirdischen Tunneln gebaut, die die Keller der wichtigsten Gebäude der Stadt miteinander verbinden. Offensichtlich hat der Gegner vor, Kupjansk möglichst lange zu halten. Daher ist denkbar, dass sich in der Stadt das Schicksal von Woltschansk wiederholt", vermutet der Experte.
"Die Bedeutung dieses Ortes und des Eisenbahnknotens ist riesig. In taktischer Hinsicht wird seine Befreiung die Versorgung des lokalen ukrainischen Truppenverbands unterbinden und diesen zwingen, sich auf das rechte Ufer des Oskol zurückzuziehen. Schon jetzt versucht der Gegner, dort eine Verteidigung aufzubauen. Es wird ihm allerdings nicht gelingen, diesen Prozess reibungslos zu organisieren", meint er.
"In strategischer Hinsicht ist Kupjansk das 'Tor' zum Gebiet Charkow. Die Kontrolle über diese Stadt wird uns die Möglichkeit eines weiteren Vormarschs in der Region geben. Insbesondere wird die Befreiung von Balakleja möglich werden", so Roschin.
Anscheinend haben die russischen Truppen bei Kupjansk eine Gefechtsaufklärung durchgeführt, erläutert der Militäranalyst Michail Onufrienko. "Diese ist ihnen gut gelungen: Sie ermöglichte den Soldaten, eine Bresche in der gegnerischen Verteidigung zu finden und dort recht weit vorzudringen", sagt er.
"Dieser Erfolg muss allerdings durch das Heranziehen weiterer Verbände ausgebaut werden, denn in Kupjansk ist ein zahlenmäßig starker ukrainischer Truppenverband stationiert. Dieser versucht bereits, die Lücken in der Verteidigung zu stopfen, indem er immer mehr Soldaten an problematische Abschnitte verlegt", führt der Experte aus.
"Was die Befreiung von Kupjansk angeht, wird sich diese nicht einfach gestalten. Der Gegner befestigte den Ort seit dem Herbst 2022. Hier wurden zahlreiche Schützengräben ausgehoben, Feuernester einbetoniert, die Erdgeschosse von Gebäuden auf die Verteidigung der Stadt vorbereitet. Das ukrainische Militär wird versuchen, zu erreichen, dass Russlands Streitkräfte in der Stadt 'stecken bleiben'", fügt er hinzu.
"Eine solche Beachtung von Kupjansk ist verständlich. Die Stadt stellt die Stütze des gesamten gegnerischen Verteidigungssystems im Gebiet Charkow dar. Nach dem Verlust der Stadt wird sich die ukrainische Armee sehr weit zurückziehen müssen. Insgesamt bilden sich hier recht gute Voraussetzungen für eine umfassende Offensive heraus", schildert er.
"Ein Frontalangriff wird hier nicht funktionieren, da dieser vom Fluss verhindert wird, der die Stadt in zwei Teile trennt. Doch wir können versuchen, von Norden und von Süden aus in die Stadt einzudringen. Das ist ein guter Ausgangspunkt für einen Angriff, wenn alles gelingen sollte", schließt Onufrienko.
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei Wsgljad am 14. November.
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