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"Kriegseintritt der NATO": Was folgt auf Putins Warnung an den Westen?

Sollten die NATO-Staaten Kiew erlauben, Russland mit Waffen von großer Reichweite anzugreifen, würde das bedeuten, dass sie gegen Russland kämpfen, erklärt Russlands Präsident Wladimir Putin. Russische Politiker und Experten gehen davon aus, dass eine solche Erlaubnis de facto bereits besteht.
"Kriegseintritt der NATO": Was folgt auf Putins Warnung an den Westen?Quelle: AP © Lewis Joly

Von Polina Duchanowa

Russlands Präsident Wladimir Putin hat auf die Frage des Journalisten Pawel Sarubin bezüglich der möglichen Erteilung der westlichen Erlaubnis an das Kiewer Regime, russisches Territorium mit Waffen mit großer Reichweite anzugreifen, geantwortet.

Putin zufolge greift das ukrainische Militär bereits Russlands Gebiete im Hinterland an, doch der Einsatz westlicher Waffen mit großer Reichweite würde bedeuten, dass unmittelbar westliche Militärangehörige russisches Territorium angreifen.

"Es geht nicht darum, dem Kiewer Regime Angriffe auf russisches Territorium zu erlauben oder zu verbieten, das tut es ohnehin. Doch wenn es zudem um einen Einsatz von Präzisionswaffen mit großer Reichweite geht, ist es eine ganz andere Geschichte", so Putin.

Russlands Staatschef erklärte, dass die ukrainische Armee nicht in der Lage sei, entsprechende Waffen zu bedienen, weil dies nur unter Einsatz von Satelliten aus den USA oder der EU sei. Er sagte:

"Ein sehr wichtiger, vielleicht der entscheidende Punkt, ist, dass die Zielbestimmung für diese Raketensysteme tatsächlich nur durch einen NATO-Militärangehörigen eingegeben werden kann. Es geht darum, eine Entscheidung zu treffen, ob die NATO-Länder direkt am militärischen Konflikt teilnehmen oder nicht. Wenn diese Entscheidung getroffen wird, bedeutet das nichts anderes als die direkte Beteiligung der NATO-Länder, der Vereinigten Staaten, der europäischen Länder am Krieg in der Ukraine."

Zuvor hatte die Zeitung The Guardian unter Verweis auf britische Regierungsquellen berichtet, dass Großbritannien Kiew erlaubt hätte, die eigenen Langstreckenraketen Storm Shadow für Angriffe auf russisches Hinterland einzusetzen.

"Es ist allerdings nicht zu erwarten, dass dies öffentlich angekündigt wird", unterstrich die Publikation.

Dabei betonten die Quellen der Zeitung, dass der gemeinsame Besuch des US-Außenministers Antony Blinken und seines britischen Kollegen David Lammy in Kiew am 11. September nicht stattgefunden hätte, wenn keine "positive Entscheidung zu Storm-Shadow-Raketen" getroffen worden wäre.

"Doch öffentliche Erklärungen über Langstreckenraketen in Kiew zu machen, könnte als unverhältnismäßig provokativ erscheinen", heißt es im Artikel.

Während der Pressekonferenz am selben Tag sagte Lammy, dass er keine Einzelheiten zu Gesprächen in Kiew mitteilen werde, "um Putin keinen Vorteil zu geben". Laut seiner Behauptung unterstütze London die Ukraine, weil angeblich nicht nur die Freiheit der Republik, sondern auch die Sicherheit Europas und des Westens auf dem Spiel stehe. Der Minister ließ sich auch nicht die Gelegenheit entgehen, sämtliche Verantwortung der russischen Führung anzulasten:

"Es ist Putin, der hier eskaliert. Gerade hat er die Eskalation in dieser Woche begünstigt, indem er Marschflugkörper aus dem Iran importiert hat, und wir sehen eine neue 'Achse', die aus Russland, Iran und Nordkorea besteht."

Storm Shadow ist eine hochpräzise Rakete mit großer Reichweite und einem konventionellen Sprengkopf. Sie kann Entfernungen von bis zu 250 Kilometern zurücklegen. Wie Experten gegenüber RT zuvor erklärt hatten, ist sie für den Einsatz mit Flugzeugen bestimmt. Als Träger ist jedes Flugzeug geeignet, das mit entsprechenden Beschlaganschlüssen und Lenkvorrichtungen ausgerüstet ist. Die Ukraine verfüge gegenwärtig über sowjetisch gebaute Su-24, Su-27 und MiG-29, allerdings können diese in kurzer Zeit für den Einsatz solcher Raketen umgerüstet werden, betont die Analytiker.

Die britischen Zweifel

Dass die Ukraine Russlands Territorium mit britischen Langstreckenraketen angreifen kann, gab Großbritanniens Ministerpräsident Keir Starmer noch am 10. Juli auf seinem Weg zum NATO-Gipfel in Washington zu verstehen. In seinem Kommentar an Bloomberg bemerkte er, dass Kiew Storm Shadow nach eigenem Ermessen zu Vereidigungszwecken einsetzen könne.

"Die Ukraine soll entscheiden, wie diese Waffen für ebendiese Verteidigungszwecke einzusetzen sind", sagte er damals.

Dabei hatten die ukrainischen Machthaber mehrmals angekündigt, dass sie die Langstreckenraketen ihrer Verbündeten für Angriffe auf russische Militärobjekte einsetzen wollen.

Am selben Tag veröffentlichte der ukrainische Staatschef Wladimir Selenskij auf X einen Dank an Großbritannien für die Erlaubnis, Storm-Shadow-Raketen gegen Russland einzusetzen.

"Am Morgen las ich von der Erlaubnis für den Einsatz von Storm-Shadow-Raketen gegen militärische Objekte auf dem Territorium Russlands. Heute haben wir die Möglichkeit, die praktische Umsetzung dieser Entscheidung zu besprechen", schrieb er.

Doch Großbritanniens Regierung und Verteidigungsministerium dementierten eilig Starmers Behauptungen. Wie die Daily Telegraph am 11. Juli anmerkte, fand sich der Premierminister in einer unbequemen diplomatischen Lage wieder, als "Großbritannien gezwungen war, zu erklären, dass es der Ukraine keine Erlaubnis erteilt habe, Storm Shadows für Angriffe auf Russlands Hinterland einzusetzen". London hätte Kiew lediglich erlaubt, die Raketen gegen Ziele auf der Krim abzufeuern, nicht aber in die Tiefe des russischen Territoriums. Britische Beamte machten sich Sorgen, dass es andernfalls zu einer Eskalation führen und das Vereinigte Königreich in einen Konflikt mit Russland hineinziehen könnte.

Auch Selenskij musste seine Behauptung zu britischen Raketen korrigieren. Während der gemeinsamen Pressekonferenz mit dem NATO-Chef Jens Stoltenberg in Washington am 11. Juli sagte er, dass sich die Entscheidung noch im Abstimmungsprozess befinde.

"Vorbereitung der öffentlichen Meinung"

Indessen ist Russland der Ansicht, dass das beständige Thematisieren einer Aufhebung des Verbots für Kiew, westliche Langstreckenraketen gegen russische Gebiete einzusetzen, kein Zufall ist. Laut Alexei Puschkow, Leiter des Ausschusses für Informationspolitik des russischen Föderationsrats, hat der Westen die entsprechende Entscheidung de facto bereits getroffen.

"Eine Entscheidung über Angriffe auf Russlands Territorium wird offensichtlich vorbereitet. Zu viele Gespräche und Andeutungen gab es, um jetzt einen Rückzieher zu machen. Selbst wenn sie noch nicht getroffen ist, scheint es eine Frage von wenigen Tagen zu sein. Der Artikel von The Guardian ist kein Zufall. Es läuft eine Vorbereitung der öffentlichen Meinung", schrieb der Senator auf seinem Telegramkanal am 12. September.

Seinerseits vermutete der Pressesprecher des russischen Präsidenten Dmitri Peskow in einem Kommentar an die Zeitung Iswestija ebenfalls, dass die Entscheidung vom Westen bereits getroffen worden sei und eine "Diskussion zu deren Vertuschung" geführt werde:

"Und offensichtlich wird die Ukraine ihre Terrorangriffe fortsetzen, und man kann mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass sie versuchen werden, soziale Objekte anzugreifen", bemerkte er.

Peskow betonte ebenfalls, dass die Erlaubnis an die Ukraine, Russlands Territorium mit ausländischen Waffen anzugreifen, die Beteiligung von Kiews Verbündeten erhöhen werde.

"Natürlich wird das zu einer entsprechenden Reaktion Russlands führen", warnte der Pressesprecher von Wladimir Putin.

Auch Russlands Außenminister Sergei Lawrow äußerte seine Überzeugung, dass es Kiew gelingen werde, eine Aufhebung des Verbots von Einsatz von Langstreckenwaffen gegen Russland zu erreichen.

"Wir haben keine Zweifel darüber, dass die Entscheidung über die Aufhebung des Verbots für den Einsatz von Langstreckenwaffen gegen Russlands Territorium bereits beschlossen wurde", erklärte er im Rahmen einer Diskussion am runden Tisch zum Thema "Ukrainische Krise. Terroristische Methoden des Kiewer Regimes", an der Botschafter von etwa 80 Staaten beteiligt waren.

Wollen keine Verantwortung übernehmen

Nach Ansicht des Politologen und Dozenten der Finanzuniversität bei der Regierung Russlands, Dmitri Jeschow, sei die westliche Diskussion über die Lockerung von Bestimmungen für den Einsatz von Langstreckenwaffen durch Kiew eine Art Test der russischen Reaktion. In einem Gespräch mit RT sagte er:

"Dazu ist für Kiews Verbündete die Informationspolitik wichtiger als konkrete Ergebnisse. Denn um mit solchen Waffen anzugreifen, die der Ukraine noch in ausreichender Menge geliefert werden müssen, muss es ein klares Verständnis dafür geben, gegen welche Ziele sie eingesetzt werden. Doch das ist ein eindeutiger Schritt in Richtung der Eskalation. Und Großbritannien etwa will keine Verantwortung dafür übernehmen, deswegen vermeiden sie offizielle Ankündigungen. Denn andernfalls positionieren sie sich als eine Konfliktpartei."

Bei all seinem Bestreben, Russland zu schaden, macht sich der Westen dennoch Sorgen um eine russische Reaktion, erklärt Pawel Feldman, Politikwissenschaftler und Dozent der Akademie für Arbeit und soziale Beziehungen. In einem Kommentar an RT erklärte Feldman:

"Offensichtlich ist Großbritannien nicht an einer öffentlichen Diskussion über die Erteilung zusätzlicher Erlaubnisse für den Einsatz ihrer Langstreckenraketen an die Ukraine interessiert, denn das könnte eine aus der Sicht von London und Washington eine unvorhersehbare Reaktion vonseiten Moskaus provozieren. Ihrer Meinung nach sollten solche Provokationen, die zu einer Eskalation führen könnten, besser so gestaltet sein, dass ein Raum für Interpretationen übrigbleibt. Mal hätten sie es erlaubt, mal nicht erlaubt – eine solche Strategie hatte London oft verwendet."

Dabei hat Jeschow Zweifel, dass die Erlaubnis an Kiew, Langstreckenwaffen gegen russisches Gebiet einzusetzen, die erwünschte Wirkung zeigen wird. Der Analytiker erklärte:

"Der Ukraine wird es keinesfalls helfen, sondern nur schaden. Die Machthaber in Kiew sind unvernünftig genug, um dieses Recht unkontrolliert zu nutzen. Selenskij einen Angriff mit Langstreckenwaffen auf Russland zu erlauben, ist, wie einem Affen eine Handgranate zu geben. Doch die Lage insgesamt zeugt von einer Agonie sowohl der Ukraine als auch des kollektiven Westens, denn es setzt sich die Einsicht durch, dass es nicht gelingen wird, das Blatt zu wenden und Russland eine strategische Niederlage beizubringen."

Diese Ansicht teilt auch Feldman. Nach seiner Meinung gewähre das Recht, westliche Langstreckenraketen gegen Russland einzusetzen, der Ukraine nur begrenzte taktische Ressourcen. Seine Schlussfolgerung lautet:

"Grundsätzlich wird es die Lage nicht ändern. Man sollte verstehen, dass, selbst wenn Kiew erlaubt wird, Storm Shadows und ATACMS gegen russisches Territorium einzusetzen, wird es in einem sehr beschränkten Umfang geschehen. Denn die Ukraine wird diese modernen Raketen niemals in einem notwendigen Umfang erhalten. Darüber hinaus zeigt Russlands Luftabwehr eine hohe Effizienz. Es könnte sein, dass von den abgefeuerten Raketen keine einzige ihr Ziel trifft."

Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei RT am 12. September.

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