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Warum der ukrainische Energiesektor noch am Leben ist

Aus der Ukraine hört man Widersprüchliches über den bevorstehenden Winter. Einerseits heißt es, Charkow sei völlig ohne Strom, andererseits werden "apokalyptische Szenarios" dementiert. Welche Aussage soll man glauben? In welchem Zustand befindet sich der ukrainische Energiesektor und wovon hängt der Winter ab?
Warum der ukrainische Energiesektor noch am Leben istQuelle: Gettyimages.ru © Stefan Rousseau/PA Images

Von Nikolai Storoschenko

Bis zum Beginn der Heizperiode in der Ukraine bleiben noch etwa anderthalb Monate. Die Stimmung der Machthaber in Kiew ist zurückhaltend und gedämpft. So schätzt zum Beispiel der ukrainische Premierminister Denis Schmygal die Lage ein:

"Die Nachhaltigkeit der Energieversorgung ist eine unserer größten Herausforderungen in diesem Winter und Herbst. Wir haben drei Heizperioden erfolgreich überstanden, aber der kommende Winter könnte der schwierigste werden."

Als besonders problematisch bezeichnete er die Lage im Gebiet Charkow. Schmygal zufolge sind dort sämtliche Heizkraftwerke zerstört. Zur Erinnerung: Bereits im Frühjahr mussten das Charkow nächstgelegene große Heizkraftwerk (Smiewskaja) sowie das mit ihm über Stromleitungen verbundene Heizkraftwerk Krementschug, das Wasserkraftwerk Krementschug und das Heizkraftwerk Tripolje außer Betrieb genommen werden.

"Heute verfügt Charkow über keine eigene Stromerzeugung", bewertete der Bürgermeister der Stadt, Igor Terechow, die Situation der Stadt im April. Nach den Militärschlägen auf Energieverteilungsanlagen am 26. August sind sowohl Charkow als auch die Ukraine insgesamt mit eingeschränkten Möglichkeiten der Kapazitätsmanöver konfrontiert.

In welchem Zustand befindet sich der Energiesektor der Ukraine heute?

Energiesystem: nicht abgefressen, aber angebissen

Im Allgemeinen sind sich Experten einig, dass der ukrainische Energiesektor immer noch ein einheitliches System ist, obwohl seine Integrität erheblich beeinträchtigt ist. Es gibt ernsthafte Probleme bei der Stromübertragung von West nach Ost und von Nord nach Süd. Oleg Popenko, ein Experte für den Energiemarkt, erklärt:

"Tatsächlich kann man von zwei bedingt vorhandenen 'Inseln' oder besser gesagt 'Halbinseln' sprechen. Eine von ihnen, die die westlichen und einen Teil der zentralen Gebiete – etwa Winniza – umfasst, wird mehr oder weniger normal versorgt. Sie hat Zugang sowohl zu im Inland generiertem als auch zu importiertem Strom. Die zweite beinhaltet die Gebiete Kiew, Dnjepropetrowsk, Odessa, Saporoschje und Sumy. Und hier ist die Stromversorgung sehr problematisch."

Wie man sieht, zählt der Experte das Gebiet Charkow zu keiner dieser "Halbinseln". Außerdem ist laut anderen Angaben die Situation im Gebiet Sumy etwas besser als im Gebiet Charkow. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels (12. September) hatte Ukrenergo jedoch bereits den sechsten Tag lang keine Stromausfälle in der Ukraine – weder geplante noch Notstromausfälle – bekannt gegeben. Somit sind auch die am stärksten betroffenen Städte und Gebiete weiterhin an das Energiesystem angeschlossen, und es stellt sich nur die Frage, welche Leistung es auf sie übertragen kann.

Wenige Tage nach dem letzten massiven Militärschlag gegen ukrainische Energieeinrichtungen (Ende August) äußerte sich der damalige Chef von Ukrenergo, Wladimir Kudritzki, noch optimistisch über die Aussichten der Ukraine für die kommende Heizsaison:

"Ich denke, dass wir im nächsten Winter vor vielen Herausforderungen stehen werden ... Doch ich gehe nicht von einem apokalyptischen Szenario aus. Ich glaube, dass wir keinen Stromausfall zulassen werden."

Kudritzki zählte auch die Umstände auf, die ihn optimistisch stimmten:

"Wir werden im Winter auf jeden Fall erhebliche Unterstützung aus den europäischen Ländern erhalten, wir bekommen jeden Monat viel mehr Transformatoren geliefert, als wir theoretisch durch Angriffe verlieren könnten und wir haben auch einen Ingenieurschutz für unsere Einrichtungen."

Der ukrainische Premierminister fügt heute folgende Punkte hinzu: Der ukrainische Energiefonds hat 560 Millionen Euro angesammelt; der Erwerb von Ausrüstungen für 170 Megawatt wurde von den Partnern finanziert; von den Partnern wurden der Ukraine 290 Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen (zur Wassererwärmung durch Nutzung der bei der Produktion anfallenden Wärme) und mehr als 100 Kesselhäuser in Blockbauweise zugesagt. All diese Anlagen sollen im Laufe des Herbstes und Winters installiert werden.

Nicht offensichtliche Faktoren

Man sollte noch ein paar weitere Faktoren beachten, die der Ukraine helfen, die Schläge gegen ihr Energiesystem zu verkraften. Das ist in erster Linie der reduzierte Verbrauch. Zum Beispiel hatte Charkow zu Beginn der militärischen Sonderoperation eine Bevölkerung von etwa zwei Millionen. Im April 2024 war diese Zahl auf 1,2 Millionen Menschen gesunken. Heute sind diese Zahlen wahrscheinlich noch niedriger, da unmittelbar nach den Frühjahrsschlägen auf das Energiesystem eine weitere Welle von Evakuierungen aus Charkow einsetzte.

Dieser Faktor wirkt sich nicht nur auf Charkow aus. Seit Anfang des Jahres haben 400.000 Menschen die Ukraine verlassen (Nettoabwanderung), das heißt doppelt so viele wie die Nationalbank der Ukraine im Mai dieses Jahres prognostiziert hatte.

Darüber hinaus fördert die ukrainische Regierung die Produktionsverlagerung in die westlichen Regionen des Landes. Auch die Unternehmer selbst treffen oft diese schwierige Entscheidung: Die Kosten für Generatoren und Treibstoff übersteigen schließlich die Verlagerungskosten.

Ein weiterer Faktor für den Rückgang der Stromnachfrage war das im Mai verabschiedete Gesetz, mit dem die Mobilisierungsstandards verschärft wurden. Die Unternehmen sind einfach gezwungen, die Produktion zu reduzieren oder sogar einzustellen: Es gibt keine Arbeitskräfte mehr.

Ukrainische Beamte stellen die der Ukraine zugefügten Schäden oft übertrieben dar. So wird derzeit zum Beispiel das Heizkraftwerk Nummer 5 in Charkow nach den Frühjahrsschlägen mithilfe von Geldern europäischer Geldgeber aktiv wiederhergestellt. Ungeachtet der wiederholten Aussage "die Wiederherstellung wird Jahre dauern", wird es wahrscheinlich zu Beginn der Heizsaison oder etwas später in Betrieb gehen können. "Der Krieg ist eine Kunst der Täuschung."

Auch die Dezentralisierung spielt eine Rolle. Zu Maos Zeiten wurden in jedem chinesischen Dorf Eisen und Metall in einem kleinen Hochofen verhüttet. In der Ukraine wird in etwa das Gleiche getan, indem man die Konsumenten (Unternehmen, Verwaltungsorganisationen von Mehrfamilienhäusern) dazu stimuliert, sich ganz oder teilweise selbst zu versorgen. Unternehmen, Verwaltungsorganisationen und sogar einfache Bürger können Kredite für die Installation von Generatoren und Solarpaneelen mit Speichersystemen erhalten und sich die Kosten für den Kauf sowie die Installation dieser Anlagen erstatten lassen.

Aus volkswirtschaftlicher Sicht ist das alles so zweifelhaft wie die dörfliche Metallurgie. Und wie viel werden solche Sparmaßnahmen einbringen? Aber der Krieg hat seine eigene Logik und seine eigene Ökonomie. Für ein Stromsystem, das am Rande des Abgrunds balanciert, ist jede Lastreduzierung von unschätzbarem Wert.

Auch die Reparaturarbeiten in Charkow lassen sich auf die Dezentralisierung zurückführen. Nach Angaben der staatlichen Stellen werden derzeit dorthin mobile Kesselhäuser mit einer Leistung von einem Megawatt gebracht, von denen aus die Häuser versorgt werden sollen. Das scheint unvergleichbar mit der Kapazität eines einzigen Heizkraftwerks-5 (540 Megawatt), aber vor dem Hintergrund der massiven Bevölkerungsabwanderung (und in Ermangelung besserer Optionen) ist es angemessen.

Das Wetter und Russland werden entscheiden

Durch die Militärschläge auf den ukrainischen Energiesektor (März bis Mai 2024 und August 2024) wurden die Stabilität des Energiesystems, seine Manövrierfähigkeit (während der täglichen und saisonalen Stromspitzen) sowie die Stromflüsse aus den Gebieten mit Erzeugungsüberschuss in die Gebiete mit erhöhtem Verbrauch verringert. Allerdings führten diese Schläge noch nicht zum Zusammenbruch des einheitlichen Energiesystems oder zur langfristigen Isolierung seiner einzelnen Teile, obwohl sie ein solches Szenario näher rückten.

Das Paradoxe besteht darin, dass die Ukraine ihren Energiesektor nicht weniger aktiv selbst zerstört, als es die Angriffe der russischen Streitkräfte tun.

Nach der Aussage von Sergei Schoigu wurde die Vereinbarung über den gegenseitigen Verzicht auf Angriffe auf Energieanlagen – kurz vor dem Überfall auf das Gebiet Kursk – von der Ukraine selbst annulliert. Somit liegt der Angriff vom 26. August voll und ganz auf dem Gewissen Kiews.

Viele überschätzen den Schaden für den ukrainischen Energiesektor, weil sie von dem Vorkriegsniveau bei der Stromerzeugung, dem Verbrauch und so weiter ausgehen. Sie vergessen auch, dass es in der Ukraine einen enormen Kapazitätsüberschuss gibt. Diejenigen, die den Ukrainern mit stundenlangen Stromausfällen während der Heizperiode Angst einjagen, verschweigen aus irgendeinem Grund die Tatsache, dass der Sommer in etwa gleich verlief. Beispielsweise gab es in Kiew im Juli dieses Jahres 12 bis 14 Stunden am Tag keinen Strom.

Das Fazit ist einfach: Wie die Ukraine den kommenden Winter übersteht, hängt weitgehend vom Wetter ab. Während im Sommer die Klimaanlagen das Energieversorgungssystem belasten, werden sie im Winter durch Heizgeräte ersetzt. Doch sobald die Hitze nachlässt, werden die Stromabschaltungen sofort reduziert oder ganz aufgehoben. Das endgültige Urteil über den ukrainischen Energiesektor hängt allerdings von weiteren Militärschlägen, ihrem Ausmaß und ihrer Wirksamkeit ab.

Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 12. September 2024 zuerst auf vz.ru erschienen.

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