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"Manifest einer neuen Weltordnung": Zur Kasan-Deklaration der BRICS

Die Deklaration der BRICS zeugt davon, dass die Gruppe in einer erweiterten Zusammensetzung bereit ist, ein neues Kapitel der eigenen Geschichte zu beginnen. Erstmals haben die BRICS eine einheitliche Perspektive auf die aktuelle Lage des internationalen Systems vorgestellt.
"Manifest einer neuen Weltordnung": Zur Kasan-Deklaration der BRICSQuelle: Sputnik © Alexandr Kasakow

Von Andrei Kortunow

Die Kasan-Deklaration der BRICS ist ein umfassendes Dokument, das 134 Punkte beinhaltet, von denen einige recht lange, ausführliche Paragrafen darstellen. Die letzte vergleichbare Erklärung, die beim vorherigen BRICS-Gipfel in Johannesburg im August 2023 verabschiedet wurde, beinhaltete lediglich 94 Punkte, ein noch früheres Dokument aus Peking vom Juli 2022 hatte nur 75 Punkte. Somit werden die Abschlusserklärungen von Jahr zu Jahr immer ausführlicher und, wie man zu sagen pflegt, substantieller, was den Prozess der zunehmenden Intensivierung der Zusammenwirkung der Gruppe und die Erweiterung der substantiellen Rahmen ihrer multilateralen Zusammenarbeit widerspiegelt.

Die Kasan-Deklaration besteht aus einer Präambel und vier Abschnitten, die folgenden Themen gewidmet sind: (1) Stärkung der Multilateralität, (2) Globale und regionale Sicherheit, (3) Finanzielle und wirtschaftliche Zusammenarbeit und (4) Humanitärer Austausch. Eine solche Gliederung erscheint begründet und entspricht den vor einem Jahr angekündigten Prioritäten des russischen BRICS-Vorsitzes.

Zum ersten Mal in der Geschichte der BRICS werden in der Erklärung die gemeinsame Sicht der Gruppe auf den gegenwärtigen Zustand des internationalen Systems, gemeinsame oder sich überschneidende Lösungsansätze für die grundlegenden globalen Probleme unserer Zeit und für akute regionale Krisen sowie die Konturen einer wünschenswerten und realisierbaren Weltordnung, wie sie die Mitglieder der Gruppe derzeit sehen, so detailliert dargelegt. Obwohl die Deklaration keine konkreten Zeitpläne für die Lösung einzelner Aufgaben oder Roadmaps für einzelne Arbeitsbereiche beinhaltet, umfasst sie eine Reihe von Schlüsselzielen, die die Gruppe in den kommenden Jahren verfolgen sollte oder könnte. Offensichtlich ist das Dokument nicht nur das Ergebnis des eigentlichen Treffens auf höchster Ebene, sondern auch einer Menge harter Arbeit, die ein Heer von Experten, Beamten und Diplomaten auf verschiedenen Ebenen in multilateralen Formaten in den letzten Monaten geleistet hat.

Eine multilaterale Übereinkunft über die Endfassung eines solch umfassenden und bedeutenden Dokuments erscheint schon an und für sich als eine nichttriviale Aufgabe – zumal der Text nicht im alten Format der fünf BRICS-Mitglieder, sondern auch unter Heranziehung neuer Mitglieder, die über keine Erfahrung bei derartiger Arbeit verfügen, bewilligt werden musste. Man kann nur mutmaßen, welche Arbeit hinter den 43 Seiten der Endfassung des Dokuments steckt.

Liest man aufmerksam den Text der Erklärung, lässt sich leicht feststellen, dass darin eine fein abgewogene Balance zwischen der tagesaktuellen Sicherheitsagenda und der Entwicklungsagenda zu erkennen ist. Diese Ausgewogenheit deutet darauf hin, dass die Gruppe bewusst beschlossen hat, ihr äußerst breit gefächertes Mandat beizubehalten und ihre künftigen Aktivitäten nicht auf eine Sache zu konzentrieren, wie etwa die Förderung des Handels zwischen den Gruppenmitgliedern, wie es von einigen Experten vermutet wurde.

Anstatt sich für einen engen thematischen Ansatz zu entscheiden, beabsichtigen die BRICS, sich als Multitasking-Labor der Global Governance zu positionieren, in dem neue Algorithmen der multilateralen Zusammenarbeit und innovative Modelle für die Behandlung kritischer Fragen der Weltwirtschaft und -politik erprobt werden können, darunter Handel, Finanzen, strategische Stabilität, Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen, Reform des Systems der Vereinten Nationen, Bekämpfung des Terrorismus, Bewältigung des Klimawandels, Regulierung grenzüberschreitender Migration und vieles mehr. Somit ist das politische "Investitionsportfolio" der Gruppe mehr als breit gefächert,  und diese Diversifizierung erhöht die Erfolgsaussichten zumindest einiger der zahlreichen Initiativen, die die Gruppe verfolgt. Eine solche "problemorientierte" Herangehensweise an die Zusammenarbeit soll helfen, zwischenbehördliche Schranken zu überwinden und eine übermäßige Bürokratisierung zu vermeiden, die für viele internationale Organisationen typisch ist.

In Entwicklungsfragen standen die BRICS-Staaten vor der schwierigen Entscheidung, entweder Reformen der bestehenden, weitgehend westlich orientierten internationalen Wirtschafts- und Währungsinstitutionen anzustreben oder unter dem gemeinsamen Dach ihrer Gruppe wirksame Alternativen zu diesen Institutionen zu schaffen.

Nach dem Wortlaut der Erklärung zu urteilen, sollen beide Möglichkeiten maximiert werden: Es werden grundlegende institutionelle Veränderungen in "alten" multilateralen Institutionen wie dem IWF oder der IBRD gefordert, während gleichzeitig die Absicht der BRICS bekundet wird, nichtwestliche institutionelle Alternativen zu diesen vorwiegend westlichen Strukturen, wie die Neue Entwicklungsbank (NDB) und das BRICS Contingent Reserve Arrangement (CRA), weiter zu fördern. Einerseits unterstützt das Dokument entschieden die Welthandelsorganisation (WTO) als einen universellen Mechanismus der Entwicklung von internationalen Wirtschaftsverbindungen, beschränkt sich aber nicht nur auf die Unterstützung der WTO, sondern ruft zu einer weiteren Liberalisierung des Handels innerhalb der BRICS selbst auf.

Die Deklaration kritisiert nicht ausdrücklich die Handels- oder Finanzpolitik eines konkreten Landes oder einer Ländergruppe, sondern äußert sich besorgt über "unrechtmäßige einseitige Zwangsmaßnahmen" wie Sanktionen, die als schädlich für die Weltwirtschaft und die globalen Ziele der nachhaltigen Entwicklung angesehen werden. Im Dokument wird die Schlussfolgerung gezogen, dass solche Maßnahmen unweigerlich die UNO-Satzung und multilaterale Handelssysteme untergraben. An dieser Akzentsetzung ist nichts verwunderlich – der Großteil der BRICS-Mitgliedsstaaten ist bereits diversen einseitigen Sanktionen des Westens ausgesetzt oder kann es jederzeit werden. Deswegen zieht sich die Idee der Verminderung der Abhängigkeit von "alten" internationalen Instituten wie ein roter Faden durch den gesamten Text des Dokuments.

Sicherheitsprobleme bleiben eine sehr sensible Angelegenheit für den Großteil der BRICS-Mitgliedsstaaten, und diesen Problemen ist in der Deklaration die meiste Aufmerksamkeit gewidmet. Es ist unschwer zu erkennen, dass sich die Gruppenmitglieder zumindest in einigen Konfliktsituationen leicht auf entgegengesetzten Seiten der Barrikaden wiederfinden können. Nach dem sorgfältig abgewogenen Text der Erklärung zu urteilen, haben diejenigen, die an der Zusammenstellung der vielen Versionen des Dokuments gearbeitet haben, viel Zeit und Mühe darauf verwendet, eine angemessene Sprache zu finden, um die vielen Krisen und Konflikte zu beschreiben, die derzeit stattfinden. So ist beispielsweise der Absatz über die Ukraine sehr kurz und verweist auf die Positionen, die die Teilnehmer der Gruppe bereits bei der Abstimmung über die Ukraine im Sicherheitsrat und in der UN-Generalversammlung zum Ausdruck gebracht haben. Darin heißt es außerdem, dass eine friedliche Lösung den Prinzipien und Normen der UNO in deren Gesamtheit entsprechen sollte, es werden Vermittlungsbemühungen gewürdigt und ein Aufruf zur Regulierung des Konflikts durch Dialog und Diplomatie geäußert.

Man kann vermuten, dass es nicht einfach war, auf einen gemeinsamen Nenner zur Situation im Gazastreifen zu kommen, wenn etwa sehr unterschiedliche Positionen, zum Beispiel die Irans und der VAE in Bezug auf Israel, berücksichtigt werden. Die Erklärung über die Notwendigkeit, die territoriale Integrität Syriens zu respektieren, kann als versteckte Kritik an der türkischen Militärpräsenz in diesem Land gedeutet werden, die Damaskus nicht ausdrücklich genehmigt hat. Wahrscheinlich war es einfacher, sich auf weniger strittige Themen zu einigen, wie beispielsweise die andauernde Krise des Staatsaufbaus in Haiti, weshalb der Absatz über Haiti relativ lang und ausführlich geworden ist. Das Gleiche gilt für die Frage des internationalen Terrorismus. Der zugehörige Absatz erscheint recht ausführlich. Offenbar scheinen die Ansätze zum internationalen Terrorismus unter den Mitgliedern der Gruppe von Anfang an, wenn nicht gemeinsam, so doch sehr nahe beieinander gewesen zu sein.

Die Gruppe beschloss, einige der sensibelsten oder technisch schwierigen Fragen zusätzlich zu bedenken und sie ausführlicher zu studieren. Zu solchen Fragen gehört beispielsweise der von Russland ausgehende Vorschlag zur Schaffung von BRICS Clear – eines Systems für den Handel mit Wertpapieren ohne die Notwendigkeit, sie parallel in US-Dollar zu konvertieren. Man kann sich vorstellen, dass viele der vorgeschlagenen Änderungen am globalen Finanzsystem, die auf der Blockchain-Technologie und auf digitalen Token basieren, die durch nationale Währungen gedeckt sind und Dollar-Transaktionen im globalen Handel viel weniger notwendig machen sollen, nicht einfach zu fördern sein werden. Deswegen müssen sie auf Expertenebene weiter studiert werden.

Das Gleiche gilt für Vorschläge zur Modernisierung der Verkehrs- und Logistikinfrastruktur innerhalb der BRICS-Gruppe ‒ angesichts der Erweiterung der Gruppe sieht diese Aufgabe heute anders aus als noch vor einem Jahr. Andererseits könnte eine Art BRICS-Getreidebörse leichter umzusetzen sein, da der BRICS-Gruppe bereits einige der größten Getreideexporteure und -importeure der Welt angehören. Es wäre durchaus natürlich, wenn sich die BRICS aktiver in die Verwaltung der globalen Energiemärkte einschalten würden – auch hierbei gehört der Großteil der weltweit führenden Kohlenwasserstoff-Produzenten und -Konsumenten der Gruppe an.

Insgesamt besagt die Deklaration, dass die BRICS-Gruppe in ihrer erweiterten Zusammensetzung bereit ist, ein neues Kapitel in der eigenen Geschichte aufzuschlagen. Offensichtlich sind die BRICS keine antiwestliche Allianz und streben nicht nach einer zielgerichteten Auflösung oder Zerstörung westlicher Institute – die Autoren der Deklaration wählten ihre Worte sehr sorgfältig und vermieden jegliche Formulierungen, die den Leser auf den Gedanken bringen könnten, dass eine scharfe Konfrontation zwischen dem Kollektiven Westen und dem Rest der Welt unvermeidbar sei.

Die BRICS setzen sich nicht einmal zum Ziel, den Westen auf die eine oder andere Weise "aufzuwiegen". Sie werden niemals zu einem Pendant der G7, berücksichtigt man die Vielfalt der BRICS-Mitglieder und das Fehlen eines offensichtlichen Hegemons in der Gruppe. Dennoch ist die Gruppe in der Lage, eine neue, bemerkbarere Rolle in der globalen Verwaltung und bei der Bestimmung der Parameter einer neuen globalen Weltordnung zu beanspruchen, und tut es bereits offen. Mehr noch, sie will zu einem der einflussreichsten Akteure des gesamten Globalen Südens werden, der bisher im Großteil der multilateralen internationalen Institute äußerst unterrepräsentiert war.

Es bestehen Gründe zur Annahme, dass die Kasan-Deklaration die Aufmerksamkeit von politischen wie auch akademischen Kreisen auf der ganzen Welt und die nicht ganz berechtigte Kritik von Skeptikern und Gegnern der BRICS auf sich ziehen wird. Manch einer wird sagen, dass die Deklaration zu allgemein, zu doppeldeutig und nicht genug auf konkrete Probleme fokussiert sei. Manche werden der Versuchung erliegen, das Dokument als eine weitere Liste von Wunschgedanken abzutun. Dennoch zeugt die Kasan-Deklaration nicht nur davon, dass die BRICS auch in ihrer erweiterten Zusammensetzung in der Lage sind, zu einer sehr großen Bandbreite von Fragen eine Übereinkunft zu treffen, sondern auch davon, dass die Gruppe in ihrer Entwicklung neue Höhen erklimmt. Der nächste, 17. BRICS-Gipfel wird im Jahr 2025 in Brasilien stattfinden, und der lange Weg von Kasan hin zum lateinamerikanischen Kontinent verspricht, wirklich spannend zu werden.

Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei Business Online am 25. Oktober 2024.

Andrei Kortunow, Jahrgang 1957, ist ein russischer Politologe und Doktor der Geschichtswissenschaften. Er leitet den Russischen Rat für internationale Angelegenheiten.

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